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Literatur

Begrabt mich an der Biegung des Goethe

Felix Lorenz

Schreibt hier über Literatur und Literaturähnliches.

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Felix LorenzMittwoch, 18.01.2017

Die Literaturgeschichte ist keine leicht zu kartographierende Landschaft. In der Schulgermanistik ist man traditionell darum bemüht, sie in eine Ordnung zu bringen, indem man sie in Epochen gliedert, die wie Kontinentalplatten gegeneinander drücken und sich überlappen. Das bringt die Literaturgeschichte in eine halbwegs ansehnliche zeitliche Abfolge. Aber leider ist die Epoche eine Mischform aus ganz verschiedenen Kategorien. Da stehen zeitgenössische Begriffe (Aufklärung) neben nachträglich eingeführten (Sturm und Drang), Fremd- (Biedermeier) neben Eigenbezeichnungen (Surrealismus, Romantik) und abwertende (Dekadenz) neben aufwertenden (Weimarer Klassik, Klassische Moderne). Es gibt politisch-historische (Vormärz, Exilliteratur), programmatische (Naturalismus) und ästhetische Kriterien (Jugendstil), aber auch die schiere Zeit (Fin de siècle, “Gegenwartsliteratur”) muss als Markierung herhalten und es gibt Angelegenheiten, aus denen man sich nie so ganz einen Reim machen kann (Innere Emigration).

Fast nichts davon ist falsch, aber der Versuch, so unterschiedliche Kategorien in ein umfassendes historisches Modell zu packen, kann eigentlich nur schief gehen. Schnell gibt es die Verführung, die Geschichte ansehnlicher zu machen, als sie ist. Aus der zeitlichen Abfolge werden Kausalketten, aus den Kausalketten historische Notwendigkeiten. Dinge fangen an, miteinander zu reden, ohne dass sie jemals etwas davon gewusst hätten. Die Darstellung in distinkten, sich abwechselnden Epochen kann Rezeptionswege unkenntlich machen und die geteilte Lektüreerfahrung – der gemeinsame Bezug auf den literarischen Kanon – vergessen lassen.

Direkt erfrischend wirkt da Cäsar Flaischlens “Graphische Litteratur-Tafel” aus dem Jahr 1890, die von weltliteratur.net digitalisiert wurde. Flaischlen zeichnet die deutsche Literaturgeschichte als großen, langen Fluss, den er bis zu seinen ersten schriftlichen Quellen ins 8. Jahrhundert zurückverfolgt. Anfangs noch dünn, kommen flussabwärts, über die Jahrhunderte, immer mehr Zuflüsse aus anderen Literatursprachen hinzu, und der Fluss wird zu einem breiten Strom. Es heißt, der Teufel steckt im Detail. Bei dieser Karte steckt im Detail eher die Drolligkeit des Historischen. Der blaue Shakespeare mündet Ende des 18. Jahrhunderts ein und bringt Neues im Drama zu Lessing, zu Schiller und zu anderen, bis sein Blau langsam schwächer wird und das Wasser, das er brachte, vom übrigen nicht mehr zu unterscheiden ist.

Es ist ein bisschen wie beim Encontro das Águas in der Nähe von Manaus, wo der Rio Negro in den Rio Solimões fließt. Der schwarze Fluss kommt zum weißen, einige Kilometer fließen die beiden Wasser nebeneinander und man kann noch ihren Unterschied erkennen, doch irgendwann kann sich keiner der beiden mehr vor der Farbvermischung wehren, das Wasser wird braun-grau, und heraus kommt: der Amazonas.

Flaischlens Karte ist, bei allen Differenzen, die man mit einem Objekt aus dem späten 19. Jahrhundert haben kann, ziemlich akkurat. Fast möchte man an der Stelle, an der die Zeichnung endet, einfach weitermachen. Man könnte zeigen, wie Joyce am Kartenrand entspringt, anfangs ein kleines grünes Bächlein, das nach und nach breiter wird, dann erst zufließt und auf seinem Wasser zunächst Döblin und später Arno Schmidt treiben lässt, bis sein Einfluss immer schwächer wird und irgendwann kaum noch zu erkennen ist. Man könnte die Karte auch bis heute fortsetzen und zeigen, wie aus vielen kleinen Zuflüssen – J.D. Salinger, die Beat Generation, Bret Easton Ellis und Andy Warhol – das entstand, was Ende der 90er Popliteratur genannt wurde (und mittlerweile auch schon wieder historisch geworden ist).

Und was so eine Karte erst für Möglichkeiten bietet, um Einflussängste darzustellen: Es war einmal ein Thomas Bernhard, der saß in seinem Boot, trieb auf dem Fluss und schimpfte lang und kräftig über Adalbert Stifter. Aber es half ihm nichts, überall um ihn herum trieb etwas von seinem verhassten Ahnen, Welle um Welle überspülte ihn und er konnte nichts tun als weiter zu schimpfen und weiter zu schimpfen.

Flaischlen ist nicht der einzige, der Ende des 19. Jahrhunderts Ströme zur Veranschaulichung von historischen Abläufen gezeichnet hat. (Zur politischen Geschichte der USA gibt es z. B. diese Karte aus dem Jahr 1893.) Trotzdem hat sich diese Art der Informationsaufbereitung nicht durchsetzen können, vielleicht weil in der Größe der Darstellung die einzelnen Details unterzugehen drohen. Aber ganz gleich, ob man sich für die Feinheiten der literarischen Einflussnahme interessiert: Schön anzuschauen ist das Ding allemal.

Begrabt mich an der Biegung des Goethe

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Kommentare 2
  1. Fabian Goldmann
    Fabian Goldmann · vor 7 Jahren

    Uiuiui. Schon dein Piq-Text wäre es wert, gepiqd zu werten. Und die Karte ist auch nicht schlecht.

  2. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor 7 Jahren

    Großartig! Tolles Fundstück, toller Text - danke für diese wunderbare Premiere!

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