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Literatur

Betonsilos und Ozeandampfer

Betonsilos und Ozeandampfer

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 14.07.2017

Als ich den Winter 2003/2004 in Sarajevo verbringen durfte, fielen mir dort an einigen Häusern runde, auskragende (das Wort kannte ich damals noch nicht, und Architektursprache schüchtert mich immer noch ein) Balkons auf. Den Anblick einer Häuserecke mit mehreren solcher Balkons übereinander fand ich sehr reizvoll und ungewöhnlich. Ich stellte bei Facebook die Frage, wie man diese Bauform nenne und woher sie stamme und jemand wies mich auf ganz ähnliche Balkons in Berlin hin. Später sah ich sie immer wieder, erstaunlich oft auf dem Balkan, in Städten wie Sofia oder Bukarest, die in den 30er und 40er Jahren stark gewachsen sind. Das hatte sicher irgendwie mit Bauhaus zu tun. Aber wer hatte zuerst so gebaut? Nicht einmal meine Architektenfreunde konnten mir helfen. Wieder einmal bedauerte ich, nicht Architekturgeschichte studiert zu haben. In Robert Venturis Buch "Lernen von Las Vegas" fand ich dann despektierliche Bemerkungen darüber, daß Gropius seine innovativen Fensterbänder dem Industriebau abgeguckt habe und Le Corbusier seine kargen, geometrischen Fassaden dem Schiffbau und den Formen amerikanischer Silos. Nun habe ich mir Le Corbusiers erstes Buch "Ausblick auf eine Architektur" besorgt und konnte das Rätsel tatsächlich lösen. Das Buch enthält eine Reihe von Aufsätzen, die 1920-1923 für die Zeitschrift "Esprit Nouveau" geschrieben wurden. Die Texte sind reich bebildert, mit Freude an Provokation und Dissonanzen. Le Corbusier schreibt im damals angesagten Manifest-Stil, also herausfordernd und apodiktisch, mit Beweisen für seine Thesen gibt er sich nicht ab. Aber er formuliert so radikal und leidenschaftlich, daß es begeistert, selbst, wenn vieles, womit er die Gesellschaft beglücken will, sich in der Praxis nicht bewährt hat. Es ist aber immer eine Freude, wenn Architekten auf hohem Niveau über Architektur nachdenken. Das klingt dann z.B. so:

"Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden."

"Das Haus ist eine Wohnmaschine."

"Baukunst lebt im Telefonapparat wie im Parthenon."

"Baukunst ist Typenbildung."

"Das große Unternehmen ist heute ein gesunder und moralischer Organismus."

"Geht in die alten Schlösser und seht euch den schlechten Geschmack der großen Könige an."

"Fordert Vacuumreinigung."

"Wenn man eine Fabrik einrichtet, kauft man das notwendige Werkzeug; wenn man heiratet, mietet man sich blödsinnige Wohnungen."

"Mietet Wohnungen, die etwas kleiner als die sind, an welche euch eure Eltern gewöhnt haben. Bedenkt die Ersparnis an Bewegungen, an Anordnungen und Gedanken."

Um zu zeigen, wie sehr Haus- und Wohnungsbau in seiner Zeit der technologischen Entwicklung hinterherhinken, präsentiert Le Corbusier Bilder von Automobilen, Silos und Ozeandampfern (runde Balkons!), die für ihn gestalterische Höchstleistungen darstellen. "Während sich die Geschichte der Architektur auf der Suche nach Abwandlungsmöglichkeiten des Baugefüges und des Dekors nur langsam im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat, haben Eisen und Eisenbeton innerhalb von nur fünfzig Jahren Errungenschaften gezeitigt, die eine große Beherrschung der Konstruktion und eine alle Gesetze umstürzende neue Baukunst ankündigen." Diese Industrieerzeugnisse sind die logische Antwort auf ein jeweils richtig gestelltes Problem, die Frage nach irgendeinem Stil stellt sich gar nicht mehr. Warum baue man Wohnungen nicht genauso, indem man das Problem richtig stelle und dann logisch vorgehe? Le Corbusier fordert, daß man dem Kostengesetz auch beim Bauen folgt und Typisierung betreibt, um günstiger und schneller zu bauen und allen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, andernfalls drohe die Gesellschaft auseinanderzufallen. Siedlungen und Städte müßten in Zukunft geplant werden. "Eine serienmäßig angelegte Siedlung von guter Anordnung würde einen Eindruck von Ruhe, Ordnung und Sauberkeit auslösen und ihren Bewohnern unweigerlich Disziplin beibringen." Eine der Behauptungen, die sich ganz bestimmt nicht bestätigt haben. Dennoch ist es aufschlußreich zu lesen, daß der Traum von einem planmäßigen Städtebau, der möglich wäre, wenn die Gesellschaft frei über Grund und Boden verfügen würde, so daß jede Familie ein kostengünstiges, gut gestaltetes, vernünftig dimensioniertes Haus haben kann, keine sozialistische Utopie war.

Wenn ich das richtig verstehe, schwankt Le Corbusier etwas zwischen der Behauptung, Schönheit folge direkt aus Berechnung und dem Gedanken, daß es eben doch etwas anderes, eher Ungreifbares ist, was uns an Gebäuden anrührt, wozu man wieder einen Architekten braucht. Was ja auch auf seine Gebäude zutrifft, die, obwohl er sich von Stil in der Architektur theoretisch verabschiedet, unverwechselbar und großartig aussehen. Andererseits gehe die (geometrische) Form ganz logisch aus Berechnungen hervor: "Sobald man jedoch von der Leidenschaft der Berechnung erfaßt wird, befindet man sich in einem Zustand reiner Geistigkeit, und in diesem Zustand schlägt der Geschmack sichere Bahnen ein." Dennoch soll Konstruktion nicht Architektur ersetzen. "Die reine Konstruktion gewährleistet die STABILITÄT; die Architektur ist da, um uns zu ERGREIFEN. Die Architektur ergreift, wenn das Werk einer Stimmgabel gleich die Musik des Weltalls anschlägt, dessen Gesetze wir anerkennen und bewundern." Laut le Corbusier müßten "von Rechts wegen die schönsten Bezirke unserer Städte die Fabrikviertel sein, denn bei ihnen resultieren die Gründe für Größe und Stil – eine Frage der Geometrie – direkt aus der Problemstellung selbst."

Le Corbusier argumentiert mit Bildern riesiger Getreidesilos und Elevatoren aus den USA und Kanada, um zu belegen, wie sehr die Architektur hinterherhinkt und wieviel großartiger das ist, was von Ingenieuren geschaffen wurde: "Man sehe sich die Silos und Fabriken aus Amerika an, prachtvolle ERSTGEBURTEN der neuen Zeit. DIE AMERIKANISCHEN INGENIEURE ZERMALMEN MIT IHREN BERECHNUNGEN DIE STERBENDE ARCHITEKTUR UNTER SICH." Mich haben solche Silos mit ihren geometrisch strengen, brutalistisch-erhabenen Zylinderformen, die oft enigmatisch als Solitäre in flacher Felderlandschaft stehen, auch immer fasziniert. Man traut sich ja kaum, das zuzugeben. Zum Haus umgebaut, würde ich so einen Silo gerne beziehen. Bei Le Corbusier spürt man die körperliche Ergriffenheit vor diesen Formen. Wenn man sie nicht selbst empfindet, wird man sie brutal nennen oder dem menschlichen Maß fremd. Dabei ist die Leidenschaft dafür ja auch menschlich.

Heute ist vieles normal, worum damals leidenschaftlich gekämpft wurde. Eine Fülle neuer Materialien hat sich durchgesetzt (Le Corbusier begeistert sich noch für Asbestzement), Stahlträgerkonstruktionen erlauben freien Grundriß durch nichttragende, vielleicht sogar verschiebbare Wände (und eben auskragende Geschosse und Balkone), Fensterbänder aus dem Industriebau, Klappfenster, "Vacuumreinigung", Sichtbetonwände, die nicht durch Fenster oder Türen zerlöchert werden, Flachdächer mit Sonnenterrasse (oder sogar Autoteststrecken, wie bei den Fiat-Werken in Turin), Häuser auf Betonstützen, der Mut zum rechten Winkel. Vieles davon hat mit Le Corbusier zu tun. Es ist faszinierend, wie er selbst darüber schreibt. Und nur, wenn man ihn wirklich liest, stolpert man auch über solche kuriosen Verstiegenheiten: "Andererseits verlangt der schöpferische Mensch, der Mensch der Tat und des Denkens, der Elitemensch, nach einem heiteren und abgeschlossenen Raum, um sich in Ruhe in seine Arbeit versenken zu können; die Lösung dieses Problems ist für die Gesundheit der Elite unerläßlich." Dann mach dich mal an die Lösung dieses Problems, Gesellschaft, ich hätte gerne einen heiteren und abgeschlossenen Raum, um mich in meine Arbeit zu versenken.

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Kommentare 1
  1. Ingrid Goldenstein
    Ingrid Goldenstein · vor mehr als 6 Jahre

    Balkons?
    Interessanter Artikel, auch wenn ich mich noch nie mit Architektur und auskragenden Balkonen beschäftigt habe.

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