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Literatur

KRISENBEWÄLTIGUNG UND NOTERZEUGUNG – Sport und Literatur

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelDienstag, 31.12.2019

Für den literarisch normalbegabten Leser gilt selbstverständlich auch 2020 für Sportbücher dasselbe wie für Kriminalromane: fucking unreadable. Zu langweilig, zu rechthaberisch recherchiert, zu hohe Nerd-Dichte im Mitleserbereich. Vor allem aber zu trittbrettfahrerisch um Aufmerksamkeit im medialen Windschatten von Sport und Mord bemüht.

Dennoch gab es auch 2019 ein paar Ausnahmen, die noch mal für ein paar Analogie-Ahas in der postheroischen Grauzone zwischen Sportler und Schreiber sorgten:

1. No Witzky

An Dirk Nowitzki interessiert mich fast nichts, was sich nicht sofort googlen ließe: Dass seine beste Wurftechnik the Fadeaway heißt (aus der Distanz, nach hinten wegkippend). Dass er zur Selbstberuhigung bei Freiwürfen leise vor sich hinsingt (Mr. Jones von den Counting Crows). Und dass er mal auf eine brasilianische Heiratsschwindlerin reinfiel, nachdem er sie drei Jahre lang im Short-Message-Service-Bereich witzig gefunden hatte, und seinen little jailbird später sogar von Privatdetektiven überwachen ließ. Der Rest ist mir completely korbball.

Trotzdem habe ich den Reise-Aufsatz von Autor Thomas Pletzinger (THE GREAT NOWITZKI) und Zeichner Christoph Niemann (HOPES AND DREAMS) letztens im ZEIT-Magazin gern gelesen (s. Hauptlink unten). Die beiden liefern ein paar Amerika-Atmos und denken viel über die bereits eingangs erwähnten Parallelen zwischen Autor und Automat nach:

Über die Jahre habe ich so viele Trainingseinheiten von ihm und Geschwindner gesehen, so viele Würfe und Wiederholungen, dass ich die Reihenfolge im Grunde auswendig kann. Es ist immer gleich, es ist immer anders. Es hat eine Weile gedauert, bis ich dahintergekommen bin, was die beiden da eigentlich tun. Dass es nicht um die Übungen an sich geht, sondern um die winzigsten Details bei ihrer Ausführung. Beim zehnten Mal entwickelt die Monotonie einen meditativen Effekt, beim 25. Mal entdeckt man kleine Besonderheiten, und beim 50. Mal beginnt man, das immer Gleiche als Mosaik winziger Detailvarianten zu begreifen. Im Groben ist alles gleich, damit man überprüfen kann, was im Feinen funktioniert. Dirk Nowitzki hat diese Einheiten schon viele Tausende Male absolviert, eine Tonleiter für einen Orchestermusiker, ein Strichmännchen für einen New Yorker-Illustrator. Niemann sieht das alles heute zum ersten Mal. "Sportler werden berühmt wegen ein paar verrückter Magic Moments", bemerkt er am Rand der Trainingshalle. "Aber in der Realität sind Routinen und millionenfache Wiederholungen das Fundament der Karriere und nicht der entscheidende Wurf." – "Im Grunde ist das auch nicht anders als das, was wir tun."

Das ist schön beobachtet einerseits, andererseits schleichen sich bereits hier ein paar Anekdoten der Sorte ein, wie man sie auch kurz vor dem Langeweile-Infarkt von Familienfeiern kennt, wenn man Opa vom letzten US-Trip erzählt:

In Deutschland ist es so: Wenn man in ein Restaurant geht und eine Limo bestellt, muss man die bezahlen. Jedes einzelne Glas. Als Dirk Nowitzki vor 21 Jahren nach Amerika kam, gab es plötzlich Free Instant Refill: Er habe sich zum Abendessen manchmal zwei oder drei Liter Limo "reingedonnert", sagt er. Sprite, Fanta, Cola, Mezzo Mix. Bis sein Mitspieler Steve Nash irgendwann einmal gesagt habe: "Sag mal, du trinkst verdammt viel Limo."

 – Nicht tausend Christine Westermanns könnten mich dazu bringen, dann noch 400 Seiten Freundschaftsprosa mehr über eine abgrundfreie Sportlerpsyche zu lesen, die ihren Tesla-Body von Limo auf Wasser umstellt. Und dennoch boomt das Genre: Leute wollen wieder weinen, wenn sie die von Pletzinger in seinem GREAT NOWITZKI (Kiepenheuer & Witsch) tatsächlich hochemotional beschriebene Abschiedsszene von Dirks letztem Spiel lesen. WHY?

2. Krisenbewältigung und Noterzeugung

Wegen Stellvertretung und Repräsentation, würde der Soziologe Karl-Heinrich Bette überschriftsmäßig cool antworten, in seiner gerade erschienenen Studie SPORTHELDEN – SPITZENSPORT IN POSTHEROISCHEN ZEITEN (Transcript). These: „Helden?? Was soll das sein? So ein Wort denk ich noch nicht mal…“ (Rainald Goetz vor ein paar Jahren auf die TTT-Frage, „wer seine Helden seien“). In der modernen, postpathetischen Gesellschaft gibt es höchstens noch die Alltagshelden der Jahresrückblick-Augenblicke (Mutbürger rettet Ausländer vor Wutbürger, Pilot landet kaputten Flieger im Hudson) und im Showbereich (Helene Fischer singt Roland Kaiser an die Wand und alles andere mit Kultur) und Sport (Neuer hält Elfmeter, Fußballgott). Und trotzdem gucken wir gern zu oder träumen uns in was rein. Bette zitiert:

Eigene Impulse würden zwar nicht mehr heroisch unterdrückt, sondern flexibel ausgelebt. In einer pluralen Gesellschaft, die keinen festen Halt in einer verbindlichen Sozialordnung mehr geben könne, seien innere Freiheit und Beweglichkeit aber um den Preis einer größeren Labilisierung und Verletzlichkeit der Psyche gesteigert worden.

Wer keine Angst vor Soziologie-Sprech, Redundanzen und ein paar Hoppelungen & Doppelungen hat, findet hier ein wahres Schatzkästlein an Erkenntnissen über die Ähnlichkeiten zwischen Literatur und Sport, wenn es zum Beispiel um – Lieblingskapitel! – „Krisenbewältigung und Noterzeugung“ geht:

Notsituationen helfen demnach dabei, Helden zu erzeugen und sichtbar zu machen. Krisen machen nicht nur Entscheidungen und Wendungen in bedenklichen Situationen notwendig, wie der ursprüngliche griechische Begriff der „krisis“ besagt; sie eröffnen Personen auch die Möglichkeit, unerwartete Verdienste zu erwerben und bestehende Handlungs- und Hilfsnormen supererogatorisch überzuerfüllen. (…)

Krisen im Wettkampfsport sind auf der basalen Ebene nicht das Ergebnis existentieller Nöte; sie werden vielmehr durch hierauf spezialisierte Organisationen künstlich hergestellt, um Athleten Bewährungsfelder für Leistungsindividualisierung und Selbstheroisierung anzubieten und Stellvertreter- und Amüsementbedürfnisse des Publikums zu befriedigen.

Okay, einmal „supererogatorisch“ (Ethik des pflichtbewussten Over-achievers) hätte gereicht, aber Bette ist hier wirklich etwas auf der Spur. Umarme deine Krise:

Durch Krisen erhält der Wettkampfsport Dramaqualitäten. Not und Krise sind demnach nicht etwas, was es um jeden Preis zu vermeiden gilt. Ganz im Gegenteil geht es im sportlichen Wettstreit immer auch darum, Notsituationen und kritische Ereignisse für die jeweils andere Seite bewusst herbeizuführen.

Beziehungsweise verstärke deine Krise – zum Beispiel durch Vergleiche mit gegnerischen Teams, Literaturpreise für minderbegabte Mainstream-Autoren, Verlagswechsel von Rowohlt zu Suhrkamp:

Krisensituationen entstehen im Sport in sozialer Hinsicht weiterhin durch die Existenz hierarchisch gestaffelter Leistungsklassen und Ligen (…) Der Sport ist durch die bewusste Möglichkeit des Auf- und Abstiegs zu einer meritokratischen Enklave geworden, in der Helden und Heldenkollektive in erwartbarer Weise sowohl „geboren“ als auch degradiert oder „getötet“ werden können…

„In erwartbarer Weise“: sehr subtil deutet Bette hier allerdings auch die Grenzen von künstlicher bis künstlerischer Krisenbewältigung und Noterzeugung an. Einerseits streberhafte Optimierung („weiterhin zeigt sich in sachlicher Hinsicht, dass der Athletenkörper die häufigste Ursache von Not- und Krisenerfahrungen darstellt“ – s. a. Dirk darf keine Cola mehr, Lewandowski direkt nach Abpfiff zur Leisten-OP ). Andererseits die sich daraus ergebenden Kontrasymptome wie Langeweile, Schadenfreude, Lust am Untergang. Lieber postheroisch Abstieg mit dem FC (Karnevalsverein!) als pseudoheroisch Champions League mit RB (Leistungszentrum!). Oder beides, wenn Bette noch mal etwas großväterlich den ewigen Iren George Best abfeiert:

Die Vorliebe einzelner Sportler für schnelle Autos, schöne Frauen, lange Haare, Glücksspiele, Alkohol und Barbesuche zu später Nachtstunde lässt sportliche Leistungen in einem anderen Licht erscheinen. Konsumatorische Präferenzen für das schöne Leben jenseits des Sports zeigen, dass Leistungsträger nicht notwendigerweise als zurückgezogene Asketen zu leben haben.

3. Fernsehen

„Heldenstatus im Spitzensport ist deshalb immer prekär und labil“, schließt Bette schön literaturtauglich seine kleine Sport-Postheroik ab. – Ein Motto, das auch Ivo gefallen könnte. Ivo ist der Held aus Tonio Schachingers Roman „Nicht wie ihr“ (Kremayr & Scheriau), über den ich mich in diesem Herbst allein schon deswegen so gefreut habe, weil erstens endlich mal ein Fußballroman auf die Buchpreis-Shortlist kam, der zweitens so offensichtlich dem schönen Ex-Werderaner Vollschnösel Marko Arnautović („Ich verdiene so viel, ich kann dein Leben kaufen“) nach empfunden wurde, dass ich ihn gleich zweimal ungelesen an Bruder und Schwager verschenkt habe (noch kein Feedback bisher). Als ich dann selbst endlich mal Zeit fand, ausführlicher reinzulesen, war das Ergebnis eher Richtung geht so. Die Wiener Milieusprache nie voll ausbeschleunigt und statt „herrlicher Fußballmetaphern“ eher Rumphilosophieren auf Sportstudio-Niveau.

Dazwischen aber auch Erkenntnisperlen über unser Leben heute zwischen Netflix und Struktur, wenn Ivos Fußballfernsehwochenende am Freitag 18:30 mit der Österreichischen 2. Liga beginnt: Dann deutsche Bundesliga, Sonnabend ab 13 Uhr Premier League und Bundesliga, abends Spanien und italienische Serie A, und „am Sonntag gibt es alles, Deutsche Bundesliga, Premier League, Österreichische Bundesliga, Primera División und Serie A, und man könnte den ganzen Tag nur fernsehen“, Montagabend dafür nur deutsche Zweite Liga, „aber das gehört zur Dramaturgie“, denn Dienstag und Mittwoch sind die beiden wichtigen Champions League-Abende, die in großer Runde geschaut werden. Und schließlich Donnerstag die Euro-League („die kleine, hässliche, teilweise aber viel spannendere Schwester der Champions League“):

Fußball ist wie eine Serie und nur, wer immer zusieht, erkennt, wenn etwas Bedeutendes passiert. Fußball ist wie Tausende verschiedener Serien. Jeder Verein ist eine Serie, jede Liga eine große Serie und Ivo spielt in der spannendsten von allen, bei Game of Thrones. In keiner anderen der großen Ligen fallen die Leute so tief und kommen so überraschend noch oben wie in der Premier League, letztes Jahr war Leicester City Meister, der Verein mit dem viertniedrigsten Budget…

Und wer schreibt dazu im nächsten Jahr den Meisterroman mit dem drittniedrigsten Budget?


Abspann

Postheroischer Fernseh-Sport und kein Trick (ich schwöre!): unsere SKY-Box rettet mich gerade damit, dass sie sonntags nach der Bundesliga keine Literatursendungen mit Denis Scheck mehr aufnimmt - "Fehler auf der Festplatte - Drücken Sie C für einen Lösungsvorschlag". Vielleicht wird ja doch noch alles gut.


KRISENBEWÄLTIGUNG UND NOTERZEUGUNG 
– Sport und Literatur

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 4 Jahre

    Krimis sind unreadable? :-) ...n a nana. ...
    Aber ok: mit den flaneurigen Sätzen über Analogien zwischen Sport und Literatur (Dramaturgie und helden) haben Sie mich dann doch noch am Lesen gehalten...

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