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Literatur

Laufen 4: Ein Rumäne erfindet den New-York-Marathon

Laufen 4: Ein Rumäne erfindet den New-York-Marathon

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtDienstag, 07.08.2018

Zur Zeit ist es so heiß, daß ich nach dem Laufen manchmal so erschöpft bin und so verschwitzte Hände habe, daß ich hinterher den Deckel der Mineralwasserflasche nur mit Mühe aufbekomme. Ich stelle mir dann vor, ich wäre in der Wüste und würde eine Flasche Spreequell Medium finden, aber meine Hände wären zu schwach sie aufzuschrauben. Ich müßte sie nur an einem Stein zerschlagen, aber es gibt keinen Stein, es gibt nur Sand. Das wäre sicherlich eine dumme Situation. Früher bin ich besonders gerne in der Sonne gelaufen, ich mochte es, wenn es schön heiß war und ich mich in Schweiß auflöste, vielleicht war das eine Kompensation für den elenden Berliner Winter, der ja manchmal von Oktober bis Anfang Mai dauert. Im Winter trage ich beim Laufen einen Halsmuff, den ich mir in einer chinesischen Änderungsschneiderei durch einen Filzwickel habe verlängern lassen, so daß ich den Muff über die Nase ziehen kann und den ganzen Lauf über eine Mischung aus meiner schon benutzten Atemluft und von meinem Körper angewärmten Ausdünstungen einatme, nur um mich nicht schon wieder zu erkälten, was sonst alle paar Wochen passiert. Man ist natürlich auch viel langsamer, weil man nach dem Zwiebelprinzip drei und mehr Schichten Kleidung übereinander trägt und hinterher stellt sich die Frage, welche dieser Schichten man waschen muß. Jedes Mal alle drei? Dann müßte ich jeden Tag die Wäsche machen. Reicht es bei den äußeren beiden Schichten nicht, sie auszulüften? Aber wo? Meine Frau behauptet, meine Laufkleidung würde so stinken, daß ihr schlecht wird (und zwar auch noch nachdem sie – natürlich separat -, gewaschen ist, so verschmutzte Textilien könnten nie wieder ganz sauber sein) ich darf sie deshalb nicht im Bad trocknen lassen, sondern muß sie auf den Balkon bringen, wo ich sie meistens wochenlang vergesse, bis ich keine anderen Laufklamotten mehr habe. Wenn ich meiner Frau erkläre, daß es einen entscheidenden Evolutionsvorteil darstellt, daß wir Menschen schwitzen können (weil wir kein Fell mehr haben), und daß wir deshalb in der Lage sind, Antilopen zu Tode zu hetzen (wenn wir das auch selten tun), rümpft sie nur die Nase, ihr wäre es sicher lieber, wenn ich ein Fell hätte und dafür nicht schwitzen würde.

Meine Sonnen- und Hitzeeuphorie hat mich einmal dazu verleitet, in Tel Aviv um die Mittagszeit laufen zu gehen, was sich im Gegensatz zu Spazieren in der Hitze belebend anfühlt, schon weil man die passende Kleidung trägt und sich aufs Duschen freuen kann. Ich war so begeistert über die kilometerlange Strandpromenade und die schöne Betonarchitektur, daß ich zu weit lief, nämlich bis nach Jaffa, wo ich sogar noch die Treppen zum Training nutzte. Der Rückweg wurde dann sehr lang. Am Nachmittag aß ich an einem Imbiß ein Humus-Sandwich und am Abend wurden wir in eine Fabriketage gefahren, wo eine Buchpräsentation stattfinden sollte, aber mir war schlecht. Die Zuschauer trafen schon ein, der kleine Raum war rasch gefüllt, direkt neben den Stuhlreihen befand sich die Toilette, deren Tür von innen nicht abgeschlossen werden konnte, und hierhin verschwand ich alle fünf Minuten, um mich zu übergeben und dann wieder in den Zuschauerraum zu treten, als wäre nichts gewesen. Es gab Wein und Fingerfood umsonst, aber ich konnte nichts davon anrühren. Ich schaffte es irgendwie, die Stunde auf dem Podium durchzuhalten, ohne noch einmal zur Kloschüssel zu stürzen. Damals dachte ich, der Humus sei schlecht gewesen, aber in Wirklichkeit hatte ich wohl beim Laufen einen Sonnenstich bekommen oder sogar einen Hitzschlag erlitten.

Wenn man im Sommer in den Süden reist, kann es sein, daß man um 5 oder 6 Uhr aufstehen müßte, damit es nicht zu heiß zum Laufen ist, oder man man muß bis 23 Uhr warten, was mir natürlich leichter fällt. In Bukarest, wo es am Tag bis zu 40° warm war und auf den Straßen Erste-Hilfe-Zelte für dehydrierte Rentner aufgestellt worden waren, bin ich täglich um diese Zeit laufen gegangen, am hell angestrahlten Palast vorbei, vor dem Männer auf den Parkplatz-Markierungen Fußballtennis spielten (ein Sport, den ich nirgends sonst so intensiv betrieben sehen habe, diese Variante von Fußball erlaubt es auch älteren Männern noch mitzuhalten), durch Parks, in denen immer noch viel Betrieb herrschte, erstaunlich viele kleine Kinder, die um diese Zeit noch wach waren, fuhren mir auf Dreirädern zwischen die Beine, Roma verkauften kleine Propeller mit LED-Leuchten, die man in den Nachthimmel katapultieren konnte. Die Straßenhunde lagen träge auf den Verkehrsinseln, während mich Hofhunde hinter Blechwänden beängstigend aggressiv ankläfften. Ich hatte natürlich Angst überfallen zu werden oder in ein Gullyloch zu stürzen, dessen Deckel an Altmetallhändler verkauft worden war, aber es ist mir nichts passiert. Einmal folgte mir ein Straßenhund fast die gesamte Strecke, ich glaube, er wartete sogar bei Rot an den Ampeln. Ich war damals in Bukarest, um für ein Buch über Rumänien zu recherchieren und sammelte deshalb Rumänen, die irgendwo auf der Welt bedeutende Leistungen oder bemerkenswerte Untaten vollbracht hatten. Der in Rumänien berühmteste Rumäne, der Dichter Mihai Eminescu, von dem in fast jedem Ort Rumäniens eine Büste steht, ist außerhalb Rumäniens nur Spezialisten bekannt, und von den bekanntesten Rumänen wissen wiederum die wenigsten von uns, dass sie Rumänen waren. Johnny Weissmuller, 1904 in Timişoara geboren, sieben Monate später wanderten seine Eltern mit ihm in die USA aus. Aus ärmsten Verhältnissen hat er sich durch den Sport hochgearbeitet und durfte später Tarzan spielen. (Beim Absenken seines Sarges in die Erde ertönte auf Wunsch seiner Witwe noch einmal der Tarzanschrei.) Bogdan, der Car-Wash-Besitzer aus "Breaking Bad". Günter Bosch aus Braşov, Trainer von Boris Becker. Oder Ana Cumpănaş, 1914 aus dem Banat in die USA ausgewandert, dort Prostituierte und Bordellbesitzerin. Für das Versprechen, eingebürgert zu werden, hat sie den seinerzeit meistgesuchten Verbrecher der USA, John Dillinger, verraten, sie war der Lockvogel, die "Lady in Red", die mit ihm ins Kino ging. (Zur Belohnung wurde sie nach Rumänien abgeschoben.) Michael Cretu (eigentlich "Creţu"), der Mann, der immer mit einem Umhängekeyboard hinter Sandra stand. So viele Rumänen sind ausgewandert, daß die Rumänen eine Zeitlang den Eindruck hatten, bei jedem Terroranschlag auf der Welt seien immer auch Rumänen unter den Opfern gewesen.

Ein Rumäne, von dem ich damals noch nichts wußte, war Fred Lebow, der als Fischel Lebowitz 1932 im rumänischen Arad geboren wurde und später den New York Marathon wenn nicht erfunden, dann zumindest über 20 Jahre vermarktet und verkörpert hat, wovon die schöne Dokumentation "Run for your life" erzählt.

Die Geschichte dieses Städtemarathons spiegelt die Entwicklung wider, die das Laufen von einem Sport für Freaks (damals wurden Läufer noch verspottet, aus dem Auto mit Bier beschüttet oder verhaftet, wenn sie im Sommer mit freiem Oberkörper liefen) zu einer Massenbewegung genommen hat. Anfangs waren es nur ein paar Enthusiasten, die sich in der Bronx zum Laufen trafen, was 1970 schwierig wurde, weil Kinder die Läufer mit Steinen bewarfen und der Verkehr immer mehr zunahm. Dann kam Lebow, der im Film als ein genialer Manipulator und charmanter Getriebener beschrieben wird. Lebow hatte die Idee, das Laufen in die Öffentlichkeit zu bringen und im Central Park einen Marathon auszurichten, das sind ziemlich genau vier Runden um den Park (eine Strecke mit nur wenigen ebenen Abschnitten, meist geht es auf und ab.) Am ersten Marathon 1970 nahmen 127 Läufer teil, es wirkte eher wie ein Happening.

Der Übergang vom Laufen als Reaktion (Weglaufen, Jagen, Vorwärtskommen) zum Joggen, dem zweckfreien, aufgeklärten Laufen, ist eine anthropologische Revolution. Die Industrialisierung hat uns von körperlicher Arbeit befreit, beim Joggen feiern wir das, indem wir unseren Körper wieder spüren. Die Idee, daß man durch langsamen Dauerlauf seine Grundlagenausdauer verbessert und seine Gesundheit stärkt (und ihr nicht etwa schadet, es hieß z. B., daß Frauen davon Haare auf der Brust wachsen würden), war alles andere als selbstverständlich. Eine Theorie besagt, daß der Leichtathletiktrainer Bill Bowerman sie 1962 von Arthur Lydiard aus Neuseeland nach Amerika brachte, eine andere nennt Ernst van Aaken ("Grundzüge und Theorie einer allgemeinen und chemischen Physiologie der Ausdauerfunktion") als den Begründer (wie Abebe Bikila hatte auch er einen symbolischen Unfall, er wurde beim Laufen von einem Auto angefahren und saß viele Jahre im Rollstuhl). Es ist wahrscheinlich so schwer, wie die Ursprünge des Hip-Hop oder von Graffiti zu erforschen, wenn man wissen will, wer eigentlich der Erste war, der joggend durch die Straßen New Yorks gelaufen ist. Es muß einen Ersten gegeben haben, und er muß exotisch ausgesehen haben, wie Karl von Drais auf der Fahrt mit seiner Laufmaschine durch Mannheim im Jahr 1817.

Der New York Road Runners Club (dessen Vorsitzender Lebow war) hatte, wie man im Film sieht, am Anfang etwas sympathisch amateurhaftes, das Plakat des ersten New-York-Marathons war handgeschrieben, die Läufer trugen halb improvisierte, individuelle Laufkleidung, die auf Außenstehende wie Unterwäsche wirken konnte, man spürt die Freude am Zusammensein, die Freude daran, als Außenseiter Gleichgesinnte zu treffen, die Lust an der friedlichen Rückeroberung des öffentlichen Raums. Als die Teilnehmerzahl wuchs, und es schwierig wurde, die Runden zu zählen, schaffte es Lebow, den Marathon durch alle fünf Boroughs führen zu lassen, über mehrere kilometerlange Brücken. Das war gar nicht so selbstverständlich, weil New York damals eine Hochphase der Kriminalität erlebte und man durch Viertel laufen wollte, aus denen sich der Staat praktisch zurückgezogen hatte. Lebow mußte sich hier und da mit Gangs einigen, die ihren "Turf" verteidigten, also ihr Territorium. Lebow behauptet im Film, er habe den jungen Menschen T-Shirts und Käppies geschenkt und sie als Streckenposten eingesetzt, was wunderbar funktionierte. Durch den Lauf sei eine Art Renaissance von Wohngebieten eingeleitet worden, gemeinsames bürgerschaftliches Engagement für eine Sache habe zur Identifikation mit dem Wohngebiet geführt.

Lebow stammte aus einer jüdischen Familie in Rumänien, er war eines von sieben Kindern, irgendwie hatte man die Nazizeit überstanden, aber nach dem Krieg wollte ihn die Familie mit einem seiner älteren Brüder, der darüber im Film erzählt, nach Israel schicken. Sie blieben in der Tschechoslowakei stecken, gleich die erste Trennung von der Familie dauerte für die beiden viele Jahre (leider erfährt man über dieser "Vorgeschichte" nur sehr wenig). In Amerika war er in der Bekleidungsindustrie tätig (er ließ teure Mode billig nachnähen) und ein cluberfahrener Lebemann, der immer neue Projekte brauchte. Er hatte viele Freundinnen, war aber nie verheiratet und hatte keine Kinder. Im Film erzählt er, wie ihm einmal eine Freundin seine Koffer vor die Tür stellte, weil er am Silvesterabend laufen gegangen ist (da er sein Jahresziel von 2500 Meilen noch nicht geschafft hatte). Über 20 Jahre wuchs der New-York-Marathon unter seiner Leitung fast exponentiell, Lebow engagierte Starläufer, suchte Sponsoren, verhandelte mit der Stadt (in New York gab es Streit, als herauskam, daß man Stars Antrittsprämien zahlte, während die Stadt Polizei und Personal umsonst zur Verfügung stellte.) In zahlreichen anderen Städten wurden Marathons begründet, ein Konkurrenzkampf entbrannte. Im Nachhinein erscheint es unglaublich, daß die Idee, seine Stadt durch eine Laufveranstaltung zu promoten, so schwer durchzusetzen war. (Berlin hat den Vorteil der flachen Strecke und der kühlen Temperaturen, so daß hier immer wieder Weltbestzeiten gelaufen wurden.)

(Bei Minute 32:45 und 33:06 sieht man im Film Aufnahmen von Frank Shorter und Bill Rogers, den beiden damals besten amerikanischen Marathon-Läufern beim olympischen Marathon 1976 in Montreal. Neben ihnen sieht man den damals in der Laufwelt noch völlig unbekannten Waldemar Cierpinski mit seinen auffälligen Koteletten, der 1976 und 1980 den olympischen Marathon gewann.)

1990 wurde bei Lebow ein Hirntumor operiert, 1992 nahm er, sichtlich von der Krankheit gezeichnet, zum ersten Mal selbst an seinem Marathon teil, bisher hatte er das als Organisator nicht gekonnt (außer in den ersten beiden Jahren). An der Seite der Norwegerin Grete Waitz, die den New York Marathon in den 80ern neunmal gewonnen hatte, lief er in 5:32 h ins Ziel und küßte anschließend den Asphalt. Man sieht den Zieleinlauf und die Begeisterung der Menschen über diesen symbolischen Sieg. Zwei Jahre später starb Lebow. (Tragischerweise starb auch Grete Waitz Jahre später an Krebs.) Dieses Finish des Films wäre reiner Kitsch, wenn es nicht die Wahrheit wäre. Eine Statue Lebows wird jedes Jahr zum Marathon von der Ostseite des Central Parks, wo sie steht, zur Westseite an die Ziellinie getragen.

Marathonläufer sehen die Stadt auf eine Art, die nur einmal im Jahr möglich ist, weil die Straßen für sie gesperrt werden, und sie werden dabei auch noch angefeuert (in New York offiziell von zwei Millionen Menschen). Mich hat der Film schon deshalb interessiert, weil ich immer davon geträumt habe, im Central Park zu laufen und das im August und September 2001 auch täglich getan habe, als ich in New York für ein Buch recherchieren mußte. Es fühlte sich so selbstverständlich an wie nirgends sonst, hier auf der Straße zu joggen, im Central Park reihte man sich einfach ein und lief mit. Ich befand mich in der Endphase der Vorbereitung auf meinen ersten Berlin-Marathon und hatte eine Roman-Deadline, dann kam auch noch der 11.September dazu. Ich hatte nur eine provisorische Unterkunft und fuhr täglich zum Büro von Air France, in der Hoffnung, daß wieder Flüge gingen, das Büro blieb aber geschlossen. Erschwerend kam hinzu, daß ich in meiner Unterkunft keine Dusche hatte, sondern nur ein Waschbecken in einem Uniklo. Einmal lief ich abends im Central Park, während die New Yorker eine Lichterkette mit Kerzen machten, wie in Ostberlin 1989.

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