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Literatur

Außer sich, außer mir: Sasha Marianna Salzmanns Debüt

Außer sich, außer mir: Sasha Marianna Salzmanns Debüt

Lena Gorelik
Autorin
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Lena GorelikFreitag, 13.10.2017

Ich bin verliebt. Erst bin ich in Ali verliebt, dann in Onkel Cemal, später in Anton, in Istanbul sowieso, ich bin in die Sprache von Sasha Marianna Salzmann verliebt, und in einzelne Sätze, ich bin in jeden für sich und all das verliebt, was zusammen mehr ergibt als eine Geschichte. Ich bin niemand, der sich schnell verliebt, und von Berufswegen ein kritischer Leser, aber nur so lässt sich dieser Roman lesen: Mit klopfendem Herzen.

Dass man nicht weiß, wo man beginnt, den Debütroman von Sasha Marianna Salzmann zu erzählen, bei welcher Geschichte, in welchem Land, bei welchem Familienzweig, ist vielleicht genau die Frage, die die Autorin in ihrem Geschichtensog stellt: Wo beginnen wir, und wie werden wir, die wir sind, während wir verzweifelt versuchen, nicht das zu werden, was unsere Eltern und Großeltern einmal waren. Wir sind, aber wir sind weil, und das Weil ist groß, es ist größer, als wir das manchmal wahrhaben wollen. Das Weil sind unsere Vorfahren, unsere Familien, die gelebt, gelitten, geliebt, gezankt, gefürchtet, gelacht, gefühlt haben. Das Weil ist, woran wir uns tagtäglich abarbeiten, indem wir uns entweder damit permanent auseinandersetzen oder uns davon zu distanzieren versuchen, und die Mitte dazwischen nicht treffen, eben: Weil.

Ali und Anton, die Zwillinge, die im Zentrum dieses Romans mehr fallen als stehen, kommen als Kinder mit ihrer halbjüdischen Familie aus der Sowjetunion nach Deutschland, so wie es auch die Autorin tut, was nur deshalb erwähnenswert ist, weil sie das Wissen um dieses Land, das tatsächliche, und jenes, das aus Ahnungen und Andeutungen besteht, so virtuos und selbstbewusst in ihren Roman einflechtet. Sie kommen als Kinder, und sie werden groß, in einer zerrütteten Familie, in zerrütteten Verhältnissen, zerrüttet selbst, da sind sie noch Kinder auf dem Schulhof, die von anderen Kindern gemobbt werden. Eines Tages ist die Zerrüttung so groß, dass Anton verschwindet - warum genau jetzt, wo die Dinge doch niemals gut gewesen zu sein scheinen, erfährt man nicht - und nur einmal eine leere Postkarte aus Istanbul schickt. Also macht sich Ali auf den Weg, ihren Bruder zu suchen, in dieser pulsierenden, glitzernden Millionenstadt, in der sie nur einen kennt: Onkel Cemal, den Onkel ihres Mitbewohners. Hier beginnt der Roman, aber das ist das Besondere an dieser Geschichte: Er könnte genauso gut hier enden. Oder das könnte die Mitte sein, wie Ali bei Onkel Cemal auf dem wanzenverseuchten Sofa liegt und Cay trinkt, wie sie ziellos durch die Straßen streift, wie sie Katho begegnet, in den/die sie sich vielleicht verliebt und vielleicht auch nicht. All das kann von großer Bedeutung sein, oder ein kurzer Augenblick, der vom Vergehen des Lebens zeugt.

Während Ali durch die dreckigen, lärmenden, vor Leben strotzenden Straßen Istanbuls streift, streifen ihre Gedanken und Erinnerungen, die keine sein können, weil sie das alles nicht miterlebt haben, durch die Geschichten ihrer Familie, ihrer Eltern, ihrer Großeltern, Urgroßeltern. Wer hat wie wen getroffen, warum geliebt und meistens nicht geliebt, wie den Krieg, das Leben überlebt. Eine dieser Geschichten, könne man nörgeln, in der dem Protagonisten etwas zustoßen muss, damit er sich an seine Wurzeln erinnert, noch jemand, der in seine Vergangenheit reist, um sich selbst im Heute zu finden. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sasha Marianna Salzmann hat die Gabe, Welten zu erschaffen, die für sich stehen: Alis Leben in Berlin, ihr Nicht-Leben in Istanbul, die Zwillinge in der Sowjetunion, ihre Eltern am Rande von Moskau, Katho in der Ukraine und so weiter, dass man vergisst, dass die Geschichten Teil sind von etwas. So sehr taucht man in Orte, Jahrzehnte, Gefühle ein, dass es ist, als würde Sasha Marianna Salzmann einem mehrere Bücher in einem schenken: Jedes Mal, wenn der Roman zwischen den Familienzweigen springt, ist da diese kleine, aber wundervolle Enttäuschung eines großen Leseerlebnisses im Bauch: Was, schon vorbei?

Wichtige gesellschaftliche Fragen wirft die Autorin mit einer Selbstverständlichkeit auf, dass man die umständlich geführten Debatten darüber nur noch lächerlich finden kann. Ali ist ein Mädchen, Anton ist ein Junge, so beginnt es, als die beiden auf die Welt gepresst werden, aber als der Roman endet, der Roman, nicht seine Geschichte, ist Ali ein Mann, vielleicht. Auch das ist eine Stärke des Romans, dass alle Vielleichts als solche stehen gelassen werden dürfen.

Sasha Marianna Salzmanns Sprache ist wie ein Sog, sie reiht Sätze, und Nebensätze und angehängte Satzfetzen aneinander, ohne außer Atem zu kommen. Das liegt vielleicht daran, dass sie jedem Detail, jedem Gefühl ihren Raum, ihr Bild, ihre eigene Beschreibung gibt: Nichts an diesem Roman ist dahin gerotzt, und nichts angestrengt, das ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen. (Aber wie gesagt, ich bin ja auch verliebt.) Manches wiederum fasst sie so deutlich und schleifenlos in Worte, dass es kurz schmerzt. Zum Beispiel, wenn Alis Mutter die angewiderte Tochter, die sie nach Monaten endlich zu Gesicht bekommt, fragt, worüber sie reden sollen, und Ali nicht antwortet, aber denkt: „Über das Bedürfnis nach menschlicher Nähe und wohin man damit soll. Über das Verfärben von Zähnen durch Zigaretten und schwarzen Tee, darüber, warum du noch nicht ausgezogen bist aus diesem Museum hier, brauchst du das, diesen Mief, statt neue Möbel zu kaufen und über alte Brandlöcher zu stellen, alles verbrennen, die Klamotten verschenken, von mir aus ans Rote Kreuz, in eine andere Stadt ziehen, zu mir ziehen, nein, bitte nicht zu mir ziehen, aber auch nicht weit weg, mit mir deinen Sohn suchen, aber nicht darüber sprechen.“

Sasha Marianna Salzmann hat einen Roman geschrieben, der so ist wie sein Titel: "Außer sich". Die Sprache treibt den Leser wie außer Atem, die Autorin hängt Sätze, Themen, Geschichten, Menschen, Jahrhunderte aneinander, als sei sie außer sich, sie springt hinein und tritt wieder heraus, in Gefühle, Gedankenschlangen und die ganz großen Fragen, aber sie bewahrt die notwendige Distanz zu all dem, die sie braucht, um Klischees oder Mitleid zu meiden, genau so: Außer sich. 

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Kommentare 1
  1. Annika Reich
    Annika Reich · vor mehr als 6 Jahre

    Jetzt lese ich es SOFORT.

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