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Literatur

Carrères "Limonow" oder: Eine bessere Welt durch Analsex?

Andreas Merkel

Sachbuchautor über Romane in Berlin. Letzte Veröffentlichung: "Mein Leben als Tennisroman" (Blumenbar). Kolumne "Bad Reading" im Freitag (das meinungsmedium).

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Andreas MerkelFreitag, 31.01.2020

Endlich hab ich es geschafft, Emmanuel Carrères "Limonow" zu lesen. Zum ersten Mal hörte ich von Autor und Buch, glaube ich, irgendwann Ende der Nuller Jahre (2009?), als wir von einem Sonntagsausflug abends in die Stadt zurückfuhren, auf den östlichen Einfallstraßen im Stau steckten und eine Literatursendung im Radio hörten. David Wagner empfahl einen mir bis dahin unbekannten französischen Autor, der es geschafft hatte, über einen mir bis dahin ebenfalls unbekannten russischen Skandalautor eine Biographie zu schreiben, in der er auch selbst vorkam. P. regte sich ein bisschen über David Wagners Radiostimme auf, sie fand sie etwas schnöselhaft-gelangweilt und das war Jahre, bevor ich David selbst kennenlernen durfte, der natürlich das komplette Gegenteil eines gelangweilten Schnösels ist, aber das wusste ich damals wie jetzt schon zu oft gesagt alles noch nicht, so dass ich nicht wirklich widersprechen konnte. Das von ihm in höchsten Tönen gelobte Buch klang spannend, aber ich hab es mir dann aus irgendeinem Grund trotzdem nicht besorgt.

Das änderte sich in den gerade zu Ende gegangenen Zehner Jahren: ich lernte nicht nur David Wagner, sondern auch Carrère besser kennen. Ich habe über beide schon oft und gern geschrieben, speziell über Carrère zum Beispiel hier und hier. Am besten in Erinnerung geblieben ist mir ein Interview mit ihm, das ich im September 2018 in Berlin-Mitte führen durfte und komplett vergeigte, weil ich gerade unter einer Art journalistischer Schreibblockade litt.

Im Laufe der Jahre las ich jedenfalls fast alles von Carrère, was auf Deutsch rauskam: "Das Reich Gottes", "Der Widersacher" und natürlich "Ein russischer Roman" (mit dem peinlichen Dank dafür, dass ich mir den amerikanischen Titel dieses Buchs - "My Life As A Russian Novel" - für meinen eigenen Tennisroman geklaut hätte, endete übrigens mein bisher einziges Interview mit Emmanuel). Interessanterweise aber nicht die sich ebenfalls in meinem Besitz befindlichen "Alles ist wahr", "Schneetreiben" und - "Limonow".

Letzteres lag jedoch immerhin jahrelang auf meinem Schreibtisch rum, weil so ziemlich alle Freunde, die meine Carrère-Begeisterung teilen, regelmäßig vom Glauben abfielen: Was, das hast du noch nicht gelesen? Fucking unfassbar, das musst du lesen! Aber irgendwas an den ersten Seiten (Carrère kommt nach Moskau, um über den Mord an Anna Politkowskaja zu berichten und trifft Limonow wieder, den er aus Paris flüchtig kennt und der aber sofort seinen Namen weiß) warf mich bisher jedes Mal wieder raus.

Bis jetzt: ich überwand, was auch immer mich bisher an diesen eigentlich gar nicht so schlechten ersten Seiten gestört hatte, und komme diesmal sofort rein. "Ich lebe in einem ruhigen, abweisenden Land, das soziale Mobilität nur begrenzt zulässt", schreibt Carrère, der französische Kulturbürger:

Limonow dagegen war ein Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds, Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt, in diesem heillosen Chaos des Postkommunismus, ist er der alte, charismatische Chef einer Partei von jugendlichen Desperados.

Und ich erliege ziemlich bald Carrères Begeisterung über den Erzählwert dieses "romanhaften, gefährlichen" (also auch schwachsinnigen) Lebens. Lieblingsstellen sind Limonows lebenslanger Beef mit dem Dichter-Gegner Jospeh Brodsky, der aus ähnlich harten Verhältnissen stammt und den der neidische Eduard trotzdem als privilegiertes, top-protegiertes Weichei empfindet. Und gegen den er erst spät zu triumphieren meint, als Brodsky längst den Nobelpreis gewonnen hat und zur Strafe aber irgendwann nur noch dekant-elegische Gedichte über Venedig (Limonow hämisch: "Venedig!") zustande bringt, während Limonow sich im Zenit seines literarischen und politischen Schaffens wähnt.

Aktuelle Bezüge stellten sich außerdem immer wieder ein: etwa, wenn im Balkankrieg die Position der Serben vertreten wird (Handke!) oder Limonow seinen Hass auf die High-Tech-Kriege der feigen "rosagesichtigen" Amerikaner durchblicken lässt (Trump lässt Soleimani per Drohne kaltmachen). Und natürlich ist es auch ein großes Russland-Versteher-Buch, wenn beispielsweise die Person Putin psychologisch aus der biografischen Nähe zum Nazboly Limonow erklärt wird - wie down & out der spätere Autokrat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Taxifahrer in St. Petersburg durchschlagen musste.

Zwischendurch retten Carrère allerdings oft nur seine Skrupel und Selbstreflektionen, wenn er dem Vitalismus seines Protagonisten mit zu großer Lust am politisch Unkorrekten folgt. Speziell, wenn es um Sex geht, wo er - wie Julian Barnes in seiner unten verlinkten Guardian-Rezension zurecht kritisiert - Limonow alles zu glauben scheint. Vor allem Analsex spielt immer wieder eine wichtige Rolle. Zum Beispiel als er das erste Mal Solschenizyn im amerikanischen Fernsehen sieht, während er gerade "seine Freundin in den Arsch fickt". Oder es als oberstes Gebot wahrer Männlichkeit preist, sich einmal einmal im Leben in den Arsch ficken zu lassen und einen Mann zu töten...

Spätestens hier möchte man gern noch mal auf den schwulen Modemacher, risikobereiten Autorenfilmer und rosagesichtigen Amerikaner Tom Ford verweisen, der sich in einer großartigen GQ-Story von Taffy Brodesser-Akner nur scheinbar ähnlich, weil mit ganz anderem Fazit zu Wort meldete:

So he says this next thing, and it doesn’t come off as lascivious, the way it might have years ago, but thoughtful and aware: Yes, he says, all men should be penetrated at some point. And not as in emotions. He means: All men should be fucked. “I think it would help them understand women,” he argues. “It’s such a vulnerable position to be in, and it’s such a passive position to be in. And there’s such an invasion, in a way, that even if it’s consensual, it’s just very personal. And I think there’s a psyche that happens because of it that makes you understand and appreciate what women go through their whole life, because it’s not just sexual, it’s a complete setup of the way the world works, that one sex has the ability to literally—and is expected to and is wanted to—but also there’s an invasion. And I think that that’s something most men do not understand at all."

Ansonsten: super Buch, David!


Carrères "Limonow" oder: Eine bessere Welt durch Analsex?

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Kommentare 1
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor 4 Jahren

    das hiesige Pendant zum Daumen hoch hier eigentlich nicht wegen Barnes Text sondern wegen des herrlichen teasernden Ankündigungskommentars. limonow. carreres. merkel. cool.

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