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Literatur

Amerika

Amerika

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 13.02.2017

Wenn man Amerika verstehen will, kann man zur Zeit viel Zeitung lesen. Man sollte aber nicht vergessen, auch das Amerika-Buch eines Autors zu studieren, der Europa nie verlassen hat. "Der Verschollene", bzw. "Amerika", wie Max Brod das Buch betitelt hat, ist einer der unveröffentlichten und leider abgebrochenen Romane von Franz Kafka, und der, den ich am liebsten lese, weil er eine Phantasie so minutiös, folgerichtig, gleichzeitig quälend und komisch durchspielt, dass die Wirklichkeit dagegen nur enttäuschen könnte.

Im August 1989 saß ich auf den Stufen einer Prager Kirche, als Landstreicher verkleidet, was damals die Mode derer war, die sich für aufsässig hielten, und versuchte, Franz Kafkas Erzählungen zu lesen, in einer DDR-Reclam-Ausgabe, die ich in einer Prager Buchhandlung ergattert hatte, zuhause war das Bückware. Leider war ich von der Lektüre vollkommen überfordert, da mir die nötige Reife fehlte. Andererseits war es eine schöne Zeit, weil die Literatur das Leben noch nicht ersetzt hatte, ich war ja gerade praktisch ohne Essen durch die Karpaten gewandert und erlebte eine historische Situation, den Zusammenbruch des Ostblocks, es war also einiges los. Aber statt diesen Prozess aufmerksam zu beobachten, las man Kafka, aus eskapistischen Gründen, weil seine vermeintliche Verweigerung von Realismus eine Provokation war, in einem Land, in dem es nicht gern gesehen war, wenn man an der historischen Folgerichtigkeit unserer gesellschaftlichen Entwicklung zweifelte, die Freude am Absurden war schon Sabotage.

Aber war Kafka nicht geradezu ein Reiseführer für die Realität, von der man meinte Urlaub zu machen, wenn man ihn las? Abends beim Einschlafen zählte ich gewöhnlich keine Schäfchen, sondern stellte mir immer wieder meine abenteuerliche Ausreise in den Westen vor, spektakuläre Fluchtversuche, bei denen mich Hubschrauber mit Strickleitern aus der Menschenmenge fischten, die triumphale Ankunft, bzw. das Scheitern in dieser unmenschlichen Welt jenseits der Mauer, die so viele Verlockungen bot, aber jeden kleinen Fehler unbarmherzig bestrafte. Sollte man bleiben, oder sollte man gehen? Was wäre wenn? Viele werden nachts so gegrübelt und das Für und Wider einer Ausreise abgewogen haben. Ich schlief immer gut ein dabei. Dass Kafka mit "Amerika" das Buch zur Stunde gewesen wäre, kapierte ich natürlich nicht. Der Roman ist eine Genugtuung für alle Autoren, die ja oft zum Stubenhocken neigen, denn er beschreibt das, was das Leben zum Abenteuer macht, nämlich eine Reise ohne die Möglichkeit einer Rückkehr, und er erspart es seinem Autor gleichzeitig, diese Reise auch antreten zu müssen, denn das noch größere Abenteuer, das größte überhaupt, ist ja das Schreiben.

Aber das ist alles schon viel zu sehr vom Inhalt her gedacht, das Großartige an Kafka ist ja, dass er in jeder Zeile, die er geschrieben hat, dieser einzigartige Autor war, es gibt da kein Hinterzimmer, wo er mal die Beine hochlegt. Und jemand, der in einem Brief eine Selbstmordvision beschreibt, bei der er sich selbst durch ein Treppenhaus fallen sieht, "kopfschüttelnd vor Ungeduld", weil der Sturz offenbar zu lange dauert, bewegt sich auf einer höheren Ebene von Humor. Kafka ist ein Slapstickkünstler, der nicht zu erwähnen vergisst, dass die Kleidung in Karls Koffer tagelang den Geruch einer mit eingepackten Veroneser Salami verströmt. Oder wenn es von einem Slowaken auf dem Schiff, mit dem Karl in New York ankommt, heißt: "… aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinem Lager und sah traurig zu Karls Koffer hinüber." Wer hätte je einen Dieb traurig auf sein künftiges Diebesgut schauen lassen?

Was muss man von Amerika wissen, um es zu beschreiben? Kafka kennt nur Gerüchte, er weiß, dass Gefahren "besonders von den Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen". Amerika, das ist neueste Technik: Man wohnt in Häusern aus Eisen, duscht unter einem Sieb, das sich über die ganze Länge und Breite der Wanne spannt, schreibt an einem Schreibtisch mit einer Kurbel, über die sich verschiedene Aufsätze und Ablagen umgruppieren lassen, ständig wird telephoniert, der Telegraphensaal der Firma des Onkels ist größer als der von Roßmanns Vaterstadt, das Grüßen in den großen Firmen ist aus Zeitgründen abgeschafft, Frauen nötigen einen mit Jiu-Jitsu ins Bett, bei Tisch wird fast rohes Fleisch verzehrt, man trinkt eine "schwarze Flüssigkeit, die im Halse brennt" (mit anderen Worten wohl Coca Cola), und stützt dabei die Ellbogen auf. Wer etwas werden will, arbeitet tagsüber, studiert nachts auf dem Balkon und hält sich mit schwarzem Kaffee wach, schlafen kann man nach dem Examen. Es habe Neuankömmlinge gegeben, die "tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße hinuntergesehen hätten".

Es ist ein Amerika, wie ich es aus einer Geschichte in den "Lustigen Taschenbüchern" kenne. Onkel Dagobert besucht einen amerikanischen "Kollegen", dessen Ländereien und Gebäude unüberschaubar sind. Die Eingangstür seines Anwesens ist ein Trapez, oben breiter als unten, bei der Ausgangstür ist es umgekehrt, denn sogar selbstbewusste Besucher, wie der reiche Dagobert, kommen aufgeblasen vor Stolz und verlassen das Haus gebückt und demütig angesichts der unfassbaren Reichtümer und der Größenordnungen in diesem Land.

Wäre es mir im Westen auch so gegangen? Ein reicher Onkel nimmt mich auf und stellt mich in seiner Firma an, ich enttäusche ihn und werde verstoßen, die Geheimtasche im Rockfutter nützt mir nichts, in der ersten eigenen Stellung werde ich gemobbt und rausgeworfen, zweifelhafte Reisebegleiter hängen sich an mich (wie bei "Pinocchio"), ich werde eingesperrt und als Sklave missbraucht. Und immer, wenn ich "den Erwachsenen" etwas erklären will, selbst den Wohlwollendsten, komme ich nicht zu Wort und sie glauben mir nicht (wie bei "Alfons Zitterbacke").

Die Wirklichkeit war schneller. Die Einschlafphantasie, in den Westen zu gehen und dort als Redner im Bundestag für Furore zu sorgen, hat bei mir einer anderen Phantasie Platz gemacht, mir durch mein Schreiben für die Zeit im Jenseits eine Stelle im selben Posaunenchor zu sichern, in dem dort auch Kafka tätig ist: "Karl erhoffte sich in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken."

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Kommentare 1
  1. David Simeth
    David Simeth · vor 7 Jahren

    Ich erinnere mich an einen Text, den ich mal für ein Kafkareferat gelesen habe. Darin wurde beschrieben, wie Kafka, Brod und ein paar Freunde sich bogen vor lachen bei der gemeinsamen Lektüre der Verwandlung - seitdem lese ich Kafka - mit diesem Bild vor Augen - ganz anders. Die "höhere Ebene vonHumor" an seinem Werk ist ihm selbst wohl schon auch sehr bewusst gewesen...

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