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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Erzählungen“ – Andere Häfen

Mein kleiner Buchladen: „Erzählungen“ – Andere Häfen

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 08.03.2018

"Natürlich hatten es mir meine Eltern verboten. Natürlich machte ich es trotzdem. Jürgens Eltern hatten es ihm auch verboten, aber auch ihn scherte das nicht die Bohne: Wir waren beste Freunde, saßen in der Grundschule nebeneinander und konnten uns nichts Aufregenderes vorstellen, als die Schlangenhöhle zu erkunden.“

Christopher Ecker ist einer von meinen Klassikern, nur, dass er noch lebt und sogar ein Jahr jünger ist als ich. Ich bin ihm noch nie begegnet und verehre ihn wie ein Teenager. Dass er mich manchmal zitiert, mag daran liegen, dass ich mit Lobeshymnen experimentiere, wie er mit Gattungen. Begonnen hatte der in Saarbrücken geborene Ecker mit Lyrik und Kurzprosa, unterrichtete und schrieb für die Schublade, bis Roman Pliske vom Mitteldeutschen Verlag sich für ihn begeisterte und zu verlegen begann. Vom Tausendseiter "Fahlmann" schrieb sich der Wahl-Kieler Ecker über einen phantastischen Kurzroman zu einem apokalyptischen Splatter fort – was konnte da noch folgen? Letztes Jahr im Mai legte der Mitteldeutsche mit "Andere Häfen" nach, seitdem schiebe ich den hellen, 240 Seiten umfassenden Band mit Eckers Erzählungen auf dem Nachttisch hin und her. Eigentlich wandert das Buch von alleine, immerzu will ich es auslesen, aber kaum habe ich mich umgedreht, liegt ein anderes obenauf, ist es unter dem skandinavischen Viertel verschwunden, darüber rutscht Wilma Stockenström oder der Winterplanet. Zuletzt hat Ecker die Fibel des 1. FC Union besiegt und glitt mir noch vor der bitteren Gabe in die Hand. Das Lesezeichen lag in der gut dreiseitigen Erzählung "Auf glühenden Kohlen".

"In Schwarzenacker, dem Dörfchen, wo wir beide wohnten, befand sich im Wald hinter dem Römermuseum ein verzweigtes, sich über mehrere Ebenen erstreckendes Höhlensystem – die Schlangenhöhle. Hier hatten bereits die Römer den rötlichen Buntsandstein gebrochen, dessen Staub allen Besuchern Schuhe und Kleider färbte, verräterisch färbte, denn die Zugänge waren aus Sicherheitsgründen zugemauert. Beim Spielen im Wald hatten wir jedoch ein Loch im Hang entdeckt, kaum größer als ein Dachsgang und doch ein Schlupfloch, das uns mageren Zweitklässlern Einlass in das labyrinthische System gewährte."

Das ist das Schlimme, ich bin wie erschlagen von Eckers Fähigkeit, in wenigen Zeilen ganze Romane zu umreißen. Uns zu foppen, aus dem andächtigen Leseprozess herauszureißen: "Schon wenn du Sätze aneinanderfügst, beginnst du zu lügen." Spielerisch verlässt Ecker jede Fixation, kann Kind, Greis und Lehrer sein – aber selbst als Lehrer, der seinen Schülern die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft während der Industrialisierung erklären will, gerät er in ein anderthalbseitiges Höllenszenario, sein Schlafgänger mutiert zu einem verwesenden Leichnam, neben den der Arbeiter sich legt, "...in eine von Maden wimmelnde dickflüssige Soße, die auf den Boden schwappt, wenn man sich umdreht..." Die Texte sind kurz, selten mehr als zwei Seiten lang. Manche wirken wie Regieanweisungen zu Schlingesief-Filmen, andere wie Traumreporte. Nächtliche, irreale Selbstreflektionen.

Die Jungs beschließen eines Samstags, in die Höhle zu kriechen, nehmen Kerzen mit und Streichhölzer. Sie wagen sich in einen unbekannten Teil des Systems und bald steckt Jürgen fest. Er röchelt und keucht, sein Asthma! Nimm halt dein Zeugs, rät die kindliche Ich-Stimme, dieses befindet sich jedoch in Jürgens Ranzen und jener lag zu Hause auf "meinem Bett". Rasch ist der Plan geschmiedet; der Ich-Erzähler muss nach Hause rennen, mit dem Inhalator zurückkommen, Jürgen würde zwei Sprühstöße nehmen und sicherlich danach gleich wieder frei kommen.

"Schau mal, wer da ist!" Sagte Vater und ich musste ins Wohnzimmer und Tante Almut und Onkel Heiner die Hand geben. Mutter stellte einen frischen Teller auf den Tisch und verkündete: "Tante Almut hat Erdbeerkuchen mitgebracht!" Und da jeder wusste, wie sehr ich Tante Almuts Erdbeerkuchen mochte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu den Erwachsenen zu setzen und ein Stück Kuchen zu essen."

Wörter sind wie Klingen oder ungesicherte, auf dem Küchentisch liegende Schusswaffen, lese ich, als ich nach obiger Szene im Buch blättere und einhundert Seiten weiter hängenbleibe. Bei Ecker auf jeden Fall, murmele ich und bin kurz davor, das Buch wieder unter den Stapel zu schieben. Es ist einfach zu gefährlich. Ich weiß nicht, wann ich dieses Buch beenden werde, wann meine Kraft ausreicht. Vielleicht dauert es, bis ein neuer Ecker erscheint, der diese anderen Häfen ablösen wird, oder ich im Lädchen endlich seinen (mitteldeutschen) Erstling "Madonna" finde, aber wer sollte sich freiwillig von Eckers Büchern trennen – auf Nachlässe bleibt zu warten. Ich habe Zeit.

"Auf einmal stand Vater, der kurz den Raum verlassen hatte, in der Wohnzimmertür und sah mich streng an. "Du warst in der Höhle!" – "Nein", log ich, aber da hielt er meine Schuhe hoch, die rot vom Sand waren, und brüllte: "Ins Bett! Sofort ab ins Bett! Ohne Nachtessen!" Ich hatte nicht den Hauch einer Chance, denn rot waren die Schuhe, die er hielt, rot vom Sand der Schlangenhöhle. Also ging ich zu Bett. Erst weinte ich, dann las ich ein wenig. Irgendwann schlief ich ein. Am nächsten Tag war Sonntag und wir machten einen Ausflug in den Deutsch-Französischen Garten. Wir fuhren mit der Seilbahn. Wir fuhren Tretboot. Ich aß Spaghettieis und meine Eltern tranken Kaffee aus winzig kleinen Tassen. Abends schob ich Jürgens Ranzen unter mein Bett..."


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