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Literatur

Lektüre auf Zugfahrten – "Winterbergs letzte Reise"

Lektüre auf Zugfahrten – "Winterbergs letzte Reise"

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 07.03.2019

Im Dresdner Bahnhofsrestaurant tranken wir Kaffee und aßen Suppe und Winterberg las aus seinem Buch vor und schaute in seine Eisenbahnkarte und sagte, dass wir über Pirna und Aussig Böhmen überfallen könnten und von Lovositz nach Reichenberg fahren, um von Süden die Stadt zu überfallen. Oder sogar bis nach Prag fahren und von da nach Turnau ins Böhmisches Paradies, um von dort Reichenberg zu überfallen, aber er entschied sich für die klassische Variante, wie er sagte, so wie die Schweden im Dreißigjährigen Krieg, so wie die Preußen 1741 und 1744 und 1745 und 1757 und 1778 und 1866 Reichenberg, Böhmen und Österreich und Reichenberg überfallen hatten.

Die Stelle erreichte ich in Dresden, welches wie durch einen Tränenschleier hinter den Zugscheiben auftauchte. Es hatte geregnet und wir rauschten über die Elbe, mein Handy saugte aus der Steckdose hoch über mir Strom und Winterbergs Suada rieselte in meinen Kopf. Wieder einmal Balkan, diesmal eine Annäherung auf Gleisen. Der Zug fährt vom Berliner Hauptbahnhof elf Stunden durch bis Budapest, für den gleichen Preis, welchen ich für eine Fahrt in meine 140 Kilometer entfernte Geburtsstadt (und zurück) entrichten muss.

Der Tarif der Österreichischen Staatsbahnen ist für die Person und den Kilometer bei Entfernungen von 1 bis 400 Kilometer 8,5 Heller für die III., 5,5 für die II. und 9 für die I. Klasse, merken Sie sich das, lieber Herr Kraus, [...] ja, ja, lieber Herr Kraus, sehen Sie? Es gibt keine Rückfahrkarten, es gibt keine Rückkehr, es gibt kein Entkommen. Wir müssen durch.

Die Rückreise hatten wir per Flieger geplant, ohne Gepäck, die Bücher mussten aufs Handy. Erst jetzt, wieder zu Hause angelangt und mit halber Seele noch in Belgrad, halte ich das Druckexemplar von Jarolsav Rudiš neuen Roman "Winterbergs letzte Reise" in den Händen, über den Umschlag flimmern Landschaften, vielleicht die endlos braune Erde der Puszta, die Wälder Böhmens und das flache Wintergelb Brandenburgs. Was mir beim Lesen im Zug eindeutig fehlte, ist die Vorsatz-Karte der Reisen, welche die beiden Protagonisten kreuz und quer durch Mitteleuropa unternehmen. Jan Kraus, ein Sterbebegleiter und sein greiser Klient Wenzel Winterberg, der just aus dem Wachkoma erwacht ist und dringend etwas erledigen muss, fahren Zug. Es gibt eine Menge verstorbener Frauen und eine Verschollene. Auf 541 Seiten wird umhergereist, von Leipzig nach Königsgrätz, weiter nach Wien, Budapest, Austerlitz, Brünn, Zagreb, Winterberg, Laibach, Usedom (und ein bisschen auf den Mond). Der alte Mann erzählt oder liest aus seinem Baedecker von 1913 vor, Kraus hört zu, gibt Stichworte. Raucht und trinkt Bier. Winterberg spricht pausenlos, bis er abrupt einschläft. Ein kleiner alter Mann, der zittert, wenn ihn seine Geschichtsanfälle überkommen.

Er erzählte von den Särgen mit den Leichen, die mit der Eisenbahn aus Wien und Graz und Linz und Villach und Salzburg und Brünn und Prag und Pilsen und Königgrätz nach Reichenberg verschickt wurden.

In Brno schaute ich auf Fabrikruinen und machte Platz für Studentinnen, die unser Abteil belagerten, bis Bratislava. Danach wurde es still, die Donau erschien, verschwand. Zeigte einen letzten türkisgrünen Schimmer, bevor die Nacht sie schluckte. Winterbergs Wortkaskaden führten mich durch Jahrhunderte der Kriege, immer den Gleisen entlang. Der Roman bietet keinen Halt. Null Erholung, Orte und Figuren bleiben schemenhaft, der Greis jagt traumgleich durch die Geschichte und erbricht seinen Reiseführer-Monolog aus Habsburger Zeit, mit prophetischen Einschüben ins Jetzt. Noch immer fährt die Straßenbahn 71 zum Zentralfriedhof in Wien, die Feuerhalle in Reichenberg steht wieder und manches Hotel der K&K Epoche, als seien nicht über einhundert Jahre vergangen.

...ich habe die ganze Zeit von den endlosen Eisenbahnstrecken geträumt, und ich habe es auch geschafft, ich ging weg, leider nicht zur Eisenbahn, nur zur Straßenbahn, doch ich habe es geschafft, mich von meiner Familie zu befreien, von dem süßlichen Geruch des Todes, ja, ja, doch inzwischen kamen der Krieg und die nächsten Toten und die nächsten Gräber, die ich gesehen habe, ja, ja,...

In Budapest angelangt, hatte ich noch sechzig Seiten zu lesen, in der Straßenbahn den Erzsébet Boulevard hinunter dachte ich an das Schlachtfeld von Austerlitz und den Igel, der uns anstarrte, bevor er in Richtung Kriegerdenkmal davon trippelte. An die Überschienung der Alpen und dass ich endlich wissen wollte, was damals passierte, als Winterberg seine Lenka nach Sarajevo schickte. Viel Militärgeschichte, Schlachten, Wälder, Gräber, Feuerhallen, Bestattungen und unschöne Leichen müssen ertragen werden, bis Lenka wieder auftaucht im Winterbergschen Kosmos.

Rudiš hat es wieder einmal geschafft. Wie verschieden seine Romane sind, und doch ähnlich in ihrer Strahlkraft und Magie. Vor einigen Jahren entdeckte ich den "Himmel unter Berlin", verliebte mich in die subversive Kraft seiner Sprach-Bilder, die im "Ende des Punks in Helsinki" für mich noch gesteigert wird und in "Nationalstraße" grandios kulminiert. Eisenbahnen und mitteleuropäische Geschichte(n) sind bekannte Motive des Autors, doch in "Winterbergs letzte Reise", dem ersten auf Deutsch verfassten Roman des Mitte Vierzigjährigen, gipfelt alles bisher Angedeutete. Es ist ein Jahrhundert-Roman, den ich atemlos in einer Budapester Ferienwohnung auslas, es ist eine epische Versöhnung mit Krieg, Diktatur und Verrat. Es ist ein Lied, ein Schienengesang, der in seinem schalkhaft breiten Tonfall mitunter quietscht und nervt, dann wieder im Herztakt wummert und die Stirn an die Scheibe drückt, die Augen weitet.

Wenn Jan Kraus endlich erzählen kann, wenn Winterberg zuhört, wenn sie gen Budapest, Sarajevo oder sonst wohin fahren, wenn die Geschichte sich rundet, wenn die Rakete abgehoben ist, lege ich Buch, Handy, Karte oder Baedecker mit einem Lächeln weg, das Rattern bleibt. Danke, Jaroslav Rudiš!

Bei Blumenau, magyarisch Lamacs, erreicht die Bahn die hier an die Donau  herantretenden Kleinen Karpaten, ja, ja, das müssen die Berge da am Horizont sein, ja, ja, Blumenau ist ein schöner Name, finden Sie nicht, dann kommt ein Tunnel ... Unfassbar, in dem Buch sind wirklich alle Tunnel von Österreich-Ungarn aufgezählt, der arme Mann, der sie damals alle aufgeschrieben hat, ist sicher auch verrückt geworden, stellen Sie sich vor, er hätte einen Tunnel vergessen, das wäre nicht gegangen, ein Baedeker ist wie ein Fahrplan, wie eine Bibel, da muss alles stimmen, auch die Anzahl der Tunnel, ja, ja, bald müssen wir schon in Pressburg sein, ungarisch, Pozsony, jetzt Bratislava, Staatsbahnhof, magyarisch Államvasúti indóház, nein, das kann ich mir nicht merken, 78 000 Einwohner, darunter 33 000 Deutsche, Sitz des Korpskommandos des 5. Armeekorps, das kann ich mir merken, die frü here Haupt- und Krönungsstadt der ungarischen Könige aus dem Hause Habsburg, Gasthöfe Savoy, Deák, soll gut sein, König von Ungarn, Goldener Hirsch, ja, ja, Wein und abends warme Küche beim Schmidt-Hansl, Bier beim Horváth, na ja, das brauchen wir eigentlich nicht zu wissen, wir fahren sowieso nach Budapest weiter, vielleicht ein anderes Mal, was denken Sie, lieber Herr Kraus? Oder möchten Sie in Pressburg einen Halt machen?«

Er schaute mich an, doch ich sagte nichts und trank das Bier.

»Entschuldigen Sie bitte, lieber Herr Kraus, ich weiß, ich bin ein wenig verrückt.«

»Ich auch.«

»Wir sind beide verrückt ... Das ist doch schön.«

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