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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Historische Romane“ – Die Vitalienbrüder

Mein kleiner Buchladen: „Historische Romane“ – Die Vitalienbrüder

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSonntag, 11.11.2018

… Ich denke manchmal, mein Herz ist aus Papier“. Flüstert Becher an der Brust seines Freundes Willi Bredel. „Wir werden nicht alt werden“, setzt Becher nach.

In den letzten warmen Herbsttagen war ich dabei, meinen Belletristik-Bestand im Laden zu überarbeiten, Unverkäufliches auszusortieren. Zwischen Brecht und Brentano stehen seit Jahren die Romane des kaum nachgefragten Autors Willi Bredel. Die Väter, Die Söhne, Maschinenfabrik, Ein Neues Kapitel, Begegnung am Ebro. Erst der illustrierte Halbleinenband des Petermänken Verlages von 1952 weckte meine Aufmerksamkeit. Mit seiner Seeschlacht auf dem Schutzumschlag und dem schräg gesetzten Titel „Die Vitalienbrüder.“ Ich blätterte mich noch auf der Leiter durch die schönen Zeichnungen von Herbert Bartholomäus. Und erinnerte mich.

Die stillen Trabanten“ heißt der Erzählband Clemens Meyers, welcher 2017 erschien und als letzte Episode eben jene enthält. „In unserer Zeit“ erzählt auf 35 Seiten von der Entstehung eines historischen Romans unter besonderen Umständen. Willi Bredel stieß im Moskauer Exil auf deutsche Städte-Chroniken der Lenin-Bibliothek, die ihn zu seinem Jugendroman über den Likedeeler Klaus Störtebecker inspirierten. Es war eine Flucht aus dem beängstigenden Alltag der deutschen Exilanten, die im Hotel Lux vor einer Verhaftung durch das NKDW bangten. Manche stahlen sich mit Hilfe von Drogen davon (Johannes R. Becher), andere mit unverfänglichen Romanrecherchen.

Mich haben in den letzten Jahren besonders die literarischen Aufarbeitungen der Situation im Hotel Lux von Yvonne Hirdmann und Jenny Erpenbeck begeistert, die von auto-biografischem Material (Mutter und Großmutter) gespeist waren. Die schmale Erzählung Meyers war mir entfallen, nun nahm ich mir "die Vitalienbrüder" und "In unserer Zeit" nacheinander vor: im Ergebnis bin ich erstaunt, berührt. Erstaunt über den willfährigen und brutalen Stil Bredels: gleich auf Seite 18 erklärt der alte Jude Josephus dem jungen Klaus, was das Anliegen von Ketzern sei; sie wollten den reinen, unverfälschten Glauben erringen. "Den Kommunismus der urchristlichen Gemeinden, der ersten, der wahren Christen! Frieden und Liebe allen Menschenbrüdern!"

Josephus muss dennoch bald darauf brennen, als er in einer norddeutschen Stadt für den Ausbruch der Pest verantwortlich gemacht wird. Klaus erlebt manche Grausamkeit, bevor er sich zu einem erbarmungslosen Piraten mausert, der Feinde umgehend beseitigt, Schiffe plündert und einen 6-Liter Becher Bier auf einen Zug leeren kann (StürzdenBecher = Störtebecker). Fortan mit seinem "Seetiger" einen Kaperkrieg gegen die Patrizier steuert, den Mächtigen raubt, was diese zuvor geraubt hatten und es dem Volk gegen geringe Gaben zurückschenkt.

"So kam es, dass die Seepiraten beim einfachen Volk geachtete und geehrte Leute waren. Immer mehr Männer kamen aus den Städten und Dörfern, um sich den Piraten anzuschließen. Im Volk hieß es: Ein freies und fröhliches Leben kennen nur Fürsten, Pfaffen und Piraten."

Berührend ist, wie sich Clemens Meyer in die Schreibsituation Bredels hineinfühlt. Bredel, der Lager, Festungshaft und Spanienkrieg überstanden hat, harrt im Keller der Lenin-Bibliothek Moskaus aus, von einem Bewacher beobachtet, von deutschen Städte-Chroniken umgeben, von Albträumen geplagt. Meyer verknüpft Episoden aus Bredels Leben mit dem Entwurf des Störtebecker-Stoffes, springt in Zeit und Raum, lässt ihn später in einem Stalingrader Schützengraben zu Soldaten sprechen:

"Störtebecker war ein Revolutionär, Genossen, ein junger Kämpfer, voller Kraft, wie ihr. Voller Träume, wie ihr. Und er lebte in einer Zeit der großen Kämpfe, fünfhundert Jahre ist das her, die Fischer und Handwerker und Arbeiter schlossen sich zusammen, aber vielen fehlte der Mut. Zu übermächtig schien der Gegner."

Die Männer scharen sich um Willi Bredel, wollen von Störtebecker hören, dem Freibeuter, dem Sturmfahrer. Was er noch geschrieben habe, fragt einer, "Ich habe einen Freund Störtebeckers getötet", sagt Bredel und zieht an seiner Pfeife, die er nicht angezündet hat, um Tabak zu sparen.

"Störtebeckers Freund war ein alter Jude. Und ich habe ihn verbrannt. Hier drin.' Er nahm das große Notizbuch, in dem viele seiner Moskauer Manuskriptseiten zusammengefaltet steckten, von seinem Knien und hielt es hoch. 'Lebendig verbrannt', sagte er dann etwas leiser. Und die Soldaten verstanden, einige nickten."

Meyer lässt Bredel von der Front zurückkehren in die Bibliothek nach Moskau, in den Keller, wo er auf Alfred Kurella trifft, der ihn nach Störtebecker fragt. Bredel erinnert sich an den Freund Hans (Becher), mit der Nadel im Arm, ausgestreckt auf dem Bett seines Zimmers im Hotel, die Augen geweitet und schwarzrot wie Mohnblüten, was hatte er einmal über Kurella gesagt? Er habe keinen Schatten, der Mann. Wenn es doch nur so wäre, lässt Meyer Bredel sagen, sie alle hatten Schatten. Bredel starrt in einen blinden Spiegel und erst jetzt verstehe ich den Titel der Erzählung und ziehe für mich, gefiltert aus den Fluchtwegen eines Schriftstellers, den ich beinahe vergessen hätte, die Vision, die ein anderer Schriftsteller in ihm findet.

"Unendlichkeit, Genossen? Über diese Probleme diskutieren wir hier nicht!" Klopfzeichen, ein Mann in seiner Zelle, zerschlagen und gequält, Menschen in ihren Zellen, zerschlagen und gequält, und Willi Bredel, Arbeiterschriftsteller aus Hamburg, sah Bechers Altar auf dem blinden Spiegel im Keller der Moskauer Lenin-Bibliothek, es bricht aus dem Bilde das Blut heraus, er legte seine Stirn auf das blinde und wellige Spiegelglas, Bechers Morphium-Phantasien, er sieht Trabanten-Städte, große Fabriken, aus deren Schloten die Flammen schlagen, sieht das Zerbrechen und Stürzen des Betons, Sockel ohne Denkmäler, geschleift, gestürzt, gezogen war, gegangen war, geworden war, hört die Klopfzeichen hinter dem Spiegel, "Wie wird man sich dereinst an uns erinnern"... greift sich an die schmerzende Brust, wieder und wieder, Herzen aus Papier, sieht Kriege und Revolutionen und Kriege, geschleifte Denkmäler, stürzende Mauern, "Dann ist das das Ende der Geschichte", funkelnde Minarette und verglühende rote Sterne..."

Übrigens, wer nicht wissen mag, wie es mit Störtebecker ausging, lese hier nicht weiter.

Bredel lässt ihn henken. Ebenso seine Kameraden, an denen er kopflos vorbeilief.

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