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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Biografische Romane“ - Euphoria

Mein kleiner Buchladen: „Biografische Romane“ - Euphoria

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnMontag, 09.01.2017

„Die Hand, die sie mir hinhielt, hatte einen kaum verheilten Schnitt quer über die Innenfläche. Sie gedrückt zu bekommen konnte für sie nicht angenehm sein. Ihr Lächeln wirkte spontan und echt, aber ihr Teint war aschfahl, ihr Blick glasig vor Schmerz. Sie hatte ein dünnes Gesichtchen mit großen rauchgrauen Augen wie ein Kuskus, der kleine Kletterbeutler, den viele Kiona-Kinder als Haustier hielten.“

Andrew Bankson hält die verletzte Hand Nell Stones und verliebt sich augenblicklich. Der Roman „Euphoria“ von Lily King, erschienen 2015 im C.H. Beck Verlag, erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung zwischen den drei Ethnologen Stone, Fen und Bankson auf Neu Guinea, Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von tatsächlichen Begebenheiten, die sich am Flussufer des Sepiks abspielten.

Margaret Mead, die berühmte amerikanische Ehtnologin und Wegbereiterin der sexuellen Revolution, forschte mit ihrem Mann Reo F. Fortune (im Roman Fen) seit anderthalb Jahren in Neu Guinea, lebte bei den Arapesch, Tchambuli und Mundugumor und folgerte aus ihren Feldforschungen, dass die bis dahin bekannten Geschlechterrollen kulturell bedingt seien und nicht genetisch vorgegeben. Eine Revolution in der jungen Disziplin der kulturellen Anthropologie! Mead hatte zuvor einige Monate auf Samoa verbracht und anschließend das Buch „Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften – Kindheit und Jugend in Samoa“ veröffentlicht. Die poetischen Schilderungen ihrer Feldforschungsergebnisse begeisterten weltweit Laien wie Wissenschaftler, eine neue Herangehensweise an die Erforschung fremder Kulturen war geboren.

(Auszug aus dem erwähnten Buch Meads: Ein Tag in Samoa.

"Das Leben des Tages beginnt in der Morgendämmerung; wenn der Mond bis zum Tagesanbruch geschienen hat, sind die Rufe der jungen Männer auch schon vor der Dämmerung von den Hügeln zu hören. Nach der unbehaglichen, von Geistern bevölkerten Nacht schallen nun fröhliche Zurufe von einem zum anderen, während sie eilig mit ihrer Arbeit beginnen. Sobald der Tag zwischen den sanften braunen Dächern dämmert und die schlanken Palmen sich vom farblosen, glitzernden Meer abheben, schlüpfen Liebende vom Stelldichein unter Palmen oder auf dem Strand im Schatten von Kanus nach Hause, damit das Licht jeden Schläfer am richtigen Ort findet. Hähne krähen schläfrig, und von den Brotfruchtbäumen ertönt eine schrille Vogelstimme. Das eindringliche Tosen der Riffsee scheint plötzlich gedämpft – nur noch Begleitmusik für die Geräusche des erwachenden Dorfes…“)

Lily King gelingt es auf atemberaubende Weise, dem Leser nahezubringen, wie Ethnologie funktioniert und wie nicht. Ich bin in den neunziger Jahren auf Bruce Chatwin und Nigel Barley gestoßen, deren Feldforschungsprosa ich verschlang und bis heute liebe. Nun schreibt eine Autorin einen Roman über eine Ethnologin, ohne selbst je auf Neu Guinea gewesen zu sein. Geht das gut? Ja! Die Autorin verwandelt Texte und Forschungsergebnisse zu einer spannenden Liebesgeschichte dreier Besessener, in der alles stimmt. Wir riechen den Fluss, die abgestandene Luft der verräucherten Hütten, die Blumen und Öle des Körperschmucks – kurz, wir sind dabei. Mit dem Briten Bankson, der seinerseits seit vielen Monaten am Fluss Sepik bei den Kiona lebt und sich in einer tiefen Krise befindet, kommen wir Nell Stone alias Margaret Mead näher. Bankson bringt das Paar Stone/Fen zu den Tam, einem weiblich dominierten Stamm, sieben Stunden Bootsfahrt von ihm entfernt. Das Paar, ausgestattet mit Kisten voller Möbeln, Schreibmaschinen und Hausrat, lässt sich von den Tam eine Stelzenhütte bauen und legt los.

Bankson: „Ich fragte mich, was die Tam von dieser Frau hielten, die sie herumkommandierte und ihre Reaktionen aufschrieb. Seltsam, wie abgeschmackt alles gleich wirkte, wenn man es bei jemand anderem sah… Und doch war sie gut darin. Viel besser als ich. Methodisch straff organisiert, ehrgeizig. Sie hatte etwas von einem Chamäleon, mit dieser Art, sie weniger nachzuahmen als zu spiegeln. Ich konnte nicht Vorsätzliches oder Kalkuliertes darin entdecken. Es war einfach ihr Arbeitsstil. Ich würde im Zweifel immer der Engländer bei den Wilden bleiben, trotz der echten Wertschätzung, die ich den Kiona inzwischen entgegenbrachte. Sie dagegen gehörte nach nur sieben Wochen mehr zu den Tam, als ich jemals zu irgendeinem Stamm gehören würde, egal, wie lange ich blieb.“

Aus der Begeisterung wird Liebe, aus dem Frust des Ehemanns Fen, dem Nell entgleitet, eine bitterböse Geschichte, die auch den Stamm der Tam verändert. Wie weit beeinflusst ein Ethnologe den Gegenstand seiner Forschung, den Stamm, bei dem er lebt? Eine uralte Frage der Ethnologie und hier in ein Drama gekleidet, das funktioniert. Ich bin begeistert von der Fiktion, die Lily King aus scheinbar realen Versatzstücken gebastelt hat. Auch wenn die Namen der Protagonisten und Orte geändert sind, ist leicht zu recherchieren, dass Mead-Bateson (alias Bankson) ein Paar wurden, bei King ist ihnen ein Happy End nicht vergönnt. Tröstlich, dass das Leben mal gnädiger ist als ein Roman.

King zieht scharfe Linien, schildert den anstrengenden und oft frustrierenden Alltag der Ethnologen sehr präzise, auch die Abgrenzung zu nicht nachvollziehbaren Handlungsweisen, wie gleich eingangs Nell Stones Schilderung des bis dato erforschten Stammes der Mumbanyo gegenüber Bankson:

„Es ist das erste Mal, dass ich gegen ein Volk Abneigung empfunden habe… Sie töten ihre Erstgeborenen. Sie töten all ihre Zwillinge. Nicht in einem Ritual, nicht feierlich und mit Emotion. Sie werfen sie einfach in den Fluss. Werfen sie in den Busch. Und die Kinder, die sie behalten, bekommen so gut wie keine Zuwendung. Sie klemmen sie sich unter den Arm wie eine Zeitung oder stopfen sie in einen steifen Korb und klappen den Deckel zu, und wenn das Kind schreit, kratzen sie den Korb. Das ist ihre zärtlichste Geste, dieses Kratzen außen am Korb. Wenn die Mädchen sieben oder acht sind, haben die Väter den ersten Geschlechtsverkehr mit ihnen…“

Margaret Meads Samoa-Studien im Sinne der Widerlegung des Erbdeterminimus (der den Menschen vor allem durch seine Erbanlagen bestimmt sieht) wurden in den 70er Jahren in Zweifel gezogen und lösten eine Debatte aus, die bis heute nicht beigelegt ist. Mead wurde 77 Jahre alt, erhielt 28 Ehrendoktorate von Universitäten weltweit und schrieb mehr als 40 Bücher. Der größte Krater auf der Venus ist nach ihr benannt worden.

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