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Literatur

Die alten Schulbücher

Die alten Schulbücher

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 02.12.2016

Man macht ja Abitur, um seine Kinder später durchs Abitur zu bringen, leider hat man, wenn es soweit ist, den meisten Stoff schon vergessen und muß viel wiederholen. Ein großes Rätsel für mich ist, warum mich jetzt eigentlich fast alles interessiert, was ich damals langweilig fand, so wie ich ja auch esse, was mir damals nicht geschmeckt hat (außer Lakritze und Bitterschokolade). Weil mich heute der Stoff interessiert, den ich damals durch hormonell bedingte Unlustgefühle verpaßt habe, lese ich meine alten Schulbücher aus dem Verlag Volk und Wissen noch einmal durch. Ein bißchen Feuerzangenbowle-Überlegenheit ist natürlich auch dabei. Für Chemie Klasse 7 habe ich drei Tage gebraucht, für Physik Klasse 6 zwei Tage. Da ich heute nicht intelligenter bin als damals, sondern durch Verkalkung eher an Geisteskraft eingebüßt habe, kann irgendetwas am ganzen Projekt Schule nicht gestimmt haben. Ich glaube, ich war einfach zu jung, die Schule ist an die Schüler völlig verschenkt. Wenn ich den ganzen Unterricht aus 12 Jahren bezahlen müßte, wie heute die Kurse an der Volkshochschule, würde das, grob geschätzt, ungefähr 100000 Euro kosten, und die verbringt man mit dem Beobachten des Minutenzeigers auf der Armbanduhr! Heute wäre ich glücklich, noch einmal zur Schule gehen zu können, ich würde wahrscheinlich sogar das Schulessen aufessen, weil selber kochen viel anstrengender ist. Bei den Schulbüchern kommen natürlich Erinnerungen hoch, schließlich hat man sie ein Jahr lang angestarrt. Die Kritzeleien der vorherigen Besitzer, "Mathematik 8" hat laut Eintragung vorne im Jahr 1862 einem "Heino" gehört, dann "Nino de Angelo" dann "Franky gos the Hollywod", dann "Krümelmonster", dann im Jahr 2200 "Gruppe: Keks". Die Sphinx auf dem Foto hat einen Iro bekommen und auf der Pyramide daneben steht "Besty Boys". Hier und da ist in eine Tabelle "xy ungelöst" reingeschrieben worden und das Assoziativgesetz heißt jetzt "Assigesetz". Und diese armen Schüler hatten noch zwei Jahre vor sich bzw. die armen Lehrer mit ihnen! Dabei waren die Bücher didaktisch gut gemacht: "Physik 6" ist sehr verständlich geschrieben und übersichtlich gestaltet, der Preis betrug im Jahr 1977 2,20 Mark, also, wenn man in West umrechnet, 22 Cent. Es gibt hier und da einen dieser notorischen ideologischen Schlenker, mit denen einem fast jedes Fach verleidet wurde: "Ob die Wissenschaft und damit auch die Physik Schaden oder Nutzen bringt, das hängt aber nicht nur von dem einzelnen Wissenschaftler ab, sondern von der Gesellschaftsordnung, in der er lebt und arbeitet. Der Sieg des Sozialismus in allen Ländern wird endgültig auch dem Mißbrauch der Wissenschaft für verbrecherische Zwecke ein Ende bereiten." Damals war die Einheit für Kraft noch nicht Newton sondern Pond, was sich schon bei "Physik 7" in der Ausgabe von 1984 änderte. Brownsche Bewegung, Anomalie des Wassers, Kohäsions- und Adhäsionskraft (Eselsbrücke: Häschen), das Bolzensprengexperiment (eine Kerze erhitzt eine Stange, die einen Bolzen sprengt), das unser Lehrer damals spannender gestaltete, indem er, weil es so lange dauerte, vor dem Bolzen vorbeihuschte, einen Moment bevor das Geschoß, das ihn durchbohrt hätte, in die Wand knallte. So vieles hätte man lernen können: daß beim Quecksilberthermometer die Kapillare in der Nähe des Quecksilbergefäßes eine Verengung hat, damit die Säule beim Abkühlen abreißt und man den Wert länger ablesen kann, daß Glas eine bei Zimmertemperatur überaus zähe Flüssigkeit ist, warum man auf dem Feld eine Winterfurche zieht (Sprengwirkung des Eises), daß es nicht "kochen" heißt, sondern "sieden", daß Gewicht, anders als Masse, eine Kraft ist und sich nicht in Kilogramm mißt, sondern in Pond (bzw. Newton). Bei "Chemie 7" (das den Stoff enthält, den wir im Moment für Klasse 8 wiederholen), habe ich gestaunt, wie faszinierend dieses Fach ist, das mich von Anfang an abgestoßen hat. Es hängt eben sehr vom Lehrer ab. (Der ideologische Schlenker lautete hier: "In den kapitalistischen Staaten ist die chemische Industrie Eigentum der Konzernherren, die nach Maximalprofit streben und sich ständig auf Kosten der Wektätigen bereichern. Die Konzernherren stimmen untereinander und im Zusammenwirken mit der Regierung ab, wie die chemischen Erzeugnisse genutzt und welche Produkte in ihren Betrieben hergestellt werden. Darin liegt die Gefahr, daß chemische Erkenntnisse und Produkte von den Chemiekonzernen der kapitalistischen Staaten mißbraucht werden, zum Beispiel zur Herstellung und Anwendung von Massenvernichtungswaffen.") Bis zum Abitur habe ich nicht wirklich verstanden, was ein "mol" ist, jetzt verstehe ich nicht mehr, wieso, denn es ist ganz einfach. Daß Stickstoffflaschen zur Sicherheit rechtsherum geöffnet werden, interessant! Ich brauche dieses Wissen jetzt natürlich genausowenig wie damals, aber im Gegensatz zu damals macht es mir Spaß. Wenn ich noch einmal zur Schule gehen dürfte, würde ich einfach immer am Nachmittag die Hausaufgaben für den nächsten Tag machen (statt morgens in der S-Bahn), früh ins Bett gehen, um ausgeschlafen zu sein (statt jeden Abend um halb 12 aus dem Theater zu kommen), 3-4 Mal die Woche locker joggen gehen und abends etwas Krafttraining machen, um den Sportlehrer auszustechen, ich würde mit Vergnügen vor der Klasse singen, da das in Wirklichkeit gar nicht peinlich ist, ich würde mir in den ersten beiden Wochen des Schuljahres die neuen Bücher durchlesen, um mich danach den Details zu widmen, ich würde freiwillig ein Herbarium anlegen, weil mich Pflanzen faszinieren, statt damit am letzten Tag der Ferien zu beginnen, wo schon alles verblüht ist, ich würde immer eine Ersatztintenpatrone dabeihaben und alle Rechenaufgaben im Kopf rechnen (auch Wurzelziehen), falls die Taschenrechnerbatterie mal ausfallen sollte, ich würde in Kunst Kirschblüten aquarellieren und im Werkunterricht ein Perpetuum mobile basteln. Aber das alles würde doch nicht verhindern, daß irgendwann der letzte Schultag käme und ich aus diesem Paradies ausgestoßen würde und für den Rest meines Lebens ohne Schule klarkommen müßte. 

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Kommentare 1
  1. Leopold Ploner
    Leopold Ploner · vor mehr als 7 Jahre

    Das ist so wahr und richtig gesagt, das spricht mir aus der Seele. Leider auch wahr: "Da ich heute nicht intelligenter bin als damals ... kann irgendetwas am ganzen Projekt Schule nicht gestimmt haben."

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