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Literatur

Grab deine Seele aus!

Grab deine Seele aus!

Jan Brandt
Schriftsteller

Geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), veröffentlichte 2011 den Roman "Gegen die Welt" und 2015 den Reisebericht "Tod in Turin". 2016 erscheint "Stadt ohne Engel – Wahre Geschichten aus Los Angeles".

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Jan BrandtDienstag, 31.05.2016

Als Soloalbum erschien, der erste Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre, und ich den Anfang las – "Gleich stehen sie vor meinem Bett. Gronkwrömmm. Das klingt nach Kieferchirurg, schwerer Eingriff, Kasse zahlt kaum was zu." –, dachte ich, das ist das Schlechteste, was je gedruckt wurde. Hingeschludert, weinerlich, arrogant, Comicsprache, Oasis. Am Schlimmsten aber war dieses völlig falsche Verständnis von Pop, das da zum Ausdruck kam. Pop als Affirmation und nicht als Kritik der bestehenden Verhältnisse, sprachlich und von der Haltung her ohne jede literarisch-subversive Kraft. Ein Pop-Roman für Popper, Anzugträger, BWL-Studenten, Söhne und Töchter aus gutem Hause. Schale Witze, unangenehmes Bescheidwissertum, auf Pointen hingeschrieben, auf Konsumierbarkeit. Das einzige Kapitel, das ich gelten ließ, war die Studentenparty: Das war so genau beobachtet, dass ich meinte, selbst dort gewesen zu sein.

Das Buch seiner anschließenden Lesereise Livealbum war so unkonkret erzählt, so voller Allgemeinplätze, dass er es auch hätte schreiben können, wenn er zu Hause geblieben wäre. Und Blackbox, sein erster und bisher einziger Sammelband von Kurzgeschichten, Protokollen und Mitschriften des Medienalltags zeigt die Grenzen dieser weichen Pop-Literatur auf. Da versuchte er zum ersten Mal Selbsterlebtes mit Fiktion zu mischen, sich zumindest ansatzweise von seinem oft auf Behauptung und Verachtung basierenden Schreiben zu lösen, über sich hinauszuwachsen - und das ging gründlich daneben. 

Trotzdem fand ich, dass er ein wichtiger Autor sei, ich fand ihn als Phänomen interessant und ich mochte die in Deutsches Theater versammelten Reportagen, die kurzen klugen journalistischen Texte. Diese Meinung aber stieß in meinem Freundeskreis auf Unverständnis. Eine Frau warf in Ermangelung von anderen Argumenten sogar ein Messer nach mir, weil sie es nicht fassen konnte, dass ich Benjamin von Stuckrad-Barre nicht mit der gleichen Entschiedenheit ablehnte wie sie. Haarscharf flog es an meinem Kopf vorbei.

Was ich nicht verstand, war, dass jemand mit seinem Talent es nicht schaffte, einen guten Roman zu schreiben, ein gewaltiges Buch, das den Maßstäben gerecht wurde, die er selbst an Kunst, Literatur, Musik anlegte: „… wenn einen Musik nicht mehr ein klein wenig überfordert, verliert sie an Kraft.“ Manche meinten, das stecke in ihm drin, er habe nur noch nicht die richtige Sprache, die richtige Form gefunden. Andere glaubten das nicht. Und irgendwann glaubte auch ich nicht mehr daran, dass es ihm gelingen würde, mich zu begeistern.

Wie es zu jenem Zeitpunkt um ihn stand, zeigte die Dokumentarfilmerin und Fotografin Herlinde Koelbl in ihrem Porträt Rausch und Ruhm aus dem Jahr 2004: Alkohol, Drogen, Bulimie, zugemüllte Wohnung, zugemüllter Verstand. Praktisch tot. Am Ende von allen abgeschrieben. Da kommt nichts mehr, dachte ich. Kam dann aber doch noch was: Irgendwann im Spätsommer 2005 schickte mir Rowohlt Was.Wir.Wissen. zu. Ein Buch voller Listen, die nur ein Kokskopf erstellt haben konnte: Der verzweifelte Versuch, Ordnung in ein ansonsten chaotisches Leben zu bringen. Bezeichnend, dass es nicht bei Kiepenheuer & Witsch, seinem Stammverlag, erschienen ist.

Und jetzt das: Panikherz, der Roman seines Lebens, könnte man sagen, wenn’s denn ein Roman wäre, ist aber sein Leben, das er da erzählt, von seiner Pastorensohnkindheit in Niedersachsen über seine Drogenexzesse in Berlin, Hamburg, Köln, Frankfurt und Zürich bis hin zur Genesung und endgültigen Erleuchtung in Kalifornien. Auf Einladung von Udo Lindenberg verbringt er im Frühjahr 2015 ein paar Wochen im legendären Hollywood-Hotel Chateau Marmont am Sunset Boulevard, trinkt Wasser, klettert aufs Dach, sitzt unter einem gigantischen Billboard und denkt über die Vergangenheit und die Gegenwart nach. Darüber, wie er zu dem geworden ist, der er jetzt ist. 

Die Beziehung zu Udo Lindenberg ist der rote Faden seiner Autobiographie: das Fantum als Jugendlicher, die Ablehnung als Kritiker, die Empathie als Freund. Abgesehen von diesen permanenten Verbrüderungsgesten, dieser hingenuschelten Intimität zwischen Udo und „Stucki“, diesen sich selbst feiernden Männerfreundschaften – Stuckrad-Barre trifft in Los Angeles Bret Easton Ellis, Thomas Gottschalk, Till Brönner usw. – ist Panikherz ein Buch mit vielen positiven Überraschungen:

Die Dichte der Darstellung, etwa wenn er das Morgengrauen über der Reeperbahn in drei zentralen Begriffen einfängt: „Wehmut, letzte Chancen, Vergeblichkeit“.

Die schonungslose Selbstentblößung als Drogenwrack: „Das Kokain ließ mich Tage und Nächte manisch herumrotieren, gegen das lästige Herzrasen goss ich Alkohol drauf, schlief irgendwann vollkommen betäubt ein, dabei half das Rohypnol, das der neue, zum Heroin ratende Dealer mir mitgebracht hatte, weil, so seine fachmännische Blickdiagnose, ich auch mal wieder runterkommen müsse, zwischendurch. Wenn ich erwachte, brauchte ich eine Weile, um einen Zusammenhang herzustellen, zwischen den durch die Gardinen hindurch sichtbaren Tageszeitindizien und der zuletzt erinnerten Tageszeit …“

Der Humor: „Ich rufe Ellis hinterher: Alles haben wir dir zu verdanken! Vorher war Böll!“

Die Sprache, Komposita wie „Fettfleckenfensterchen“, „Zwangssolidarität“, „Hilfsbesessenheit“, „Monologrepertoire“, „Cobain-Gefolgschaftsflanellhemd“, „Rahmschnitzelbehaglichkeitstrübsinn“, die lange Erklärungen überflüssig machen

L.A.: „Und je länger ich bleibe, desto klarer wird mir, dass ganz Los Angeles genauso essgestört, sportmanisch und heldenhysterisch ist wie ich, kurzum: Das ist meine Stadt.“

Trotzdem ist die hier auf 564 Seiten in Szene gesetzte Selbstzerfleischung in ihrer radikalen Negativität auch wieder nur Selbsterhöhung, Selbstbestätigung, Egofest, der eigene Untergang als großes Drama. 

Benjamin von Stuckrad-Barre, Panikherz, Kiepenheuer & Witsch, 564 Seiten, 22,99 Euro.

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Kommentare 1
  1. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor fast 8 Jahre

    Bin auch gerade fertig geworden. Das heißt schon was, denn ich hatte nicht vor, es zu Ende zu lesen. Und ja, es hat mich phasenweise genervt, es ist zu lang und handelt in allem tatsächlich immer nur vom Autor selber.
    Aber: ich liebe die Lindenberg-Story! Udo (der Panik-Doktor und die ganze Panik-Familie), der dem abgeschmierten Star völlig anlasslos die Hand reicht, ihn en-passant auf Land zieht und düdeldü einfach weitertanzt. Udo war auch mein erster Rockstar. Und ich will unbedingt glauben, dass es genau so passiert ist, wie BSS das beschreibt und dann bin ich gerührt und finde das Buch super!

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