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Internat

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Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelMittwoch, 18.07.2018

Mit einem Overkill ging das Sportjahr am vergangenen Wochenende in die Sommerpause, die einem ungefähr zweieinhalb Wochen Zeit für anderes gibt (bevor die zweite Liga wieder losgeht). Zum Beispiel Romane lesen, Bücher umarmen. Tatort war ein Fußballplatz in Berlin Mitte, komplett weichgekocht von zu viel Wimbledon, WM und schließlich auch noch dem eigenen Kleinfeld-Turnier der Fußballautoren (die ihren Cup, immer auf der Suche nach einer Erzählperspektive, Er-Ich-Mühsam-Pokal getauft haben) saßen wir alle gemeinsam draußen vor dem Fernseher und freuten uns über das tolle Finale (alles drin und noch ein letztes Mal angemessen melancholisch in der SZ betickert von Dirk Gieselmann) und dass es vier nach einem Gedicht als „himmlische Polizistinnen“ verkleideten Pussy-Riot-Flitzerinnen gelungen war, auf diese superlyrische Weise gegen Putin, diesen „Kermit auf Botox“ (Gieselmann), zu protestieren. Am Ende umarmten wir uns wie Macron bei der Pokalübergabe und gingen zufrieden, aber erschöpft nach Hause.

Das alles ist längst drei Tage (oder Jahre?) her, aber so habe ich jetzt endlich Zeit, über ein Buch zu schreiben, das einen endgültig aus dem schönen WM-Russland ins reale Putin-Russland zurückholt und das mir von Frank Willmann so dringend ans Herz gelegt wurde, dass es einfacher gewesen war, es sich zu besorgen, als seiner Empfehlung nicht Folge zu leisten. Frank ist alter DDR-Punk, Coach unseres Teams und unter anderem Herausgeber von Fußballfibeln. Von allen Autoren, die ich kenne, hat er seinem ebenso sonnigen wie meinungsfreudigen Wesen nach vielleicht am wenigsten Ahnung von Literatur – das allerdings auf eine Art, die natürlich selbst schon wieder hochliterarisch ist. Aus irgendeinem Grund hält sich Willmann außerdem als Herausgeber des FC-Romans für meinen Entdecker und darf das natürlich sehr gern. Genauso, wie mir Bücher empfehlen.

In diesem Fall Serhij Zhadans Roman „Internat“ (Suhrkamp, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr). Serhij Zhadan ist Jahrgang 1974, lebt in Charkiw und ist in seiner Heimat so etwas wie Popstar, Prosafürst und Politaktivist zugleich. In dem schönen Portrait „Der Dichter des Donbass“ hat Simone Brunner kürzlich Roman und Autor in der taz porträtiert:

Pascha ist 35 Jahre alt. Ein Lehrer, der Ukrainisch unterrichtet, doch als Privatmann nur Russisch spricht. Friedfertig, aber apolitisch. Als der Krieg ausbricht, fragt er sich: „Was geht mich das an?“ Paschas Devise: Bloß auf nichts festlegen, ganz gleich, welche Landesfahne gerade auf den Amtsgebäuden weht. Ein Opportunist. Doch als der Frontverlauf wechselt, liegt das Internat, in dem sein Neffe lebt, plötzlich auf der anderen Seite der Front. Pascha macht sich auf, um ihn zu holen – und eine Odyssee durch die Kriegswirren beginnt.

Zhadan ist so ganz anders als sein Romanheld. Der promovierte Philologe, der Paul Celan und Charles Bukowski ins Ukrainische übersetzte, ist ein Aktivist der ersten Stunde. Orange Revolution 2004, die pro-europäische Bewegung am Maidan zehn Jahre später. Als die Separatisten im Frühling 2014 die Amtsgebäude in Charkiw besetzen, legt sich Zhadan persönlich mit ihnen an – und wird zusammengeschlagen. Der Dichter, der blutüberströmt von Polizisten ins Krankenhaus gebracht wird – ein Bild, das durch die Medien geht.

Aber es gehört zur literarischen Tradition Zhadans, Romanhelden zu beschreiben, die anders ticken als er. Es sind die Durchschnittsmenschen, die in seinen Texten zu Wort kommen. Die unscheinbaren Normalos und Underdogs. Mit dem Roman „Internat“ wollte er aber auch verstehen, warum im Donbass so viele tatenlos zugesehen hatten, als Schützengräben ausgehoben wurden und Bomben fielen. Alles Duckmäuser und Verräter, so die Vorwürfe aus Kiew? Oder einfach nur Menschen mit einer Strategie, um in der undurchsichtigen Lage der ersten Kriegstage zu überleben?

Jetzt ist die Gefahr groß, dass man denkt, ja politische Literatur, wichtig, dass es das gibt, gut, dass das jemand übersetzt, schön, dass Suhrkamp das rausbringt und die taz dann was Engagiertes drüber schreibt. Aber dafür hab ich als Leser gerade echt keinen Kopf, weil ich selbst zu tief in meinem beschissenen Rares für Bares-Deutschlandloch stecke und mich mit Merkel, Seehofer, Zschäpe und Löw längst von der Weltpolitik verabschiedet habe, es sei denn, Trump baut mal wieder gerade „nicht“ irgendeinen Brutalbullshit.

Dir und mir, Leser, sage ich: Serhij holt uns aus diesem Loch. Denn er weiß, wie es uns geht, und er weiß aber auch, wie sich das 21. Jahrhundert an den Rändern anfühlt, wo es auch schon Instagram, Flat White und Sneaker gibt, aber immer noch Nationen und plötzlich auch Armeen, die sich gegenüberstehen: Krieg.

Pascha erinnert sich, wie er zum ersten Mal von Bewaffneten angesprochen wurde, damals, im vergangenen Frühling, als alles gerade erst begann, sie waren in der Stadt aufgetaucht, hatten die Milizreviere besetzt und die Fahnen von den öffentlichen Gebäuden gerissen, und die meisten Menschen wussten auch nicht, wie sie sich verhalten und was sie erwarten sollten. (…) Pascha erinnert sich, dass manche von ihnen, nicht die Einheimischen, sondern vor allem die Auswärtigen, sich damals so benahmen: betont zuvorkommend, immer mit einem Lächeln für die Lokalbevölkerung, Bonbons für die Kinder, ein Platz im Bus für die Älteren, anstehen wie alle anderen auch: Wir sind für euch hier, wir verteidigen euch, du wirst weiter Kinder unterrichten. Das kommt von dem Wunsch allen zu gefallen, wenn du eine Waffe in der Hand hast und nicht weißt, gegen wen du sie einsetzen musst. (…) Pascha gefiel das nicht, das weiß er noch genau: künstlich irgendwie und aufgesetzt, als spielten sie Theater. Sie sahen auch unnatürlich aus, wie Schauspieler, die das Theater kurz verlassen haben, um Zigaretten zu holen: Der frische Tarnanzug roch noch nach Lager, Piratentücher wie Strandtouristen auf der Krim, Sonnenbrillen. Alte, offensichtlich den Lokalbullen abgenommene Kalaschnikows und dazu neue weiße Turnschuhe, vielleicht erst kürzlich gekauft, möglicherweise extra für dieses Land, für diesen Krieg, Turnschuhe, in die sich noch kein Straßenstaub gefressen und die noch kein Gras befleckt hatte …

Die weißen Turnschuhe und der Krieg: eindrücklich zeigt Zhadan in seinem Roman, wie wir sofort aus der Moderne ins 20. bis 19. Jahrhundert zurückfallen. Und er macht keinen Hehl daraus, dass das weniger auf eine ästhetisch goutierbare Erfahrung kafkaesker Orientierungslosigkeit hinausläuft, sondern vielmehr ein Rückfall in die alte Realismus-Düsterkeit (Dickens, Tolstoi, Konsalik) bedeutet, zugegebenermaßen eine Hochzeit des Romans, wo unsere modernen Probleme nichts mehr zählen und weiße Turnschuhe eben nichts anderes als weiße Turnschuhe sind. Durch den schmutzigen Schnee und die Kohleofen-Kargheit dieser Welt stapft die Erzählung tapfer, aber sie wird ihr auch irgendwann im Laufe der Handlung zum Problem. Psychologie? Subtilitäten? Kann sich gerade keine mehr leisten. „Nach der Odyssee durch die einst vertraute, jetzt zerstörte Gegend ist für Pascha nichts mehr wie zuvor“, wirbt der Klappentext der deutschen Übersetzung, die im Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Aber vielleicht ist das genaue Gegenteil der Fall. Durch den Krieg wird der moderne Mensch in die alten, allzu bekannten Erzählungen seiner Großeltern zurückgebombt.

Denke ich, während ich mich daran erinnere, woher ich Serhij Zhadan eigentlich kenne: 2012 war das, und wir fuhren mit unseren sogenannten Autorennationalmannschaften (Ukraine, Polen, D.) im Vorprogramm der EM fröhlich mit dem Bus von Berlin über Krakau bis ins noch friedliche Lemberg/ Lviv, um uns bei Fußball, Literatur und Wodka auf das Prächtigste zu verstehen. Serhij war so entspannt, offen und feierselig wie alle auf dieser Fahrt. Es gibt ein kitschiges Torwart-Verbrüderungs-Foto von damals, bei dem ich befürchte:

Vielleicht sind Macrons Umarmungen alles, was uns hier im Westen noch zusammenhält. Und gleich dahinter beginnen Asyldebatten, AfD und Russische Allianzen. Treiben wir ihnen (den Umarmungen? uns?) also besser die Fakeness aus und halten die Innigkeit hoch. Mit romanleserhafter Intensität: Shalom!


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Kommentare 4
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als 5 Jahre

    Zhadan ist empfehlenswert!
    Aber: was soll denn das?
    "Rückfall in die alte Realismus-Düsterkeit (Dickens, Tolstoi, Konsalik)"
    Das ist so, als wenn man einen Himalaya-Riesen, das Matterhorn und einen Hügel gleichsetzt, weil alle drei Bodenerhebungen sind.

    1. Andreas Merkel
      Andreas Merkel · vor mehr als 5 Jahre

      Lieber Achim Engelberg,
      danke für den Kommentar - das war als Provokation genau so gemeint, wie Du es interpretiert hast. Ich finde das Buch gleichzeitig gut und wichtig und dennoch auf eine Weise - erzähltechnisch - problematisch, die man dem Autor noch nicht mal richtig vorwerfen mag. Ich hoffe, die Kolumne ist dadurch nicht zu erratisch geworden.
      Viele Grüße, Andreas M.

    2. Georg Wallwitz
      Georg Wallwitz · vor mehr als 5 Jahre

      @Andreas Merkel Keine Sorge, die Kolumne ist prachtvoll!

    3. Marcus von Jordan
      Marcus von Jordan · vor mehr als 5 Jahre

      @Georg Wallwitz tatsächlich - Buch ist schon bestellt!

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