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Literatur

Gefangen #1 Liao Yiwu

Quelle: Karl van Worm / Hong Kong Museum of History, Hongkong 2014

Gefangen #1 Liao Yiwu

Michael Kröchert
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Michael KröchertMontag, 21.11.2016
"Die Geschichte ist ein alter Mann, der hört das unaufhörliche Weinen in der Finsternis nicht."

Liao Yiwu. Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht  aus chinesischen Gefängnissen.


Auf dem Weg zu dem chinesischen Restaurant kamen wir durch die Straßen des Prenzlauer Bergs. In fast allen Wohnungen brannten Lichter und eine spezielle Stimmung ging von ihnen aus. Jedem ist klar, dass sich auch in diesen gemütlich anmutenden Welten Dramen abspielen. Dennoch hat man das Gefühl, dass ein großer Frieden über diesem Stadtteil liegt und dass es eine mehr oder weniger gute, berechenbare Welt ist, in die man geraten ist.

Als wir das chinesische Restaurant betraten, veränderte sich dieser Eindruck nicht. Die Einrichtung war etwas chaotisch. Es handelte sich nicht um ein typisch deutsch-chinesisches Restaurant. Dieses umgab genau die Aura, die nötig ist, um das lokale Publikum anzulocken. Es gilt, das Bedürfniss der Einheimischen nach einer authentischen, chinesischen Erfahrung zu befriedigen.

Ich setzte mich mit meiner Freundin an den letzten freien Tisch. Es gab einen freudigen Anlass, unser Kind war beim Babysitter. Eine Asiatin brachte die Speisekarte, wir bestellten und als die kleinen Schalen mit dem Essen kamen, wirkten sie genau so fremdartig, wie ihre Namen suggeriert hatten. Kein Bestandteil dieses Essens war meinem Gaumen oder meinen Augen vertraut. Interessant. Das war der Moment, in dem ich an das Buch von Liao Yiwu denken musste: "Für ein Lied und hundert Lieder". Ich hatte es vor drei Jahren gelesen, war allerdings nur bis zu der Stelle mit der „Speisekarte“ gekommen. Ich erzählte meiner Freundin davon, doch in ungewöhnlich verletztem Ton bat sie mich sofort damit aufzuhören. Als ich zuhause war, nahm ich das Buch in die Hand, blätterte bis zu der Stelle mit der „Speisekarte“ und las: „Zweimal gebratenes Fleisch, auf der Eisenplatte serviert: Mit Bambusnadeln wird wahllos auf den nackten Rücken des zu Bestrafenden eingestochen, tausende von Einstichen entstehen, in sie wird Salz gestreut, und das Ganze mit Heftpflaster verklebt. Wenn das Blut geronnen ist, werden die Pflaster heruntergerissen, was dann aussieht wie gebratenes Fleisch nach Sichuan-Art“


„Die Welt ist schlecht. Die Menschen sind verrückt.“

China, 1989. Liao Yiwu lebt in Fuling, wo - wie in fast allen größeren Städten des Landes - für Demokratie und Veränderung demonstriert wird. Bei Liao Yiwu, einem Underground-Dichter, handelt es sich um das genaue Gegenteil eines schüchternen, gewissenhaften Intellektuellen. Er schildert sich selbst als sturen, schwierigen, egoistischen und freiheitsliebenden Menschen, der sich zu dieser Zeit mit seinen Leidenschaften, Gewaltausbrüchen und Ambitionen als Dichter herumschlägt und im besagten Frühsommer in einer veritablen Schaffens- und Beziehungskrise steckt. „Ehrlich gesagt, bevor ich im Knast gesessen habe, hatte ich im Grunde keine Ahnung von Politik, bis heute habe ich keine nennenswerten reiferen politischen Ansichten. Ich bin Individualist, das Vagabundentum steckte mir noch im Blut (…)“

Er will von seiner schwangeren Frau weg, treibt sich herum, trauert um seine verstorbene Schwester, beobachtet die Vorgänge der Studentenbewegung aus unterschiedlichen Distanzen, verachtet den „Lärm“, den diese Revolution entfacht, bis er sich gezwungen sieht - angesichts der infamen Vorgänge auf dem Platz des himmlischen Friedens - Widerstand zu leisten. Das Gedicht „Massaker“ entsteht, das er mehr in die Welt brüllt und wirft als dass er es schreibt.

Nicht unwichtig ist der junge Kanadier und Sinologe Michael Day. Eine Schlüssel- und Identifikationsfigur für die Leser aus dem Westen. Er provoziert und beleidigt Liao Yiwu. Der Dichter soll Stellung beziehen und sich auf die Seite der Aufständischen schlagen. Yiwu liest das Gedicht „Massaker“ auf Kassette, kopiert das Tape und Michael Day verteilt es im ganzen Land. Kurz darauf dreht Liao Yiwu mit befreundeten Dichtern, Künstlern und Intellektuellen einen Film. Wir werden Zeugen wie er mit seinen Freunden auf Partys geht, wie er versucht Schauspielerinnen aufzutreiben und aufzureißen, wie er hemmungslos zecht und nächtelang diskutiert. Kein Unterschied zum Leben der Bohème in Berlin? Alle Beteiligten sind sich der Observierungen durch den alarmierten und skrupellosen Staats- und Sicherheitsapparat bewusst.

Liao Yiwus Sprache ist derb, unordentlich, rücksichtslos, eigentlich gegen sich selbst gerichtet. „,Halt‘s Maul, Michael Day´, schrie ich in das Dunkel hinein, ,mach mich nicht an, ich bin nicht der Dichter, den du in mir siehst, mir waren Massenbewegungen schon immer egal. Wenn ich der Vernichtung nicht entgehen kann, dann bringe ich mich selbst um. Aber ich lasse mich nicht von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten oder Brüderlichkeit, diesem importiertem Zeug, vernichten. Ich habe noch nicht viel Blut fließen sehen!´“ Doch wir sind mitten in einer Revolution. Unser Held muss sich neu positionieren.

„Die Morde, die dann geschahen, waren ein Wendepunkt in der Geschichte. Genau an diesem Punkt war ich gerade auf meinem Selbstzerstörungskurs angekommen, beide Kreise trafen sich hier, reiner Zufall. Ganz ohne mein Zutun musste ich plötzlich als Held herhalten, obwohl auch Helden in Panik geraten wie Ratten, die keinen Spalt finden, in dem sie sich verkriechen können.“


„Der Donner eines Lebens, in einer Stunde verklungen.“

Liao Yiwu wird am 16. März 1990 zwischen zehn und elf Uhr vormittags auf offener Straße in Chongqing verhaftete. Zur Last gelegt wird ihm die Urheberschaft der Gedichte „Massaker“ und „Requiem“, sowie der gleichnamige Film. Er kommt ins Gefängnis, steigt hinab in die Hölle, er nimmt uns mit hinab in das dunkelste Dunkel. Wir gehen mit ihm, der Weg ist schwer, zu schwer. Die Demütigungen, Erniedrigungen, Verletzungen und Vergewaltigungen, die nun folgen, sind zu hart. Die Schmerzen zu stark. Die Verhöre zu absurd. Die „Speisekarte“ entfaltet ihre volle Wirkung. Sein erster Feind - der Staat, seine Verhörbeamten und Folterknechte - rückt dezent in die zweite Reihe. In der Folge sind es seine Mitgefangenen, die sich gegenseitig foltern und Liao Yiwu massakrieren. Als politischer Gefangener wird er mit Mördern, Todeskandidaten, Wahnsinnigen und Kleinkriminellen in eine 20-qm-Zelle gesperrt.

Normalerweise verpflichtet sich der Mensch, der sich in die Rolle des Autors begibt, Erwartungen zu erfüllen, etwas zu „bieten“, etwas zu geben, möglicherweise zu „unterhalten“. Bei diesem Buch ist alles anders. Wir werden verantwortlich, wir müssen zuhören, wir beginnen, dem Autor etwas zu schulden. Etwas, das wir nicht zurückzahlen können. Es ist ein seltenes, unangenehmes Gefühl. Der Leser senkt den Kopf; wen wundert es.

Konnte man die ersten Schocks hinter sich bringen (Zweimal versucht Liao Yiwu sich umzubringen. Seine Zellenkollegen erklären ihm, wie er es hätte besser machen sollen), eröffnet sich einem ein ungetrübter Blick auf die Hölle. Und wenn wir nach zweihundert dichten, schweren Seiten im Alltag dieser Hölle angekommen und notwendigerweise abgestumpft sind, sehen wir unerhörte Blüten aus dem ekelhaften Morast aufsteigen. Blüten, die immer seltsamere, abstrusere Formen ergeben. Ein Beispiel dafür ist die Totenmesse. Da der zum Tode verurteilte Raubmörder Wang Er zurecht davon ausgeht, dass es nach seiner Erschießung in der Nähe des Gefängnisses keine Totenmesse für ihn geben wird, will er sie vor seinem Tod selbst inszenieren. Und da er das Alphatier unter den Gefangenen ist, mobilisiert er die gesamte Zelle. „Nach der Kostümprobe wurde die Trauerfeier des Genossen Wang Er um drei Uhr am Nachmittag des gleichen Tages in der Zelle 6 des Untersuchungsgefängnisses von Chongqing feierlich durchgeführt. Die Totenbahre stand in der Mitte des Kang, der frisch geschminkte Genosse Wang Er lag, vollkommen in weiß, still auf einem noch weißeren Bettlaken, ein Symbol für die Reinheit und Unbeflecktheit seines Lebens. Seinen Körper bedeckte eine aus roten Decken zusammengeflickte Fahne der kommunistischen Partei Chinas, umgeben war er von frischen Blumen aller Jahreszeiten, die man aus verschiedenartigen Pullovern zusammengeknotet hatte. Eine Reihe von Felldieben trugen schwarzen Musselin, nahmen, die Volksbefreiungsarmee nachahmend, vor dem Kang Haltung an, hielten mit beiden Händen die vorgestellten Posaunen, Trompeten und Waldhörner und stimmten, indem sie sich die Nase zuhielten, eine Trauermusik an (…) Nach Abschluss der Ansprache verlas Ji Hua als Moderator die Beileidstelegramme der wichtigsten politischen Führer aus aller Welt. Das Telegramm der früheren englischen Premierministerin Thatcher lautete: Schockiert von der Todesnachricht, die ganze Welt trauert. Der frühere amerikanische Präsident Reagan schrieb: Ein großer Stern ist untergegangen. Die Diebe des Westens betrauern über den Ozean hinweg den Tod des chinesischen Kollegen.“ - Eine absonderliche Blüte folgt auf die andere. Eine rote Spinne löst abergläubische Ekstase aus; einem der Todeskandidaten wachsen Brüste, die Milch geben; Liao Yiwu, dem Fesseln angelegt werden, verhandelt mit einem Mitgefangenen um den Preis, für den er gekratzt wird. Das Blättern in Büchern wird als Technik der Wahrsagerei angewandt. Doch nie täuscht irgendetwas darüber hinweg, wo wir uns in Wahrheit befinden.


„If winter comes, can spring be far behind?“

Ursache seiner Verhaftung sind seine Gedichte; also spielt die Literatur in diesem Buch eine tragende Rolle. Spezialisten und Professoren großer chinesischer Universitäten lesen, interpretieren, deuten und diskutieren seine Gedichte und alle anderen von ihm verfassten Werke. Liao Yiwu, der Underground-Dichter, bekommt den Eindruck, dass sie sein eigenes Werk besser kennen als er selbst. Seine Manuskripte werden vom Staat gestohlen und vernichtet. Höhepunkt ist eine Konferenz von zwanzig Spezialisten, die anberaumt wird, als es zur Gerichts-Verhandlung kommt. Es sind Sachverständige. Das Ergebnis ihrer Untersuchungen ist die Verurteilung zu vier Jahren Haft und "Umerziehung durch Arbeit".

„Nach der Darstellung der Spezialisten warst du in den frühen achtziger Jahren ein Repräsentant bourgeoiser Libertinage auf dem Gebiet der Lyrik, (…) dein Gedicht ,Massaker‘ ist das unausweichliche Resultat davon.“ Das Urteil ist endgültig. Der Ton kippt, wird dringlicher, verlorener, bis es still wird in dem Buch. Eine Stille die weit jenseits von Zynismus liegt. Im Leser breitet sich Sprachlosigkeit aus. Wir werden kalt. Wir können uns keine Illusionen mehr machen. Und erstaunlicherweise ergibt sich aus diesem Buch nicht das Bedürfnis nach einer wüsten Anklage gegen den chinesischen Staat. Es ergibt sich Kälte, Leere; Ekel vor Menschen. Vor dem Leben. Vor der Welt. - Eine allumfassende Illusionslosigkeit. Auch wenn Liao Yiwu zum Helden wird. Auch wenn er Widerstand leistet. Auch wenn er überlebt. Es ist ein kaltes, ernstes, gefährliches Gefühl.

„Elf Jahre einer Demokratiebewegung von gewaltigen Ausmaßen haben sich in Nichts aufgelöst. Eine Seifenblase. Die politischen Gefangenen bilden ein nicht gerade glorreiches Erbe der Gesellschaft und werden von der überwiegenden Mehrheit, die dafür gelobt wird, nicht zu viel nach der Politik zu fragen, abgelehnt - von den selben, die sich einmal in Massen und begeistert in die Politik der Straße gestürzt haben. Die Toten sind umsonst gestorben. Die Überlebenden leben umsonst. Wir sind Humus, wir geben den großen Bäumen, die ihren Duft überallhin verströmen, Nahrung und Hintergrund. Auf uns wird herum getrampelt, wir werden besudelt, Tränen fließen zu den Wurzeln, doch die Geschichte ist ein alter Mann, der hört das unaufhörliche Weinen in der Finsternis nicht.“


Liao Yiwu, Für ein Lied und hundert Lieder, Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen, Fischer, 2012

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