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Literatur

Laufen 15: Gesundheit und Subversion

Laufen 15: Gesundheit und Subversion

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 25.02.2019

Wieder lese ich ein altes Laufbuch, "Laufende Lust" von Rudi Holzberger, das 1982 in der von Manfred Steffny herausgegebenen Edition Spiridon erschienen ist. Der Autor war damals ein nicht-professioneller, leistungsmäßig hochambitionierter Marathon-, Ultra-Marathon und Skiliangläufer aus dem Allgäu, der als Kind aus der ländlichen Provinz mit ökonomisch bescheidenem familiären Hintergrund und Studienabschluß als Agrar-Ingenieur grünem Denken zugeneigt war. Die Lektüre bringt in Erinnerung, daß Laufen damals nicht für alle der Lifestyle-Sport war, als das es heute gilt, sondern eine neue Form, sich zur Welt und ihren Widersprüchen zu verhalten.

In manchen Laufbüchern steigt der Autor mit einer Beschreibung seines beklagenswerten körperlichen und seelischen Zustands ein, der sich durch das Laufen gebessert hat. Holzberger beginnt auch mit so einer Saulus-Paulus-Geschichte, im ersten Kapitel schildert er sein suchtnahes Landleben in der Jugend, Alkohol, Partys, und vor allem Temporausch beim Autofahren: "Die wildesten Renen finden auf der Landstraße statt, nicht in der Formel I". Interessant für Kollege Andreas Merkel, wie Holzberger über Tennis spricht, denn er verdient sich als Jugendlicher und junger Mann Geld mit dem Harken von Tennisplätzen und entwickelt dabei eine ausgeprägte Abneigung gegen die Klasse der Tennisspieler: "Ich hasse das Gehabe der verhinderten Wimbledon-Sieger mit den großen Schlägertaschen im Arm, dem ewig gleichen Thema von Vor- und Rückhand und dem verflixten Aufschlag, den alldie Spätberufenen nie mehr intus kriegen." Er geht sogar noch weiter in seiner Kritik dieses Sports: "Der Tennis-Boom spiegelt die ungeheure Fehlentwicklung unserer Gesellschaft, ein eher stupider Sport, mit minimalem gesundheitlichem Nutzen aber höchstem gesellschaftlichen Ansehen." (Ich als Kind des Ostens, der nie einen Tennisschläger in der Hand gehalten hat – bei uns spielte man eher fanatisch Tischtennis –, gucke heute fast lieber große Tennis-Matches als Fußballspiele, die Dramatik ist ausgefeilter und die sportliche Leistung noch beeindruckender.)

Nach einem schweren Unfall leidet Holzberger beim Autofahren unter Angstgefühlen, er geht zum Studieren nach Bremen, wo er das Laufen als gesunde Form von Lust wiederentdeckt. Er schildert die Atmosphäre an der Bremer Uni, man bekommt ein Gefühl für diese theoriehungrige Zeit, als viele Studenten und Professoren noch intellektuelle Freaks waren. (Das Wort "Vorlesung" war wegen des darin anklingenden Gefälles zwischen Professor und Student plötzlich verpönt, man sagte "Veranstaltung".) Für viele Studenten begann nach dem Zwang zum Abitur an der Uni die Kleinbürger-Antithese: die große Faulheit. Er dagegen läuft auf einer "Finnbahn(schon bei diesem Wort kribbelt es in meinen wunden Fußgelenken.)

Das nächste Tief, chronische Darmprobleme, eine erfolglose Odyssee durch Arztpraxen. Erst ein Heilpraktiker tut das eigentlich Selbstverständliche: Er hört seinem Patienten zu. Holzberger stellt seine Ernährung nach Bruker um (dessen Ernährungslehre einem auch immer wieder in Werner Sonntags Lauftagebuch begegnet. Dem nachrecherchierenden Leser tun sich hier Abgründe auf, weil die Geschichte der ökologischen Ernährungsreform bis in die Nazizeit reicht, wo es einen "Reichsvollkornbrotausschußgab. Weißbrot war welsch, Vollkornbrot deutsch.) Kein Fabrikzucker, kein Weißmehl, keine degenerierten Fette, keine Fabriknahrung, keine Obstsäfte, morgens "Frischkornbrei", Holzberger hat es geholfen. Spätestens aus dieser Erfahrung ergibt sich natürlich auch neue Kritik an der industriellen Landwirtschaft. Gerade Läufer haben für das falsche Leben ein Gespür, da das tägliche Training die leisesten Körpersignale rücksichtslos verstärkt.

Besonders interessiert hat mich ein Kapitel über Aussagen von Horst Eberhard Richter, die damals in der taz diskutiert wurden. Es geht um eine neue Bewertung von Charaktereigenschaften, die man traditionell als Stärke oder Schwäche auslegt. Dazu Richter:

"Menschen, die ihre Gefühle durchlassen, sich nach innen und außen offen verhalten und mit hoher Sensibilität auf die Qualität der Lebensumstände reagieren, sind eher als andere dazu imstande, in der Familie, am Arbeitsplatz und wo sie auch immer sozial aktiv sind, für gedeihliche Verhältnisse zu sorgen. Die Kehrseite dieser Sensibilität ist jedoch eine besondere psychosomatische Anfälligkeit, wenn diese Menschen in eine inhumane und entfremdende Zwangslage geraten."

Bei dieser Empfindlichkeit handelt es sich nicht um Hysterie oder eine pathologische Abweichung von der Norm, sondern:

"um die wünschbare psychozoziale Gesundheit schlechthin [..] So kommt ihr ein höherer Gesundheitswert zu als jener Robustheit, die landläufig als Idealnorm propagiert wird. Diese abgestumpfte Robustheit verklärt man als gesunde Härte, Elastizität, vitale Energie usw. Umgekehrt diffamiert man die Störbarkeit einer sensibleren und offeneren Persönlichkeit als Schwächlichkeit oder Labilität."

Ohne den Typ des vermeintlich Schwachen kann die Gesellschaft nicht reformiert werden. Menschen, die mitschwingen, bereichern das Sozialleben. Holzberger stößt das aber auf, für ihn ist es nur der halbe Weg, denn bei dieser Beschreibung sieht er den Typ des neurasthenischen Aussteigers vor sich, der es für politisch subersiv hält, im "System" nicht zu funktionieren, also auch körperlich. Für Holzberger ist die wahre Subversion, gesund zu sein, zumindest etwas dafür zu tun, denn nur dann könne man mitschwingen, ohne dabei zu zerbrechen: "Wer bestehende gesellschaftliche Widersprüche nicht nur bewußt erlebt und negativ empfindet, sondern auch mit innerer, heiterer Gelassenheit [..] aushält, scheint mir allein fähig zur (persönlichen und gesellschaftlichen) Veränderung." Der körperlich inaktive No-Future-Jugendliche mache es dagegen eigentlich nicht anders als der No-Future-Spießer, der sich sein gesellschaftlich nicht geächtetes Rauchen und Saufen schönredet: "Rauchfleisch hält länger und Alkohol desinfiziert."

In der Diskussion klingt vielleicht auch ein linkes Ressentiment gegen den Sport an, das natürlich gut begründet war, wenn man an die Auswüchse des professionellen Sports denkt, oder an die Rolle des Schulsports, bzw. "Turnens", als Vorbereitung auf den Militärdienst. Ein Sportunterricht, der für Generationen für Demütigungen durch Lehrer und Stärkere bekannt war. Der Mythos der "Abhärtung" führte zu einem Sportverständnis, das gegen den Körper gerichtet war und Lust unterdrücken sollte. Das Körperideal der Nazis unterschied sich im Übrigen nicht von dem in der kommunistischen Propaganda. So gesehen ist Gesundheit eigentlich Faschismus. Wahre Gesundheit ist allerdings natürlich etwas ganz anderes.

Ein Argument für unseren modernen Lebensstil sind die Erfolge der Medizin und unsere gestiegene Lebenserwartung. Holzberger bleibt hier skeptisch: "Der Mensch stirbt langsamer – mit Gesundheit hat das wenig zu tun." Und: "Die moderne Gesellschaft widerspricht grundsätzlich den gesundeitlichen Anforderungen des Menschen." Mechanisierung verhindert körperlich-handwerkliche Arbeit, was unglücklich macht, Büro- und Fabrikwelt verhindern körperliche Bewegung. "Meine These ist kurz, daß tägliche körperliche und geistige Aktivität die grundlegende individuelle Bedingung für menschliche Gesundheit ist." Zu laufen ist weit mehr als der Versuch, ein paar Pfunde abzunehmen oder fit für Beruf und Familie zu bleiben: "Der Bruch im Lebensstil ist bei Läufern oft tiefgreifender als bei den sogenannten Alternativen – nur fehlt die so auffallende äußere 'Werbung' für ihre Sache – Kleidung, Haartracht etc." Insofern sei der Berlin-Marathon eine politische Demonstration, die größte, die Berlin je gesehen hat, der Wunsch nach Gesundheit sei "zutiefst subversiv". (Sofern man denn vom langen Lauf gesund wird, auch hier gibt es Skeptiker.)

Laufen als alternative Kultur. Im Vorwort weist Manfred Steffny darauf hin, daß Holzbergers Buch in eine Reihe mit Werner Sonntags "Irgendwann mußt du nach Biel" (1978) und seinem eigenen "Lebens-Lauf. Laufen als neue Erfahrung mit Körper und Psyche" (1979) gehört. Tatsächlich hatte Sonntag als Erster den inneren Monolog gestaltet, der im Kopf eines Läufers beim 100-km-Lauf von Biel abläuft. Fast wie in einer psychotherapeutischen Sitzung geht es in freier Assoziation um die Traumata aus der Kindheit, Verletzungen im Berufsleben, Eheprobleme, menschliche Abgründe, alles während der (Freizeit-)Läufer mit seinem Körper eine herausragende sportliche Leistung vollbringt. Stärke und Schwäche schließen sich nicht aus, wie es der Profisport und das Körperbild aus der Sportartikelwerbung behaupten, vielleicht bedingen sie sich sogar. (Daher der verbreitete Verdacht: alle Läufer, zumindest alle Marathonläufer sind eigentlich gestört. In Wahrheit sind in unserer Gesellschaft fast alle Menschen irgendwie gestört, mit mehr oder weniger aufwendigen Strategien, das zu verbergen.) In Steffnys Buch ging es ebenfalls um eine neue Form zu leben, um die Themen des grünen Aufbruchs von damals, Autowahnsinn, Atomstrom, industrielle Ernährung. Das ist alles weit weg von dem, was man heute unter Laufen versteht, wo Läufer vor allem eine wichtige Zielgruppe für die Sportartikel- und Elektro-Gadget-Industrie sind. (Was uns noch fehlt ist, schreibt Holzberger, ein Gerät am Handgelenk, das auf Wilhelm Reichs Untersuchungen zur Lust und seiner seltsamen Orgon-Theorie basiert: "Irgendwann wird der Marathonläufer nicht nur einen Pulsmesser mit sich schleppen, der ihm Hinweise auf Gesundheit und Leistung gibt, sondern auch einen Orgon-Messer, der ihm seinen jeweiligen Lustzustand verbildlicht." Das Gegenteil davon dürften, nach meiner Auffassung, mitgeführte Smartphones mit Lauf-App sein, die die seelische Wirkung des Laufens nivellieren.)

Die Jogging-Welle in den 70ern war vielleicht eine Reaktion darauf, daß unsere selbst geschaffene Umwelt nie schlechter für unsere Gesundheit war als in der Moderne. Erkannt haben das Läufer, die bescheidener und intensiver als die "konsumwütigen, zivilisationskranken Normalbürger" leben wollen, gleichzeitig naturbewußter, auch der inneren Natur und dem eigenen Körper gegenüber. Damals gab es sogar die These, daß der Krebs eine Folge des falschen Lebens sei, sozusagen eine Strafe der Natur. Holzberger diskutiert Egmont Kochs "Krebswelt – Krankheit als Industrieprodukt", in dem es heißt: "Krebs ist unser Tribut an die Industrialisierung, eine Folge des ungezügelten Wirtschaftswachstums, das auf die Qualität der Umwelt keine Rücksicht nahm." Das zu beurteilen übersteigt bei weitem meine Expertise, ich stelle nur fest, daß auch bei einem Buch wie Christa Wolfs "Nachdenken über Christa T." (1968) die Krankheit als Metapher gedeutet wurde, der Krebstod der Protagonistin sollte eine Folge des Leidens an der DDR sein. Vielleicht hätte Christa T. laufen sollen.

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