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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Extremreisen“ – In die Wildnis

Mein kleiner Buchladen: „Extremreisen“ – In die Wildnis

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnMittwoch, 02.05.2018

„Leidenschaftliche Abenteuerlust ist die Quelle, aus der der Mensch die Kraft schöpft, sich dem Leben zu stellen. Freude empfinden wir, wenn wir neue Erfahrungen machen, und von daher gibt es kein größeres Glück als in einen immer wieder wechselnden Horizont blicken zu dürfen, an dem jeder Tag mit einer neuen, ganz anderen Sonne anbricht… [ ]

Sei nicht so träge und bleib nicht einfach immer am selben Platz. Beweg Dich, reise, werde ein Nomade, erschaffe dir jeden Tag einen neuen Horizont...“

Als mich in den letzten Wochen eine entzündete Zahnwurzel quälte, erfreute ich mich an den Vorteilen der Zivilisation: Internet, Notärzte, Apotheken. Mit Antibiotika im Blut und einem Kühlbeutel auf der Wange lässt sich entspannt nachlesen, wie andere sich aus diesem Netz der Fürsorge entfernen. Freiwillig ihr Leben in Gefahr bringen. Zwei Menschen in zwei Jahrhunderten haben mich jüngst besonders fasziniert, beide 23 Jahre alt, als sie sich in die Wildnis begaben.

Christopher McCandless alias „Alex Supertramp“ erreicht im April 1992 einen ausrangierten Linienbus der Verkehrsbetriebe Fairbanks, welcher Jägern und Trappern in den Wäldern Alaskas als Zufluchtsort dient. Eine zweijährige Tramptour durch die USA liegt hinter ihm, seine Armbanduhr und das letzte Geld hat er dem Mann geschenkt, der ihn am Stampede Trail absetzte. McCandless wird sich im Bus Nr. 142 einrichten, jagen, Beeren sammeln, lesen und 113 Tage später sterben, Wochen darauf von Elchjägern entdeckt werden. Kurz nach seiner Identifizierung beginnt der Reporter Jon Krakauer, seinen Ausstieg zu recherchieren, verfolgt die Wanderwege kreuz und quer durch die Staaten und lernt Menschen kennen, die schwer beeindruckt sind von der Willenskraft und Lebensfreude des jungen Tramps. Krakauer veröffentlicht eine Reportage in Outside, vier Jahre später das Buch „Into the Wild“ (Deutsch: In die Wildnis, Malik-Verlag), Sean Penn dreht einen Film über Chris McCandless und bis heute pilgern seine Fans in die Wildnis Alaskas. Zum Bus Nr. 142.

Von McCandless sind kaum Aufzeichnungen erhalten, die Notizen an den Rändern seiner Reiselektüre (1 Pflanzenbestimmungsbuch, Tolstoi, Pasternak, Thoreau, Jack London) erzählen vor allem von der mehr oder minder geglückten Nahrungssuche (Beeren, Eichhörnchen, Waschbären, ein Elch, den er nicht zu konservieren vermochte). Dazwischen Ausrufe wie „Ich bin wiedergeboren. Dies ist mein Morgengrauen. Das wahre Leben hat erst jetzt begonnen.“ Der eingangs zitierte Brief stammt ebenfalls von McCandless, geschrieben ein Jahr vor dem Alaska-Abenteuer an seinen 81-jährigen Freund Ron Franz in Salton City, Kalifornien (laut Krakauer zog Ron tatsächlich bald nach Erhalt dieses Briefes mit einem Wohnmobil in die Wüste).

„Estes Park ist mein Land. Es ist unerschlossen, ein ´Niemandsland`, aber ich habe es mir erobert: seine wilden Morgenröten, seine unvergleichlichen Sonnenuntergänge, seine herrliche Dämmerung, seine gleißenden Mittagsstunden, seine wütenden Hurrikans.“

Diese Liebeserklärung stammt von Isabella Bird. Die 1831 geborene Tochter eines englischen Pastors lernt früh reiten (das sollte ihr lebenslang gegen eine schwere Wirbelsäulenerkrankung helfen), reist mit 23 Jahren nach Nordamerika – und fängt Feuer. Ihr erster Reisebericht The Englishwoman in America wird noch anonym veröffentlicht, ihre zweite große Reise (über Australien und Hawaii bis in die Rocky Mountains, die sie sich auf dem Pferderücken erschließt) dokumentiert sie in Form von Briefen an die Schwester und begründet mit A Lady's Life in the Rocky Mountains ihren Ruf als Reiseschriftstellerin. Weitere Reisen führen sie nach Japan, China, Vietnam, Singapur und Malaysia und mit knapp sechzig Jahren auf den indischen Subkontinent. Isabella Bird durchquert den Tibet, Persien, Kurdistan und die Türkei. Sie wird 1892 als erste Frau in die Royal Geographical Society aufgenommen und unternimmt ihre letzte große Reise nach Korea und China entlang des Jangtsekiang und des Han Jiang.

„Estes Park liegt dreißig Meilen von Longmont, der nächsten Siedlung, entfernt und lässt sich nur zu Pferd und auf dem steil gewundenen Pfad erreichen, über den auch ich gekommen bin. Man muss das „Teufelstor“ passieren, um einen der benachbarten, neuntausend Fuß hohen Bergrücken zu überqueren… Griffith Evans und ein weiter oben wohnender Mann, Edwards, sind die einzigen Siedler im Park. Mountain Jims Hütte liegt vier Meilen von hier. Der nächsten Hütte begegnet man erst nach weiteren achtzehn Meilen. Estes Park ist zum großen Teil unerschlossen, das ausgedehnte Bergland dahinter weitgehend unerforscht…“

"Durch die Wildnis der Rocky Mountains – Allein unter Goldgräbern und Desperados" heißt der neu übersetzte 281 Seiten starke Erdmann-Band der wunderbaren Reihe Die kühne Reisende. In ihrem poetisch wie klugen Vorwort schreibt die Übersetzerin Klaudia Ruschkowski:

„Isabella, kaum größer als einen Meter fünfzig, scharfsinnig und gebildet, humorvoll, mitunter sarkastisch, ebenso schlagfertig wie mutig, geplagt von Schmerzen und depressiven Schüben, zuweilen verzweifelt, ja lebensmüde, sollte durch das Reisen der viktorianischen Enge, die ihr die Luft zum Atmen nahm, entkommen und zu sich selbst finden. Indem sie sich schwer zugänglichen Landstrichen aussetzte, gewann sie an physischer Kraft und geistiger Klarheit.“

In Estes Park, einer 2.300 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Senke, überwintert Isabella Bird 1873/74 unter extremen Bedingungen (hungern, 1 x Wechselwäsche, Unwetter) und verliebt sich in Rocky Mountain Jim, einen einäugigen, zur Fahndung ausgeschriebenen Desperado. Mich fasziniert vor allem die Klaglosigkeit ihrer Beschreibungen, das wilde, unstillbare, das diese Frau antreibt und allen Respekt abringt, denen sie begegnet. Als sie es nicht mehr aushält, Monate an einem Platz zu verweilen und einen planlosen Ritt unternimmt, ist ihr der Ruf der mutigen Engländerin vorausgeeilt, man borgt ihr Pferde, räumt in engsten Hütten eine Schlafstatt frei, teilt Feuer und Brot mit ihr - einer der furchtlosesten Frauen, von der ich je las.

"Es dämmerte, als wir begannen, uns aus der Schlucht, in die wir so sinnlos geraten waren, heraus zu kämpfen. Immer wieder verloren die Pferde den Halt... Ich war von blauen Flecken übersät, zerschnitten und zerkratzt, hatte mir einen Kaktusstachel eingetreten und eine böse Wunde im Nacken zugezogen. Die arme Mrs. Chalmers war ein einziger Bluterguss. Sie tat mir aufrichtig leid, denn im Gegensatz zu mir machte ihr die ganze Unternehmung nicht den geringsten Spaß."

Meine Zahnschmerzen sind kaum mehr der Rede wert und Isabellas Buch lege ich mit einem vergnügten Seufzen beiseite. Bei "In die Wildnis" bleiben viele Fragen offen. Krakauer überschreibt die Kapitel der Trampodyssee mit Literatur-Zitaten, die sich auf Natur, Freiheitsdrang und asketische Ideale beziehen, welche McCandless selbst angestrichen hat oder haben könnte. Seine letzte Lektüre war Tolstois "Familienglück", sein an den Rand geschriebenes Fazit, dass Glück nur geteilt wirklich wäre. Krakauer, der selbst im Alter von 23 Jahren eher zufällig eine Alaska-Bergbesteigung überlebte, vergleicht das Scheitern McCandless (wahrscheinlich verhungerte er auf Grund einer Kartoffelsamen-Vergiftung) mit dem Tod einer Handvoll anderer Aussteiger und streut Naturbeschreibungen in sein Buch,

„Die Regewolken mit ihren kurzen, windigen Schauern haben den schwülen Dunstschleier aus der Luft gespült und sind weitergezogen. In der Ferne setzen sich Hügelketten in all ihren Einzelheiten gegen den leuchtenden Abendhimmel ab.“

Ein stimmiges letztes Bild – Krakauer und ein Freund sitzen vor dem Bus Nummer 142 und grübeln über die fehlende Demut des Verhungerten:

„Wir überlegen, auf welche Weise McCandless letztlich den Tod fand, und auch, warum die Leute ihn so sehr dafür verachten, daß er hier an diesem Ort gestorben ist. Als McCandless in diese Gegend kam, hatte er absichtlich eine unzureichende Menge an Proviant dabei, und in seiner Ausrüstung fehlten gewisse Dinge, die viele Alaskaner als für unentbehrlich halten: ein großkalibriges Gewehr, Karte und Kompaß, und eine Axt. Dies wurde immer wieder als Beweis herangezogen, und zwar nicht für seine Dummheit, sondern für die ungleich schlimmere Sünde der Arroganz.“


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