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Literatur

Auf dem Fahrrad nach Saratov

Quelle: (c) Christoph D. Brumme "Auf einem blauen Elefanten"

Auf dem Fahrrad nach Saratov

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtFreitag, 19.05.2017

Vor ein paar Jahren fiel mir auf einem Grabbeltisch der Wohlthat'schen Buchhandlung „Auf einem blauen Elefanten — 8353 Kilometer mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück" von Christoph D. Brumme in die Hände. Ich kaufte das Buch sofort, weil es einen bemerkenswerten Bildteil enthielt, eine Sammlung von Farbaufnahmen ukrainischer und russischer mosaikgeschmückter Buswartehäuschen. Jahre später gab es einen Bildband-Bestseller über die Formen- und Motivvielfalt sowjetischer Buswartehäuschen, der Ruhm für ihre Entdeckung gebührt aber Brumme (er mahnt für sie sogar UNESCO-Schutz an). Wahrscheinlich beträgt die durchschnittliche Wartezeit, bis ich ein gekauftes Buch tatsächlich auch lese bei mir inzwischen zehn Jahre, jedenfalls habe ich es nun endlich getan und der Moment könnte nicht passender sein. Der Sommer kommt, und wenn man keine Kinder hätte, kein Yogakurs-Abo und keine Rezensionen schreiben müsste, könnte das Abenteuer sofort beginnen: untrainiert aufs Fahrrad steigen und in drei Monaten über 8000 Kilometer an die Wolga und zurück fahren. Genau das hat Brumme 2007 getan (und seitdem immer wieder), und er hat unterwegs Tagebuch geführt (um nicht ständig anhalten zu müssen, hat er sich ein Diktiergerät um den Hals gehängt). Unterwegs hat er die Bushäuschenkunst entdeckt und ist sogar einmal Mosaikmacherinnen begegnet, die ihr Handwerk immer noch ausüben. Wenn man diese Bauwerke mit unseren eintönigen Zweckbauten vergleicht, ist man sofort beim Thema. Die mit einfachsten Typenelementen konstruktivistisch, futuristisch oder historisierend-verspielt gestalteten, vom Wetter gebeutelten Ostmodelle mit ihrem kindlichen Charme oder ihrem Agitprop-Appeal wären bei uns schon längst gegen Standard-Modelle mit abwaschbaren Glaswänden (in die man Werbung hängen kann) ausgetauscht worden. So kann man die Welt sehen: hier Regeln, Pünktlichkeit, Gemecker, Kommerz und, ja, Langeweile („Es ist alles erlaubt, was Erlebnisse verhindert"), dort Improvisation, Chaos, Gastfreundschaft, Suff, Schicksale, Charaktergesichter, Schlaglöcher: „Jedes Häuschen, und sei es noch so klein, die Wände noch so schief und feucht, das Dach voller Löcher, regt zum Träumen an." (Die Bewohner sehen das natürlich anders und bauen sich, wenn sie das Geld haben, Denver-Clan-Villen, wie sie sie aus dem Fernsehen kennen.) Diese Sichtweise ist nicht neu und man läuft als Tourist immer Gefahr, seine Projektionen zu bestätigen. Aber warum nicht einmal eine Region positiv beschreiben, über die bei uns gewöhnlich nur Schreckliches berichtet wird? „Seit einigen Jahren zieht es mich dorthin, wo mehr Nutz- als Zierpflanzen in den Gärten stehen. Die Leute mit den Nutzpflanzen sind die besseren Erzähler. Bei ihnen bedarf eine Einladung an Gäste keiner Vorbereitung." Während man bei den Zierpflanzen-Besitzern viel kaputt oder schmutzig machen könne. Brumme war schon vor seiner Radtour seit Jahren süchtig auf die russische Stadt Saratov, wo für ihn die vielen Romane, die er über Russland gelesen hatte, nachträglich illustriert wurden (und wo die Menschen von der Gartenarbeit braun sind und nicht von der Urlaubssonne). Wenn man liest, wie bitter sich Brumme, der in dem perfekten Schriftstellerbiographie-Ort Elend (Harz) aufgewachsen ist, sich über die DDR äußert, wird es noch interessanter, denn er ist von jeder Verklärung des sowjetischen Systems oder des DDR-Miefs frei, er hat aber auch keine Angst vor dem Osten und er liebt die Menschen, denen er begegnet, und die mit für unsere Begriffe deutlich härteren Lebensumständen klarkommen müssen und dabei eine Gelassenheit entwickeln, die uns Besucher, wenn wir in der Lage sind, unsere Vorurteile abzulegen und unsere Ängste zu überwinden, neidisch und sehnsüchtig machen kann. Man kann den Osten Europas natürlich auch in viel düsteren Farben malen, aber ist es nicht sinnvoller, zur Abwechslung einmal dafür zu werben, sich ihn überhaupt einmal anzusehen?

Ein wunderbares Mittel, sich einem fremden Land zu nähern ist das Fahrrad, und das Buch ist ein einziges Loblied auf dieses Fortbewegungsmittel („Autofahren erzieht zur Feigheit.") Brumme fährt bis zu 200 Km am Tag, versorgt sich in Dorfmagazinen mit (äußerst wohlschmeckenden) Säften, Borschtsch, Okroschka (einer kalt genossenen Sommer-Gemüsesuppe) und vor allem versorgt er sich mit Begegnungen. Oft wird er beschenkt, immer wieder von Mittellosen, die ihm Obst, Gemüse oder sogar Geld aufdrängen wollen. Abends sucht er sich eine Stelle im Wald, baut in zwei Minuten sein Zelt auf und lauscht den vielen Geräuschen, die man dort nachts zu hören bekommt und von denen man als Städter nichts ahnt. Immer wieder wird er gewarnt, da und dort solle er nicht hinfahren, weil es zu gefährlich sei, wobei das interessanterweise immer weit weg ist. Er trifft aber fast durchweg freundliche, hilfsbereite Menschen und ignoriert die Warnungen. Wenn es danach ginge, hätte er gar nicht losfahren dürfen, denn schon in Berlin haben ihm ukrainische Bekannte dringend abgeraten. Aber: „Die Räuber säen und pflanzen, sie sammeln Reisig im Wald. Sie tragen Stützstrümpfe und Hörgeräte aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts." Es gibt natürlich Situationen, in denen man Nerven braucht, einmal darf er in einer Dorfkneipen-Baracke schlafen, die aber nachts gar nicht, wie angekündigt, geschlossen wird, sondern die Betreiberin feiert mit ihrem hühnenhaften Freund und anderen Bekannten bei lauter Musik bis in den Morgen. Nachts legt der betrunkene Mann Brumme seine Pranke aufs Bein und fordert ihn zum Wodkatrinken auf. Aber Brumme ist beneidenswert angstfrei und scheut die Begegnung mit den Indianern des Ostens nicht, Milizionäre, Ganoven, bedauernswerte Krüppel, Verwirrte, ein Afghanistan-Veteran und Elvis-Fan. Der Staat ist für diese Menschen weit weg, „Parodie und Naturgewalt". Brumme erfährt, warum in Russland die Kellnerinnen oft so klein sind (die „hohen" müssen nicht arbeiten …) Er hilft einen Tag auf dem Bau mit, als er eine Gruppe Bauarbeiter kennenlernt. Er ist dem Glück deutlich näher als zu Hause: „Radfahren ist die erste Tätigkeit in meinem Leben, die ich ohne Zweifel als sinnvoll empfinde." Brumme ist Dostojewski-Leser, und es geht hier, das darf man nicht vergessen, immer auch um Literatur, der Kampf gegen sich selbst auf dem Fahrrad ist ja auch eine Übung für die Mühsal des Schreibens, vor allem, wenn man wie Brumme darin eine heute ziemlich aus der Mode gekommene Konsequenz anstrebt. Seine Vorbilder sind u.a. Kafka, Kleist, Nietzsche, Hölderlin, Brecht, Cioran, Flaubert. (Er hat sich Gedichte kopiert, um sie unterwegs beim Fahren lesen zu können.) In Saratov, dem Ziel seiner Reise, ist er mit Damen vom Deutschen Lesesaal befreundet, die Literatur nicht verwalten, sondern lieben. Auch wegen solcher Menschen klingt seine Ankunft dort nach Heimkehr. Die Reise hat offenbar sein Leben verändert: „Mein Leben, das ich vor dieser Reise führte, erschient mir immer trostloser. Geradezu widerlich war dieses Dasein." Laut seiner Webseite lebt Brumme inzwischen in Poltava, einer ukrainischen Stadt, die er auch im Buch angesteuert hat. Er hat also jedes Recht, die Ukraine zu überhöhen, schließlich kennt er sie nicht nur als Urlauber. Die Heimkehr muss bei so einer Reise natürlich ernüchternd sein. Schon in Polen fehlen die Schlaglöcher, es gibt keine Ziegen mehr im Straßengraben, auf den Feldern stehen Reklameschilder, die Supermärkte gleichen ihren westlichen Vorbildern. Am Gubener Grenzübergang wird er vom deutschen Beamten, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen ist, aufgefordert, einen halben Kilometer zurückzufahren, um den Fahrradweg zu benutzen, der sich hinter einer Absperrung befindet, so sei leider die Vorschrift.

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