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Literatur

Ich möchte bei einer PEGIDA-Demo Hölderlin, Tucholsky und Karl May vorlesen

Ich möchte bei einer PEGIDA-Demo Hölderlin, Tucholsky und Karl May vorlesen

Saša Stanišić
Mit slow erhitzten antiquarischen Stühlen jonglieren
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Saša StanišićDienstag, 19.01.2016

Ich möchte bei einer PEGIDA-Demo Hölderlin, Tucholsky und Karl May vorlesen und mich dabei von einem versorgten Bürger filmen lassen, ich bilde mir ein, nicht sofort auf die Fresse zu kriegen, wenn ich sage, dass ich Hölderlin, Tucholsky und Karl May lesen werde, erst später, während ich vorlese könnte das Kriegen eintreten, wobei auch dazu zu sagen wäre, dass ich gut trainiere momentan, ich jogge fast täglich entlang der traurigen, schönen, blöden deutschen Flüsse, die Rentner kriegen mich also eher nicht, mein Telefon sollen sie ruhig behalten, ich hatte eh vor, mich von dieser Geisel der Kommunikation zu trennen. 

Ich möchte bei einer PEGIDA-Demo Hölderlin, Tucholsky und Karl May lesen mit meinem nicht aus Deutschland zu vertreibenden slawischen Akzent, mein rigoroses "r" wirrd mich verrraten, dem Sprechen ist niemals zu trauen.

Ich möchte, falls die mich dann doch erwischen, hier zumindest hinterlassen die Empfehlung zur eigenen Lektüre jener Texte, sonst hat man ja nichts davon, sonst ist es bloß ein Ego-Protest gewesen, der fatal dazu geführt haben könnte, dass ich niemals die Chance bekomme, dem VW-Vorstand aus Savianos "Der Kampf geht weiter: Widerstand gegen Mafia und Korruption" vorzulesen. 

Ich würde mit Hölderlin anfangen, mit einem Auszug aus Hyperion, erst würde ich vielleicht erklären, was das ist, ein Hölderlin, ich würde sagen, 'Deutscher Dichter', das müsste schon zur Aufmerksamkeit reichen, vielleicht schiebe ich hinterher schnell noch das kleine 

"Ach! der Menge gefällt, was 

auf den Marktplatz taugt, 

Und es ehret der Knecht nur 

den Gewaltsamen."

Dann würde ich mich auf eine Kiste stellen und mir ganz arg lebhaft naiv vorstellen, mit Literatur sei ernsthaft etwas Gutes auszurichten, und ich würde Hyperions Brief an Bellarmin derart runterdursgrünbeinen, dass Dresden ins Wackeln kommen wird, wobei mir jederzeit klar sein würde, dass nach 1945 solche brachialen Bilder in Dresden absolut nichts verloren haben, und dergestalt geht das los:

"So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefaßt, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten –

Wie anders ging es mir!

Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes – das, mein Bellarmin! waren meine Tröster."

Richtig ironisch Gas geben, in Gedanken bei Maron, Safranski, Strauß, würde ich bei den Zeilen:

"Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht?"

Und so weiter, mal sehen, wie weit sie mich kommen lassen, das Ziel wäre natürlich diese Formulierung:

"Und wehe dem Fremdling, der aus Liebe wandert, und zu solchem Volke kömmt, und dreifach wehe dem, der, so wie ich, von großem Schmerz getrieben, ein Bettler meiner Art, zu solchem Volke kömmt! –"

Das "ö" bei "kömmt" würde ich in die Länge ziehen, damit der um sein Abendland verängstigte Sachse mitbekommt, dass ich einen sehr alten Text lese, einen, der älter ist als all seine privaten Kulturmärchen.  

Bei Tucholsky würde ich meinen potentiellen Kameramenschen zuerst fragen, ob er denn auch der Meinung sei, ein Anzug nach Maß sei besser als eine Gesinnung von der Stange. Die Antwort wäre mir allerdings wurst, das Wort "Gesinnung" muss ja auch erst mal intellektuell verarbeitet werden, und so viel Zeit werde ich ja nicht haben, also würde ich schnell zum Titel des vorzulesenden Werks übergehen, und der lautet 

Deutschland, Deutschland über alles. 

Das müsste alle Rezeptionsbereitschaftstüren ja sofort sperrangelweit aufreißen. 

Und um auch die Fenster zum Herzen zu öffnen, würde ich den Titel des Stücks schmettern wie Frauke Petry das Wort "Lügenpresse" – 

H E I M A T

Ich hätte Taschentücher dabei.

"... nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja-: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen. Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern? Es gibt so schöne. Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache (...)

Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt… nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das mein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt… es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“

Wenn da kein Applaus kommt, dann liegt das aber auch wirklich nur daran, dass mein Zuhörer ja mein Smartphone in der Hand hält.

Etwas später ginge es dann so weiter:

"Aus Scherz hat dieses Buch den Titel Deutschland, Deutschland über alles bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land."

Wahrscheinlich wird - wenn er noch zuhört - mein Kameramann jetzt sein skeptisches Sachsengesicht aufsetzen. Spätestens dann aber hier:

"Und nun will ich euch mal etwas sagen: Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich 'national' nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben (...) Wir sind auch noch da.

Sie reißen den Mund auf und rufen. 'Im Namen Deutschlands ... !' Sie rufen: 'Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.' Es ist nicht wahr.

Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen - wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand - nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.

Und so widerwärtig mir jene sind, die - umgekehrte Nationalisten - nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle - so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen - aber wir lieben dieses Land. (...) 

Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitsliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn 'Deutschland' gedacht wird ... wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.

Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht - unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert - die stille Liebe zu unserer Heimat."

Pathetisch, aber geil. 

Jedenfalls: Mal sehen, was dann kommt. Also, entweder losrennen, oder das Smartphone wie selbstverständlich in Empfang nehmen, schönen Abend wünschen und sich wieder unter die Leute mischen. Ich werde - vielleicht - berichten.

Ach, genau: Karl May. Da habe ich mich noch nicht ganz entschieden. Neige zu einer beliebigen fantastischen Beschreibung eines kurzen Kampfes zwischen einem Weißen und einem Indianer. Zu dieser vielleicht:

"Jetzt war er da, so nahe bei mir, daß ich ihn fast mit der Hand erreichen konnte. Er kroch an mir vorüber, langsam und lautlos, mit dem Leibe am Boden wie eine Schlange. Wer dieses Anschleichen nicht selbst versucht hat, glaubt gar nicht, welch eiserne Muskeln und stählerne Nerven dazu gehören, sich mit lang gestrecktem Körper nur auf den Spitzen der Füße und Finger über die Erde hinzuschieben. (...) Die Stelle, auf welche man die Finger setzen will, wird vorher mit den Spitzen derselben sorgfältig untersucht, ob da nichts Zerbrechliches etc. vorhanden ist. Genau auf dieselbe Stelle kommen dann im Weiterschleichen die Fußspitzen zu ruhen. (...)

Jetzt war er an mir vorüber, und nun mußte ich handeln. Ich ließ die mir hinderliche Büchse unter den Büschen liegen und kroch ihm nach; ich erreichte ihn und schnellte mich auf seinen lang gestreckten Körper. Mit der Linken sein Genick umfassend, schlug ich ihm die geballte Faust auf den Hinterkopf - er brach besinnungslos zusammen. Nun nahm ich mein Lasso vom Gürtel und schlang es ihm dergestalt um die Arme und Beine, daß er sich nicht bewegen konnte, dann trug ich ihn, nachdem ich zuvor meine Büchse geholt hatte, nach dem Feuer. Hier legte ich ihn nieder und fachte die Glut von neuem an, um sein Erwachen genau beobachten zu können."

- Johann Christian Friedrich Hölderlin: Hyperion

- Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles

- Karl May: Ein Ölbrand 

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Kommentare 6
  1. Timmy Hack
    Timmy Hack · vor 8 Jahren

    Das ist das Beste, was ich seit langem gelesen habe! Danke!

  2. Annika Reich
    Annika Reich · vor 8 Jahren

    Danke! Das würde ich jetzt am liebsten jedem vorlesen.

    1. Saša Stanišić
      Saša Stanišić · vor 8 Jahren

      Die Texte stehen online zur Verfügung!

    2. Annika Reich
      Annika Reich · vor 8 Jahren

      @Saša Stanišić Ich meinte Deinen Text, lieber Saša!

    3. Saša Stanišić
      Saša Stanišić · vor 8 Jahren

      @Annika Reich Der auch!

    4. Annika Reich
      Annika Reich · vor 8 Jahren

      @Saša Stanišić Big smile...

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