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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Debüts“ – Kruso

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 23.08.2018

„Die Insel war stellenweise so schmal, dass man zu beiden Seiten das Wasser sehen konnte. Links das Meer aus Silber, rechts der Bodden, ein dunkelblaues Glas, fast schwarz. Die Wolken schienen tiefer zu ziehen als gewöhnlich, und für eine Weile hing Ed ihren sonderbar langgestreckten Formen nach. Während der Horizont noch wuchs, schrumpfte der Abstand zum Himmel, eine Dimension verschob die andere.“

Während der Hitze des diesjährigen Sommers, die sogar meinen kühlen Erdgeschossladen auf 24 Grad zu erwärmen vermochte, spülten etliche Kisten voller DDR-Literatur, Reiseführer und Kunstbände bei mir an. Obenauf im weitgehend bekannten schwarz bis beigefarbenen Sammelsurium lag das weiße, dicke Buch Lutz Seilers mit dem roten Schriftzug „KRUSO“. Ich fühlte allein bei der Betrachtung der hauchzarten Kartenabbildung Hiddensees einen kühlen Luftzug und entschwand in alte Zeiten.

Als Jugendliche hatte ich mehrfach das Postschiff bestiegen und war übergesetzt auf die Insel, im Frühjahr, im Herbst, im Winter. Jeweils für ein paar Stunden. Die Fahrt war das Ereignis, abends in Binz sah ich in der Bude meines Kumpels noch die Nebelschwaden, das Eis, die Fahrrinne. An mein wichtigstes Hiddensee-Erlebnis fehlt mir jede Erinnerung, meine Mutter hat es mir oft erzählt - ich habe mit einer Plastikschaufel eine Bombe am Strand freigelegt und darauf herumgeklopft, die Erwachsenen seien aufmerksam geworden, hätten den ABV gerufen, der sie in ein Dederon-Netz geladen und an seinen Fahrradlenker gehängt hätte. Schlenkernd davongefahren sei.

Ende der 80er Jahre kam ein Film in die ostdeutschen Kinos, der meine Freunde und mich elektrisierte, „Flüstern und Schreien – ein Rockreport“ (hier ist eingangs ein Ausschnitt mit Feeling B zu sehen). Dieser Dokumentarfilm, der mehrere Rockformationen der DDR porträtierte, war ein Dokument der Auflösungserscheinungen im Lande. Die Jugend hatte sich innerlich längst von ihrer Heimat verabschiedet. Verdruss und Fluchtgedanken prägten uns, Feeling B schrie auf ostdeutschen Bühnen und Stränden heraus, was wir fühlten. So müssen sie auch auf Hiddensee gespielt haben, so und doch etwas anders hat es Lutz Seiler in „Kruso“ beschrieben:

"Der Abend war ein einziges Chaos aus verschiedenen Darbietungen, Getränken und nervösem Herumgehüpfe. Im Zentrum stand eine vierköpfige Band, die Gitarre und Elektro-Orgel mit einer ausrangierten Autobatterie betrieben. Die Elektro-Orgel lag auf einem alten Hartschalenkoffer, vor dem ein schmaler blasser Junge kniete, der durch seine starke, übergroße Brille scheinbar teilnahmslos vor sich hin stierte... [Der Sänger] trug eine braune, abgewetzte Lederhose, sein Oberkörper war frei bis auf ein Tuch um den Hals und ein Kraftband am linken Handgelenk. Ed verstand ihn kaum. Meist schien es um einen Drink zu gehen, den ihm jemand mixen sollte, "Mix mir einen Drink, der mich woanders hinbringt", es war mehr ein Krächzen und Quäken, ohne Rhytmus, ohne Melodie. Ed stand im Halbdunkel jenseits der Peripherie aus gelbrotem Licht, das auf die Tänzer flackerte, als wären sie Teil des Feuers. Es roch nach Schweiß. Ed roch Kakerlaken."

Ed verlebt den letzten DDR-Sommer auf Hiddensee. Wie wir alle damals war er „sehr müde, und das erste Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, auf der Flucht zu sein.“ Lutz Seilers Debüt-Roman "Kruso" über einen vierundzwanzigjährigen Dichter und Studenten, der auf die freieste Insel des Osten reist, in einen Flüchtlingsstrom gerät, mit einem toten Fuchs redet und den König der Insel zum Freund gewinnt, hat zu Recht den Deutschen Buchpreis 2014 gewonnen. Von der Lyrik kommend, webt der Autor ein zartes Netz aus Assoziationen, lässt sein Saisonkraft-Personal miteinander dichten, lesen, rezitieren - und träumen. Schöne Mädchen steigen nachts in Eds Bett, "die schattigen Linien ihrer Schulterblätter, Oberarm und Hüfte, das alles schien Ed von unbeschreiblicher Kostbarkeit". Violetta sendet Windstärken. Feiner, mit Algen geplosterter Kies bedeckte den Strand. Kruso sinniert über Freiheit und verhilft anderen dazu. Er erinnert ein wenig an den Sänger von Feeling B, aber auch Saisonarbeiter- und Dichter-Freunde der langen Hiddenseer Sommer könnten Lutz Seiler inspiriert haben. Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten. Sie beugten sich weit aus der Gegend.

Kruso an Ed:

"Die Insel ist der erste Schritt, verstehst du, Ed? Die Insel ist der Ort. Hier gelingt es den meisten schon nach Stunden, die Wurzel zu berühren. Sie ist in uns hineingewachsen aus der Vorvergangenheit, nicht seit der Geburt etwa oder gerade in diesen Tagen, wie manche glauben möchten, nein, ich meine: seit Menschengedenken. Gelingt es uns, die Wurzel zu berühren, spüren wir es: Die Freiheit ist da, tief in uns, sie wohnt dort, so tief wie unser innerstes Ich. Das ist die Freiheit, die ich meine."

Kruso ist inzwischen als Theaterstück und Hörspiel inszeniert worden, in Kürze wird die Verfilmung ausgestrahlt werden. Was der Autor mit seinem Alter Ego Ed teilt, wird sich noch bröckchenweise enthüllen. Mir fiel auf, dass zu folgendem Zitat der wunderbar melancholische gepiqte Sommer-Ferien Artikel Seilers passt, aber lesen Sie selbst:

"Mit einer Hand hielt die Inselärztin das Bild am ausgestreckten Arm gegen das Fensterglas, mit dem Stift in der anderen umkreiste sie die rechte Augenhöhle. Sein Totenkopf schaute ins Zimmer. 'Eine kleine Absplitterung, wahrscheinlich schon von früher. Keine Ahnung, wie oft das vorkommt bei Ihnen.'..."

Mein kleiner Buchladen: „Debüts“ – Kruso

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