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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „Berlinbücher“

Mein kleiner Buchladen: „Berlinbücher“

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 18.04.2019

„Das Herz steht einem still, wenn man die ungeheure Wucht, die Leidenschaft, die Größe dieser ungeschlachten Masse erblickt.“

Endlich Frühling, die Berliner nehmen ihre Stadt wieder in Besitz, ihre Parks, Straßencafés und Balkone. Kaum etwas ist besser geeignet, die Frischluftsaison einzuläuten, als ein Buch. Ich habe in meinem Buchladen zwei ältere entdeckt und möchte auf eine besondere Neuerscheinung hinweisen, die sich alle drei mehr oder weniger mit der Berliner Luft beschäftigen. Berlin-Industrie und Technik heißt der frische Sammelband zur Malerei von 1847 bis 1929 aus dem Berliner Lukas Verlag. Die ungeschlachte Masse des obigen Satzes meint die Brücke, „meine“ Liesenbrücke, welche mit etwas rostiger Wucht, aber noch immer groß und leidenschaftlich die Gartenstraße im Berliner Wedding überspannt. Das Zitat stammt aus einem 1908 veröffentlichten Essay des Architekten August Endell, worin er über die Ausmaße der Liesenbrücke schwärmt, bevor sie Gustav Wunderwald zwanzig Jahre später auf Leinwand bannte.

Richard Schneider, dem Autor dieses Bildbandes ist das Kunststück gelungen, Werke mehrerer Epochen zur Berliner Industrialisierung so kurz und anschaulich zu beschreiben (eine Halbseite Text, gegenüber das besprochene Bild), dass es einen vom Balkon wegtreibt, hin zu den Originalen oder in eines der Berliner Museen. Allein zu meiner nächsten Wohnumgebung finden sich viele hervorragende Gemälde, wie das Brückenbild (hier als Phänomen „surrealer Sachlichkeit“ bezeichnet), außerdem etliche qualmende Eisenbahnen, Bahnhöfe, rauchende Fabriken und Max Beckmanns stimmungsvoll gelbe Stadtansicht „Blick auf den Bahnhof Gesundbrunnen“, mit dem dominanten Turm der Himmelfahrtskirche, die in den letzten Kriegstagen zerstört wurde.

Das bereits 1998 erschienene Buch „Himmel, Rauch und Care-Pakete“ über die Berliner Luft ist damals schwer verrissen worden, ich habe mich jedoch besonders bei den vielen die Gerüche betreffenden Geschichten amüsiert und gefreut, heute die weitgehend saubere Luft der Stadt atmen zu können. Die Reinigung einer Hinterhoftoilette vor Zeiten der Kanalisation möchte ich mir olfaktorisch wirklich nicht vorstellen. Es lohnt sich, den illustrierten Pappband (noch) handlicher Größe mit auf die Wiese zu nehmen und über solche Anekdoten zu staunen:

"Als der Hofastrologe Carion den Untergang der Städte Berlin und Cölln für den 25. Juli 1525 prophezeite, zog Joachim in Begleitung seines gesamten Hofstaates auf den Tempelhofer Berg, um das außerordentliche Ereignis von der Anhöhe aus besser sehen zu können. Obgleich sich die Schleusen des Himmels nicht zu der vorhergesagten Sintflut öffneten, gab es dennoch ein Zeichen des Himmels. Bei der Rückkehr des Hofes wurde unmittelbar vor dem Schloß ein kurfürstlicher Kutscher mitsamt seinen vier Pferden vom Blitz erschlagen."

Das dritte Buch, Unter dem Himmel Ostberlins von Juhani Seppovaara, erschien 2008 bei beb.ra Berlin und beschreibt, nein bebildert, nein, bedichtet – eine Freundschaft. Sehen Sie, ich kann es kaum in Worte fassen, denn dieses kleine Kunstwerk ist außergewöhnlich! Ein scheinbar harmloses Ostalgie-Buch, dachte ich beim Anblick des himmelblauen Covers mit dem knallroten Fernsehturm. Tatsächlich ist es der wirklich gelungene Versuch eines 1947 geborenen finnischen Künstlers, seine Reisen nach Ostberlin zu verarbeiten. Juhani Seppovaara, Fotograf und Autor und in den achtziger Jahren noch Volkswirt bei der finnischen Bank, lernte 1980 in Budapest den Ostberliner Kollegen Leo und bald darauf seine Stadt(hälfte) kennen, sie werden Freunde. Von seinen Reisen bringt er Farbfotografien und Objekte mit, Briefmarken, Kinderbilder, bemalte Kohle, Eierbecher, Einkaufstüten. Fotografiert Schaufenster, Neubauten, den Blick in ein Schwimmbad, ein Mädchen am Weißensee. Schreibt kurze, höchstens 3 Seiten lange Erinnerungsprotokolle dieser Reisen, Eindrücke von Straßenbahnfahrten, Gesprächen, einem Besuch im Ballhaus Berlin, einem Eiscafé im Neubauviertel. Über zufällige Begegnungen, Frauen, Freunde, Leo und sich selbst. Behutsam gesetzte Worte, lyrisch, dicht. Rebellische Gedanken neben Alltagsbefindlichkeiten, Lebensgefühl durch ein Brennglas betrachtet.

Auffällig ist die Gestaltung des 166 Seiten dicken Schmuckstücks durch Minna Luoma, welche den Objekten Raum und Würde gibt, den Fotos Platz. Dieses Buch würde ich gerne bei einem Bier anschauen, zum Beispiel in der Bierstube Alt Berlin, der es gelungen ist, zwei Jahre nach ihrer Schließung wiederaufzuerstehen. Im Original war die kleine Kneipe verraucht und knackevoll, ich sehe vor mir, wie Seppovaara sich dort am Tresen Ende 1989 mit Rex Joswig über dessen "Posthip-Punk"-Band Herbst in Peking unterhält und Rex mit seiner dunklen Stimme Bakschischrepublik, Movie stops tomorrow oder Gorbatschow is future in die Schwaden wirft. Der Musiker erzählt vom Auftrittsverbot der Band im Sommer 89, zeigt dem Finnen das Telegramm, mit dem sie alle ins Rathaus zitiert wurden, wo ihnen der Kulturchef Ostberlins ein Stasi-Protokoll vorlas, welches ihre Sünden auflistete: die Konterrevolution in China unterstützt zu haben, das Wahlsystem in der DDR in Zweifel gezogen zu haben...

"Dann fragte der Kulturchef, ob die Mitglieder der Band etwas zu sagen hätten. Rex antwortete: Ihr Ende ist nah. Er wünschte dem Mann Glück und übergab ihm einen ins Neue Deutschland eingewickelten verfaulten Karpfen."

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Kommentare 1
  1. Jayne-Ann Igel
    Jayne-Ann Igel · vor fast 5 Jahre

    passt auch zu den Lektüreempfehlungen: Berliner Tatsachen, Erzählung, spielt in den Anfang 80er Jahren in Ostberlin, nimmt die Atmosphäre auf, erschienen bei Urs Engeler Editor, Basel 2009.

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