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Literatur

Der Hühnergott – ein bleibendes Geschenk von Jewgeni Jewtuschenko

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnSonntag, 09.04.2017

„Was ist ein Hühnergott?“ - lautete meine Frage, wenn ich Anfang der 90er-Jahre an einem Berliner Tresen wissen wollte, aus welcher Himmelsrichtung unseres gerade frisch wiedervereinten Landes mein Trinknachbar stammte. „Weiß ich auch nicht, was ist denn das?“ bedeutete – Westen. „Na der Stein mit einem Loch drin, trägt man an ein Bändchen gebunden um den Hals“ bedeutete – Osten. Dass der kleine, vom Meereswasser ausgewaschene und idealerweise an der dünnsten Stelle perforierte Feuerstein nicht nur an der Ostseeküste vorkommt, wusste ich damals nicht. Mir genügte die Gewissheit, dass jedes DDR-Kind meiner Generation mindestens einmal im Leben an den Stränden unserer Ostsee nach einem Hühnergott gefahndet hatte.

Dank eines Freundes stieß ich letzte Woche auf den über 20 Jahre alten Artikel des Schöpfers meines „Hühnergottes“ - Thomas Reschke. Im Auftrag des Verlages Volk und Welt hatte Reschke zwei Erzählungen (Die Straße und Der Hühnergott) des 1933 in Sima/Irkutsk geborenen Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko übersetzt, die 1966 unter dem Titel "Hühnergott" erschienen. Meine Ausgabe in der 5. Auflage, die seit Jahrzehnten in meinem Bücherregal schlummerte, zeigt auf dem schwarzen Papp-Cover einen runden, durchlöcherten Stein an einem Bändchen, umgeben von weiteren Steinen, Punkten, Linien, Fischen und Blättern/Briefen vor einer Meereskulisse. Wie Thomas Reschke schreibt, übersetzte er das russische "kuriny bog" mit "Hühnergott", "es ließ sich nicht anders übersetzen". Das gleichnamige Erzählungsbändchen Jewtuschenkos erlebte in den Folgejahren Dutzende Auflagen (in Ost und West) - mit persönlichen Folgen für den Übersetzer, wie er "schmunzelnd" wahrnahm. Ein besonderer Fall und und ein besonderes Stück Literatur.

"Ein Hühnergott - das ist ein Meeressteinchen mit einem kleinen Loch. Man sagt, die Krimtartaren hätten geglaubt, daß ein solches Steinchen, mit einem Faden an die Hühnerstange gehängt, das Federvieh zu verbesserter Legetätigkeit ansporne. Daher auch der Name Hühnergott. Später kam der Glaube hinzu, ein Hühnergott bringe auch den Menschen Glück. Mir scheint, ein bißchen glaubt jeder an solche Glücksbringer: die einen mit kindlich-vertrauensseliger Offenheit, die anderen heimlich, mit mürrischer Verbissenheit.

Ich glaube heimlich daran."

Dass Reschke nicht der erste Übersetzer war, der nicht anders konnte, zeigt eine Veröffentlichung der Erzählung "Hühnergott" in der Zeit von 1963. Übertragen von René Drommert. Bei ihm klingen die ersten Sätze der 30-seitigen Erzählung so:

"Hühnergott, das ist ein Meeressteinchen mit einem kleinen Loch. Die Krim-Tataren sollen geglaubt haben, daß, wenn man durch das Loch einen Faden zieht und das Steinchen an der Hühnerstange aufhängt, die Hühner besser Eier legen. Daher nannten sie das Steinchen Hühnergott. Dann sind sie darauf gekommen, daß der Hühnergott auch den Menschen Glück bringt. Mir scheint, daß nahezu alle Menschen, wenn auch nur ein wenig, an Zeichen glauben: die einen mit kindlichschutzloser Offenheit, die anderen – heimlich, mit mürrischer Intensität.

Ich glaube heimlich."

Es erstaunt kaum, dass der namenlose Ich-Erzähler in "Der Hühnergott" einen solchen zu finden trachtet, den halben Text verbringen wir mit ihm auf der Suche. Auf dem bevölkerten Sandstrand der Krim, in entlegenen Buchten, im Strandgeröll, beim Schnorcheln in Ufernähe - vergebens. Dabei hätte er ein wenig Glück dringend nötig, er ist verliebt. Unglücklich. Um sich abzulenken, ist er auf die Krim gereist. Zwar trifft er ständig auf Frauen, die es gut mit ihm meinen, aber diese sind entweder greise oder minderjährig. Mir gefiel besonders letztere Nebenfigur, ein achtjähriges Mädchen. Jewtuschenko trifft bei ihr einen Ton, den er schon in den ersten Sätzen anklingen lassen hatte, sie begegnet der Welt mit der vertrauensseligen Offenheit der Glücksgläubigen.

"Wo gehst du jetzt hin?", fragte das Mädchen. "Nirgendwohin." "Nimm mich bitte nirgendwohin mit." "Einverstanden." Und wir gingen nirgendwohin.

Natürlich spielt der endlich aufgetauchte Hühnergott eine tragende Rolle in dieser traurigen kleinen Liebesgeschichte, und als ich das Buch des vor einer Woche verstorbenen Dichters Jewtuschenko beiseitelegte, fiel mir ein, dass tatsächlich einmal ein Proband auf meine Frage geantwortet hatte: "Ja, warte, was hat der noch geschrieben? Wo die Beeren reifen, oder?" Und ich hatte keine Ahnung, weder dass "Beerenreiche Gegenden", wie Jewtuschenkos erster Roman bei uns im Osten hieß (1984 veröffentlicht) schon 2 Jahre zuvor in der BRD erschienen war, noch dass sein Autor irgendetwas mit dem Steinchen zu tun haben könnte. Dafür musste noch einiges Wasser in die Ostsee fließen. 

Für solche unklaren Fälle hatte ich übrigens Frage Nummer 2 parat: Wie sah das Tomahawk deiner Kindheit aus, wenn ihr Indianer gespielt habt?

Der Hühnergott – ein bleibendes Geschenk von Jewgeni Jewtuschenko

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Kommentare 4
  1. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor fast 7 Jahre

    das mit dem Tomahawk reichst du aber nach oder...?

    1. Anne Hahn
      Anne Hahn · vor fast 7 Jahre

      Gerne, ist schnell erklärt: rot aus Vollplastik = Osten. Grau, Vollgummi, bastumflochten = Westen

    2. Jochen Schmidt
      Jochen Schmidt · vor fast 7 Jahre

      @Anne Hahn Ich hatte rot aus Vollplastik und habe es mit einem Schleifstein zu schärfen versucht ...

    3. Anne Hahn
      Anne Hahn · vor fast 7 Jahre

      @Jochen Schmidt stimmt, die waren immer so furchtbar ausgefranst vom kämpfen - hat es geklappt mit dem schleifen?

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