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Literatur

Der Dieb

Quelle: Für alle Länder. / Foto: Karl van Worm (2017)

Der Dieb

Michael Kröchert
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Michael KröchertSonntag, 26.11.2017

Vor ein paar Wochen hatte ich einen wichtigen Termin in Mitte. Als ich ihn hinter mir hatte, fiel mir auf, wie erleichtert ich war und wie groß meine Anspannung vorher gewesen sein musste. Ich verließ das Bürogebäude, schwang mich aufs Rad, trat in die Pedalen und fühlte mich frei. Die Sonne schien, es war noch lange nicht so kalt wie jetzt im November, und während ich beschleunigte, entschied ich, mich ein bisschen treiben zu lassen, einen anderen Weg nach Hause zu nehmen, noch einen Kaffee in einem unbekannten Café zu trinken oder etwas Ähnliches ... Bester Dinge radelte ich in Richtung Jannowitzbrücke, bis ich in der Köpenicker Straße eine Tasche auf der Straße liegen sah.

Ich bremste ab und hob sie auf. Die Tasche war etwas größer als DIN A4, aus stabilem, schwarzem Gewebe, mit breitem Reißverschluss. Sie war schwer. Ich spürte, dass etwas Wertvolles darin sein musste, und etwas in mir sagte sich noch bevor ich sie öffnete: Die Geldbündel sollte ich auf jeden Fall behalten.

Ich fuhr auf den Bürgersteig und schaute mich um. Nein, da war niemand, der mich beobachtete. Kein Besitzer kam angerannt. Dann öffnete ich den Reißverschluss. In der Tasche waren mehrere Pässe und ein ganzer Haufen Dokumente. Ich betrachtete einen der Pässe. Es war ein nigerianischer. Darin war ein Foto von einem freundlich aussehenden Mann mit rundem Gesicht.

Ich stellte mein Rad ab und schaute mich um. Derjenige, der die Tasche verloren hatte, musste jeden Moment auftauchen, das war mir klar. Andererseits erschien mir die Menge der Pässe und Dokumente, die ich bis dahin noch nicht genauer angesehen hatte, merkwürdig. Ich fuhr fünfzig Meter weiter zu einem weniger einsehbaren Ort und schaute die Tasche komplett durch. Neben fünf Pässen waren da Unmengen von Dokumenten, die einerseits vorsintflutlich wirkten, andererseits extrem wichtig. Auf einigen Dokumenten waren die Fußabdrücke von Kindern: Anscheinend tauchte man in Nigeria die Füße der Neugeborenen in schwarze Tinte und stempelte somit die Geburtsurkunde. Ich sah merkwürdige, antiquierte Stempel auf dickem Papier. Dutzende Dokumente, als seien sie aus allen Landesteilen Nigerias mühsam zusammengeklaubt. Die deutschen Aufenthaltstitel und Kinderpässe, die ebenfalls in der Tasche waren, wirkten daneben wie von einem anderen Stern: Kühl, klar, technisch, sachlich.

Ich begann, die Tasche nach der Telefonnummer des Passinhabers zu durchsuchen. Ich wollte ihm sagen, dass ich seine Dokumente und die seiner vier Kinder gefunden hätte. Aber es gab in dem ganzen Konvolut nur eine einzige Adresse: vom Einwohnermeldeamt in Aachen. Dort rief ich an. Ja, der Mann sei in Aachen gemeldet, sie könnten ihn verständigen, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. Das könne aber nur schriftlich erfolgen, weil sie auch keine Telefonnummer von ihm hätten, und es dauere natürlich einige Tage, bis die Mitteilung ankomme. „Geben sie das Ganze doch einfach beim Fundbüro ab“, sagte die Frau und wir legten auf.

Klar, das war der normale Weg, aber ich hoffte, den Mann persönlich zu informieren. Über einen Finderlohn hatte ich mir bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Gedanken gemacht. Ich hatte immer noch gute Laune und hatte vor, in ein überglückliches Gesicht schauen zu dürfen.

Ich schob mein Rad zurück zu der Stelle, wo ich die Tasche gefunden hatte und wartete ab. Weit und breit sah ich niemanden, der etwas suchte, und ich stellte mir vor, wie dieser Nigerianer irgendwo in Berlin, wohin er extra aus Aachen angereist war, bemerkte, was passiert war und daraufhin verzweifelt zusammenbrach. Merkwürdigerweise hatte ich bei dieser Vorstellung einen genauen Orte im Sinn: Das obere Gleis auf dem Hauptbahnhof. Dann stellte ich mir vor, dass er seine Frau – die Mutter seiner Kinder – informierte; aber seine Frau würde diesen Verlust der Dokumente niemals akzeptieren. Sie würde ihm sagen, dass er ohne die Dokumente nicht mehr zurückzukommen bräuchte. War das etwa nicht das gesamte bürokratische Beweismaterial für die Existenz dieser Familie? Genau aus diesem Grund würde er seine Frau natürlich nicht anrufen. Er würde sich auf die Suche machen, bis er feststellte, dass es aussichtslos war. Woraufhin er sich in irgendeiner Ecke verkroch. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn mit einer Flasche Schnaps am Humboldthafen stehen und aufs Wasser starren. Ich stellte mir vor, wie die Selbstmordgedanken ...

Stopp, sagte ich mir. Ich musste einfach zum Fundbüro gehen. Aber ich zögerte. Der Mann musste gleich auftauchen. Diese Tasche war viel zu wichtig. Man KONNTE sie gar nicht verlieren. Ich stieg auf mein Rad und fuhr langsam die Straße entlang. Hinter der nächsten Straßenecke sah ich überraschenderweise ein Haus, vor dem etliche Afrikaner standen. In diesem Moment stieg ein Mann aus einem Taxi. Er hatte drei kleine Kinder im Schlepptau. Okay. Da war er also, ich war erleichtert. Ich fuhr hin und sah, dass wir vor der nigerianischen Botschaft standen. „Entschuldigen sie. Sind sie XX, haben sie ihre Tasche mit den Pässen verloren?“ Ich schaute ihn an, aber der Mann schaute misstrauisch und drehte sich weg. Ich versuchte es auf englisch: „Excuse me. I found this bag full of passports and documents. Is it yours?“

„No.“

„What do you suggest. Should i give it to the embassy?“

Er zögerte, sein Gesichtsausdruck veränderte sich: „Thats all right. Thank you very much!“ Er schaute mich irritiert an.

Ich betrat die Botschaft, weil ich das Ganze jetzt hinter mich bringen wollte. Nachdem ich eine kleine Treppe hoch gelaufen und auf eine Klingel gedrückt hatte, wurde mir geöffnet. Wieder schaute ich in das äußerst misstrauische Gesicht eines Afrikaners.

Ich schilderte ihm mein Anliegen, dann grinste er und bat mich, ihm zu folgen. Zuerst liefen wir durch einen Raum mit hohen Decken, der so aussah als würden dort Empfänge stattfinden. Dann öffnete der Mann eine Tür. Jetzt standen wir in einem kleinen Warteraum, in dem circa dreißig Menschen dicht gedrängt warteten und mich und den Mann musterten. Es war kein gutes Gefühl, an diesem Ort zu sein. Der Mann von der Botschaft wirkte kalt und zynisch. Verstärkt wurde dieses ungute Gefühl durch die Einrichtung. Die improvisierte Rezeption in dem Empfangssaal, sah so aus, als könnte sie in jedem Moment zusammenbrechen. Auch die Schränke und die Türen zum und im Warteraum, die allesamt nachträglich eingebaut waren, wirkten undefinierbar. Hinter ihnen konnte sich Alles, hinter ihnen konnte sich aber genauso gut Nichts befinden. Alles verströmte die Aura der Improvisation, der Gleichgültigkeit und der Unberechenbarkeit.

Ich folgte dem Mann. An der gegenüberliegenden Seite des Warteraums öffnete er eine weitere Tür. Auch diese durfte offensichtlich von keinem Normalsterblichen geöffnet werden. Der Mann von der Botschaft drehte sich zu mir um und grinste mich wieder an. Wir kamen in ein enges Treppenhaus, in dem ein Mann an einem kleinen Tisch saß. Auch dieser Tisch war an einer unmöglichen Stelle platziert. Halb versperrte er den Durchgang, halb die Treppe. Der Mann blieb stehen. Erst in diesem Moment kapierte ich es. Ich begriff, was ich vor hatte, was ich hier tat. Als der Mann die Tür hinter uns schloss und ich vor dem kleinen Tisch stand, war es aber zu spät. Viel zu spät fiel mir ein, was Teju Cole über die nigerianischen Beamten geschrieben hatte ...

Der Mann grinste mich an. Ich öffnete die Tasche, holte den Pass des Familienvaters heraus und wiederholte den Satz, den ich vorne an der Tür gesagt hatte: „I found it on the street in front of the embassy.“ Der Mann öffnete den Pass, lächelte zufrieden und sagte: „I remeber this man. He was here one or two hours ago.“ Er reichte dem andern Mann den Pass, der ihn wortlos vor sich auf den Tisch legte: „Thank you very much.“

Viel wusste ich nicht über Nigeria. Ich hatte ein paar Reportagen und ein Buch von Chris Abani gelesen, doch die wesentlichen Informationen hatte ich vor einem halben Jahr aus Teju Coles Buch Jeder Tag gehört dem Dieb bekommen. Cole wurde als Sohn nigerianischer Eltern in den USA geboren, wuchs in Nigeria auf und kehrte als 17-Jähriger in die Staaten zurück. Dort und in England studierte er Kunstgeschichte und Medizin. Erfolgreich wurde er mit seinem Roman Open City. In Jeder Tag gehört dem Dieb schildert der Ich-Erzähler auf knapp hundertfünfzig Seiten im Stil eines Tagebuchs (laut Klappentext handelt es sich um ein "fiktionales" Werk) eine Reise nach Nigeria. Die erste Reise des Ich-Erzählers seitdem er das Land vor 15 Jahren in Richtung USA verlassen hat. In siebenundzwanzig kurzen Kapiteln schildert er seine Erlebnisse. Er schildert Lagos und Nigeria: Die ganze Misere. Die Verzweiflung und das Rätsel des Landes. Die Günstlingswirtschaft und die Korruption. Das Buch beginnt mit einer Szene in der nigerianischen Botschaft in NYC und der unverhohlenen Aufforderung eines Pass-Beamten an den Ich-Erzähler, ihn gefälligst zu schmieren.

Auf dem Rückweg durch die drei Räume erinnere ich mich an alles. Ich hätte einen Moment nachdenken müssen, bevor ich die Botschaft betrat. Auch dass ich ihnen nur den einen Pass gab und nicht alle, tröstet mich nicht darüber hinweg.

Wir gingen zurück durch den Warteraum und mir fiel auf, wie die Menschen lauerten. Keiner sagte ein Wort. Nur eine einzige Europäerin saß in dem Warteraum. Wir tauschten einen Blick. Aber ihre gute Laune machte mich fassungslos.

Ich fuhr über die Jannowitzbrücke, dann zur Frankfurter Allee. Ich gab die Mappe mit den restlichen Dokumenten im Fundbüro im Bürgeramt an der Schillingstraße ab. Bis auf einige Anrufe aus der nigerianischen Botschaft, „warum ich nicht alles dort abgegeben hätte“, habe ich nie wieder etwas von der Sache gehört. Ich habe also keine Ahnung, ob der Mann seiner Frau wieder unter die Augen treten kann. Vor allem hätte ich gerne erfahren, wie er die Sache sieht. Ob alles, was ich beobachtet zu haben glaubte, reine Spekulation war - beeinflusst von Teju Cole -, oder ob es seiner Sicht der Dinge entspricht. Ob er seinen Pass nur wiedersehen kann, wenn er eine nette Gebühr an den jungen Herrn in dem grauen Anzug bezahlt?


++ Jeder Tag gehört dem Dieb. Teju Cole. ++

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