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Literatur

Kinderbücher 18: Häschen geht einkaufen

Kinderbücher 18: Häschen geht einkaufen

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtDienstag, 17.09.2019

In der Zeit, als man noch ins Theater ging, also in den 80er Jahren, sah ich mir am Deutschen Theater immer wieder die Inszenierungen von Alexander Lang an, der zu dieser Zeit schon im Westen war. (1987 schrieb der Spiegel dazu: 

"Nicht auszumalen, wie das westdeutsche Schauspieltheater des letzten Jahrzehnts dastünde, wenn nicht ein Zustrom von Künstlern aus der DDR immer wieder für Überraschung, Mühsal und Schärfe gesorgt hätte. Sicher, manch schwere Stunde wäre dem westlichen Theaterliebhaber erspart geblieben, manch harte, mit preußischem Ernst durchexerzierte Geschichtslektion, doch ihm wären auch viele Augenblicke heller theatralischer Intelligenz entgangen."

Das bezog sich damals u. a. auf Katharina Thalbach, Jutta Hoffmann, Angelica Domröse, Hilmar Thate, Manfred Krug, Armin Mueller-Stahl, Adolf Dresen, Manfred Karge, Matthias Langhoff, B. K. Tragelehn, Jürgen Gosch, Einar Schleef.)

Langs Inszenierungen blieben noch über Jahre im Spielplan, auch nach der Wende. Ich sah seine Inszenierung von Christoph Heins "Die wahre Geschichte des Ah Q" (mittendrin diskutierten die Schauspieler, ob sie zu Hause das Gas abgedreht hätten), Strindbergs "Totentanz" (Katja Paryla und Christian Grashof bekriegten sich in atemberaubend bedrückender Weise), Brechts "Die Rundköpfe und die Spitzköpfe", "Medea" und Goethes "Stella". Außer, daß ich wußte, daß man diese Inszenierungen gut finden mußte, gefielen sie mir tatsächlich, weil sie einen Gesamtkunstwerkcharakter hatten, und weil an ihnen etwas "Theatralisches" und "Übertriebenes" war, etwas Antirealistisches, ein Bestreben nach Abstraktion. Höhepunkt war für mich der spektakuläre "Danton", seit Jahren im Spielplan, in dem Christian Grashof Danton und Robespierre spielte und der von mir besonders geschätzte Roman Kaminski (inzwischen kennen viele nur noch seinen Sohn) in den Umbaupausen "in der Art von Keith Jarrett" am Klavier improvisierte. Vom wundervollen Deutsch in Goethes "Iphigenie auf Tauris" habe ich dagegen fast nichts verstanden, aber ich erinnere mich an das Bühnenbild, und ich bin mir ziemlich sicher, daß die Iphigenie-Statue aus Pappmaché aus dieser Inszenierung, mit Boxhandschuhen ausgestattet, seit vielen Jahren vor dem Hoolywood-Klamottenshop in der Schönhauser Allee steht.

Bühnenbilder und Plakate aller (?) dieser Lang-Inszenierungen stammten von Volker Pfüller, sein irgendwie autodidaktisch wirkender Zeichenstil war so markant, daß mir Jahre später im Laden ein Kinderbuch auffiel, das tatsächlich von Pfüller illustriert war: "Häschen geht einkaufen", mit einem gereimten Text von Wolfgang Buschmann. In meiner Ausgabe vom Beltz-Verlag stammt es von 2009, aber die Illustrationen schienen mir doch auf die DDR zu verweisen, und tatsächlich ist es schon 1990 erschienen, also "auf den letzten Drücker".

Für mich ist Kinderliteratur die literarische Königsdisziplin, hier zeigt sich, was jemand wirklich kann. Erwachsenen kann man viel vormachen. Ist es Kunst? Ist es Schrott? Bei Kinderbüchern kann man nicht tricksen. Und die schwierigste Disziplin sind Kinderreime, daran versuchen sich viele Autoren erfolglos. Die Verse von Wolfgang Buschmann sind so einprägsam, daß ich mir noch mehr Bücher von ihm besorgen werde. Häschen, das umgeben von Spielzeug (auf dem Boden liegt ein Buch "Häschen geht einkaufen") im Kinderzimmer steht, wird von seiner Mutter zum Einkaufen, also sozusagen in die Erwachsenenwelt geschickt. Draußen lauern Gefahren und man muß sich "benehmen", weil man die Erwachsenen stören könnte. Es ist alles viel schwieriger als zu Hause, die Anpassungsleistung für ein Kind ist enorm (eine Anpassungsleistung, zu der Erwachsene oft gar nicht fähig oder bereit wären, aber von den Kindern wird sie erwartet, sonst müssen sich ihre Eltern vor den anderen Eltern schämen.)

"Sprach die Hasenmutter:
Häschen, hol mir Butter!
Achte auf die Straße!
Fall nicht auf die Nase!
Grüß die Ochsen!
Grüß das Schwein!
Laß das Nasebohren sein!
Sage danke, sage bitte!
Geh nicht auf der Fahrbahnmitte!
Lass das Netz auch nirgends stehn!
Spiel nicht lang erst mit den Reh'n!
Nasch nicht von der Butter!
Merk mir alles, Mutter!"

Erst muß also eine Salve von Ausrufezeichen hingenommen werden, dann bekommt Häschen das Geldstück ausgehändigt und darf nach draußen (fröhlich schwenkt es das Netz über dem Kopf). Die Tirade von Verhaltenshinweisen erinnert an Polonius' Worte bei Laertes' Verabschiedung im "Hamlet": "Und diese Regeln präg in dein Gedächtnis …" Vielleicht wird diese Textsorte hier ja auch parodiert.

Jetzt sehen wir Häschen über das sehr grobe Kopfsteinpflaster einer Kleinstadt gehen:

"Häschen lief entlang die Straße.
Häschen fiel nicht auf die Nase."

In eine Bäckerei werden von Ochsen Mehlsäcke geschleppt, an einem Zeitungskiosk verkauft ein Schwein "Das Tierhäuschen" und das "Schweine-Echo":

"Grüßte die Ochsen.
Grüßte das Schwein.
Ließ das Nasebohren sein."

In der Kaufhalle steht Häschen mit seinem Korb an der Kasse an:

"Sagte danke, sagte bitte."

Ein Eichhörnchen auf einem Motorrad, das einen schicken Helm mit aufgemaltem Kometen trägt, fährt eine Gans um, Häschen schaut vom Bürgersteig aus zu:

"Ging nicht auf der Fahrbahnmitte."

Über einen Lattentzaun hinweg beobachtet es sehnsüchtig die Rehe beim Fußballspielen:

"Ließ das Netz auch nirgends stehn.
Spielte nicht erst mit den Reh'n."

Die Mutter ist beim Abwaschen, als Häschen fröhlich und stolz zur Tür reinkommt, es hat ja alles beachtet:

"Naschte auch nicht von der Butter.
Kam zurück zu seiner Mutter."

(Ich habe auf dem Heimweg immer gern die Kruste vom Bucher Kastenbrot "genascht", das manchmal noch warm war und phantastisch schmeckte, es wurde im "Werk Buch" gebacken. Alle paar Meter mußte ich die vielen Taschen absetzen, ich wäre nie zweimal gegangen, um nicht so schwer tragen zu müssen, wie meine Mutter es mir vorschlug.)

Auf der Rückseite des Buchs schaut Häschen uns betreten an, mit einem Glas in der Hand, und wir erfahren die Auflösung:

"Brachte nur, wie schade,
statt Butter Marmelade."

Diese Pointe ist für mich immer tröstlich, denn ich leide auch so schrecklich unter meiner Vergeßlichkeit in allen wesentlichen Dingen (und meinem Elefantengedächtnis in allen unwesentlichen Dingen). Wie oft habe ich, bildlich gesprochen, statt Butter Marmelade gebracht? "Brachte nur wie schade / statt Butter Marmelade". Dieser Vers fällt mir auch immer ein, wenn ich einkaufen war und für 100 Euro Lebensmittel die Treppen hochgeschleppt habe, aber statt eines Lobs oder irgendeiner anerkennenden Bemerkung nur zu hören bekomme: "Warum hast du denn das Müsli gekauft?" Irgendetwas habe ich immer vergessen, oder ich habe gefrorene Erdbeeren gekauft, weil es keine Himbeeren gab, die Erdbeeren essen Frau und Kinder aber nicht. Können nicht einfach alle immer das gleiche essen, oder zumindest das, was da ist? Manchmal wird auch bemängelt, daß ich die Tomaten in eine Papiertüte getan habe, statt sie lose aufs Band zu legen (Klimawandel ...) Oder der Frischkäse ist nicht der mit Kräutern. (Ein Kollege meiner Eltern bekommt sogar Ärger, wenn er genau das mitbringt, was seine Frau ihm aufgeschrieben hat, sie erwartet von ihm eigene Ideen.) Manchmal habe ich aber auch einfach zu lange gebraucht und die Kühlkette wurde unterbrochen. "Brachte nur wie schade / statt Butter Marmelade" murmele ich dann, um mich nicht auf ein Streitgespräch einzulassen, das meine Position nur schwächen würde, gerade wenn ich recht habe.

Das andere, was mich an dem Buch interessiert, ist, daß es, für heutige Leser sicher kaum zu bemerken, ein Stück DDR-Alltag archiviert, nämlich, wie es in den Kaufhallen aussah, die inzwischen in Berlin nach und nach abgerissen werden, um "Wohn-und Geschäftshäusern" in einem phantasierten, halb historisch, halb postmodern wirkenden "gediegenen Stil" Platz zu machen. Zur Wende wurde von vielen darüber philosophiert, wo denn der betörende Intershop-Geruch geblieben sei (eine Mischung aus Kaffee, Schokolade, Waschmittel, Seife, neuen Jeans). Inzwischen geht es mir auch mit dem Kaufhallengeruch so, manchmal habe ich ihn, ganz kurz, wieder in der Nase (Wirsingkohl, faulige Kartoffeln, Steinfußboden mit klebrigen Flecken von einer runtergefallenen Likörflasche). Dazu kommt das Geräusch von rasselnden und quietschenden Einkaufswagen (ein Rad klemmte immer) und brummenden Kühltruhen, das nicht von Easy-Listening-Musik oder Werbebotschaften übertönt wurde. Es war im Vergleich zu heute so unglaublich still, alle waren nur aufs Einkaufen konzentriert.

Bei "Häschen geht einkaufen" sieht man Häschen in so einer Kaufhalle, die heute vielleicht nicht für jeden als DDR-Kaufhalle zu erkennen ist. Ich sehe die grünen Plastik-Bottiche für die Milch-Tetraeder (meistens war einer ausgelaufen und sie schwammen in einer Milchlache), ich sehe die nicht gestapelten, sondern einfach in die Auslage geschütteten Butterstücke, die Sonja-Bratfettwürfel, die vielen Konservenbüchsen. Ich sehe die sehr kleinen Einkaufswagen (heute sind sie groß wie Containerschiffe, so daß man immer denkt, man müßte noch mehr kaufen, weil es so wenig aussieht), ich sehe den Obst-und-Gemüsestand, wo man ein zweites Mal anstehen muß (das erste mal schon, um einen Korb zu ergattern), weil von einer Mitarbeiterin das Gewünschte, bzw. das Vorhandene von Hand abgewogen und in eine Papiertüte getan wird, auf der "Gut gekauft, gern gekauft!" gedruckt steht, und wo es Saisonales gibt, meist Weißkohl, Radieschen, Porree, Gelber-Köstlicher-Äpfel und zähe Kuba-Orangen. Die Kassiererin (es sind nur Frauen, man sieht ihnen mit den Jahren beim Versteinern zu) tippt alles mit der Hand ein, sie legt dabei die "Ware" (wie es heute genannt wird) mit der einen Hand aus einem Korb in einen anderen (wir hatten allerdings in unserer Kaufhalle schon Laufbänder) und tippt blind und atemberaubend schnell die Preise ein, es gibt ja keinen Barcode. Und nicht zuletzt hat Häschen keine Tüte dabei, sondern eines dieser unendlich dehnbaren Einkaufsnetze (benutze ich immer noch). Das Kaufhallen-Interieur aus dem Buch hat mich schon deshalb so interessiert, weil die Kaufhalle in Berlin-Buch, die 1978 so modern gewesen ist, daß die Schlange manchmal bis draußen ging, gerade abgerissen wurde (gegenüber steht jetzt ein "Kaufland").

Auch die Küche der Häschenmutter ist eine DDR-Küche, mit Bunzlauer Bechern, die halb zur Deko am Regal hängen, mit einem Boiler über der Spüle und einem Gewürzregal, in dem eine Flasche Worcester-Sauce nicht fehlen darf. Das ist aber alles gar nicht aufdringlich ostig gemeint, sondern ganz nebenbei ins Bild geraten, inzwischen hat es für mich dokumentarischen Wert, bzw. es macht das Vorlesen interessanter, weil Kinder und Erwachsener etwas zu entdecken haben.

Ich finde die Fehlleistung des Häschens rührend und wünsche dem Buch 20 Auflagen, wie sie die furchtbar biedere "Häschenschule", die die Prügelpädagogik ihrer Zeit verniedlicht, selbst als Neuausgabe schon hatte:

"Hasenmax, der Bösewicht,
konnte heut sein Verschen nicht,
hat gepfiffen und geschwätzt,
Hasenlieschens Rock zerfetzt,
eine neue Bank zerkracht
und dabei noch laut gelacht.
In die Ecke muß er nun.
Ei, da kann er Buße tun!"

Dazu zieht ihm der Lehrer das Ohr lang. Man könnte jetzt sagen, auch "Häschen geht einkaufen" verniedliche die Zeigefingerpädagogik seiner Zeit, aber für mich wird das Häschen nicht bloßgestellt, es ist ja auch von keinen "Konsequenzen" die Rede, die Befehlskanonade der Mutter ist in ihrer Lächerlichkeit zu erkennen, man kann sich mit dem Häschen identifizieren, das Leben ist schwer, jeden Tag bekommt man Dinge gesagt, die man tun muß und jeden Tag macht man Dinge falsch, vielleicht sind Fehlleistungen ja auch ein Akt des Widerstands. Glücklich, wer Eltern hat, die dem Kind Zeit lassen und darauf vertrauen, daß Kinder kooperieren möchten, statt aus ihnen kleine Erwachsene machen zu wollen, weil sie sonst angeblich später nicht mit der Realität klarkommen.

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