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Literatur

All In The Best Possible Taste with Grayson Perry

Quelle: https://www.bbc.co.uk/programmes/p01b0rvm/p01b0r1z

All In The Best Possible Taste with Grayson Perry

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtDienstag, 25.09.2018

In Helsinki hatte ich nach Jahren wieder die Zeit, in ein Kunst-Museum zu gehen, ich hatte den Tip bekommen, mir im Kiasma die Ausstellung "The Aalto Natives" von Nissinen und Mellors anzusehen, den finnischen Beitrag zur Venedig-Biennale von 2017. In einer Folge von Räumen fand man sich vor Arrangements mit sprechenden und sich bewegenden Jim-Henson-artigen Puppen wieder, die für einen von den Künstlern produzierten Videofilm hergestellt worden waren. Im letzten Raum wurde dieser Film von einem brilletragenden Ei an die Wand projiziert. Wir sehen zwei Außerirdische (das Ei und seinen Sohn) Finnland besuchen, das sie vor Millionen Jahren geschaffen haben, und das inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen ist, Stichwort "virtual reality". Mit Humor soll die Identität der modernen Finnen erkundet werden, ich fand das Ergebnis aber ziemlich verstörend.

Auf allen anderen Etagen des Kiasma war ebenfalls Kunst ausgestellt, wenn ich mir vorstelle, wieviele solcher Museen es auf der Welt gibt - es werden ja dauernd neue eröffnet-, und alle müssen ständig mit Kunst befüllt werden, und sei es Wanderkunst, dann kann man sich vorstellen, wieviel Arbeit die Künstler in aller Welt mit dieser Aufgabe haben.

Aus Pflichtgefühl, und weil der Eintritt so teuer gewesen war, ging ich auch noch ins oberste Stockwerk, wo es eine Einzelausstellung von Grayson Perry gab, der mir bisher unbekannt gewesen war, auch wenn er den Turner-Preis bekommen hat, aber aus Überforderung und einer gewissen Reserviertheit gegenüber globaler Starkunst befasse ich mich kaum mit moderner Kunst. Daß das ein Fehler sein kann, wurde schnell klar, denn Perrys Kunst, für die er ungewöhnliche Medien wie Keramikvasen oder Wandteppiche ("The Vanity of Small Differences") nutzt, hat mich begeistert. Besonders gefiel mir ein vom Künstler entworfenes Motorrad mit einem silbernen Schrein auf dem Gepäckständer, in dem sein Teddybär Alan Measles ("Masern") sitzt, der auch auf vielen von Perrys Bildern auftaucht. Perry hatte, auch wegen seiner von der Familie nicht geteilten Freude am Tragen von Frauenkleidern, eine unglückliche Kindheit und Alan Measles war damals sein emotionaler Halt. Ich blieb länger als geplant in der Ausstellung, eigentlich war ich ja schon "voll", aber die Teppiche und Objekte waren so reich an Details und die Idee der einzelnen Projekte so interessant, daß ich viel nachzulesen hatte. Perry hat sich z.B. in die Welt von Brexit-Befürwortern und Gegnern begeben und die Ergebnisse seiner Recherchen auf Vasen festgehalten. Eine Reihe bunter Umhänge war ausgestellt, Perry läßt sie jedes Jahr von Studenten entwerfen und kauft ihnen einen davon ab, um sie als "Claire" zu tragen, seine zweite, etwas tantenhafte Persönlichkeit. Aus den Informationen erfuhr ich, daß Perry auch Dokumentarfilme für Channel 4 gedreht hat, u.a. "Why Men Wear Frocks", in dem es um Männlichkeitsklischees geht, Perry meint, daß sie den Jungen aufgezwungen würden und sieht darin eine Ursache für viel Übel in der Welt.

In einem anderen TV-Projekt von 2012 "All In The Best Possible Taste with Grayson Perry" erkundet er den typischen, britischen Geschmack im 21.Jahrhundert. Der Film hat drei Teile von jeweils einer Stunde Länge, in denen es um den Geschmack der Working class, der Middle class und der Upper class geht.

Geschmacksurteile, stilistisch motivierte Kaufentscheidungen, die Frage, ob man Schönheit objektivieren kann, ob es also einen Beweis dafür gibt, daß mein Geschmack "der richtige" ist, ob Häßlichkeit der Umwelt und der Behausung in die Seelen dringt oder aus den Seelen kommt, Grübeleien über die Natur des Kitsches, dessen Wesen man genauso schwer definieren kann wie das der Schönheit (das Häßliche von heute ist das Vintage von morgen), die Frage, ob man Geschmack lernen kann oder ob man ihn als Heranwachsender erbt, ob sich soziale Schichten über Geschmack definieren, oder ob sie darüber definiert werden (bis hin zu Bourdieu, der behauptet, daß über Geschmacksurteile Klassenverhältnisse reproduziert werden), darüber zerbrechen sich kluge Menschen den Kopf, spätestens seit die Massen durch ihre Konsumentscheidungen mitbestimmen, was für Waren oder Kulturprodukte produziert werden, bzw. das Angebot der Händler prägen.

Perry hat verschiedene, für die jeweilige Schicht archetypische Milieus in England besucht, um zu recherchieren und seine Eindrücke in überdimensionalen Wandteppichen verarbeitet (gewebt wurden sie nach Photoshop-Vorlagen von einer Maschine in Belgien), sich also für ein eigentlich ziemlich unmodern gewordenes Medium entschieden, das früher für die ganz großen Ereignisse in der Geschichte eines Volkes reserviert war. Perry hat für jeden Teppich klassische religiöse Bildmotive als Folie gewählt (Pietà, Verkündigung, Vertreibung aus dem Paradies) und eine durchgehende Geschichte erzählt, in Anlehnung an William Hogarths Gesellschaftsporträts, insbesondere den Zyklus "A Rake's Progressüber den Abstieg des Wüstlings Tom Rakewell, der bei Perry aus der Working Class kommt, ein reiches Computergenie wird und schließlich bei einem Unfall aus seinem Sportwagen geschleudert wird und stirbt. Die Fernsehfilme sind also so etwas wie ein Making-of eines Kunstwerks, und zusätzlich wird man Zeuge einer bemerkenswerten Szene, denn am Ende jedes Films werden die Studienobjekte in einen Galerieraum eingeladen und bekommen die Teppiche zu Gesicht, auf denen sie zum Teil selbst zu sehen sind. Die Rezeption des Porträts durch den Porträtierten ist in der Kunstgeschichte sicher nicht sehr oft filmisch dokumentiert worden.

Sieht man diese Filme, stellt man sich Fragen über Schichtenmodelle und kommt nicht umhin, sich selbst einzuordnen. Gerade als Angehöriger der Mittelschicht meint man vielleicht, gar keiner Schicht anzugehören, bzw. eigentlich "working class of the heart" zu sein. Man liebäugelt vielleicht mit der Upper class, wüßte aber gar nicht, wo die in Deutschland anzutreffen ist. Oder man lehnt es prinzipiell ab, Äußerlichkeiten zuviel Bedeutung beizumessen, wobei man verkennt, daß wir alle, wie eine Kulturwissenschaftlerin im Film erklärt, über "ein eingebautes GPS-class-radar-system" verfügen, um einzuschätzen, wem wir gegenüberstehen.

Die Working class wird in Sunderland erforscht, einer ehemaligen Werft- und Bergbaustadt. Die Industrie ist fort, es bleibt der Fußballclub, der für die Werte der proletarischen Vergangenheit stehen soll. Perry besucht eine Convention von Autopimpern, er redet mit tätowierten Cagefightern (man gibt 900 Euro für ein Tattoo aus, das alle sehen können, aber man würde für diese Summe Geld kein Kunstwerk kaufen, das nur zuhause steht) und läßt sich für einen Kneipenabend als Frau schminken, kleiden und frisieren (auch in den anderen Filmen läßt er sich als Frau stilistisch für einen Gesellschaftsabend in der jeweiligen Schicht beraten). Was ist typisch für den Geschmack der Working class? Wie erklärt sich ihre Vorliebe für grelle Farben, prunkvollen Nippes, glänzende Oberflächen, übertriebene Frisuren, gebräunte Haut? Was Perry eigentlich abstößt, dafür entwickelt er durch die Begegnung mit den Menschen Verständnis, er stellt die Absolutheit seines eigenen Geschmacksurteils in Frage. Überhaupt ist auffällig, wie aufgeschlossen er den Menschen gegenüber ist, es gibt keine Spur von "Ausstellen", er ist ein neugieriger, geistreicher Ethnologe, der verstehen will, und seine Gesprächspartner merken das und begegnen ihm offen. Bei der Präsentation der Teppiche sind die Workingclassler sogar rührend gerührt und aufrichtig begeistert, etwas aus ihrer Lebenswelt in einem Kunstwerk wiederzufinden (seltsamerweise glauben sie noch an Kunst, viel mehr als die Mittel- und Oberschicht, die sich mit Kunst viel besser auskennt).

Wenn sich Perry in eine neue Einfamilienhaussiedlung begibt, wo die Middle class lebt, fühlt er sich, als würde er einen anderen Stamm besuchen. Wichtig für die Middle class sind die Angst vor dem Abstieg und die Angst, mit der Working class verwechselt zu werden. Anders als diese sendet man dezente Statussignale, man fährt ein Auto, das so teuer wie das der anderen, aber nicht teurer ist, denn man will dazugehören. Man stattet sich auf Jamie-Oliver-Partys mit geschmackvollen Küchen-Gadgets aus. Eine Frau ist direkt in einen Show-Flat in der Siedlung gezogen und hat alle Einrichtungs- und Dekogegenstände übernommen, sie empfand das als entlastend, so mußte sie keine Kaufentscheidungen treffen. Die Mittelschicht definiert sich über Ausdrucksweise, Konsum, Benehmen, die Namen ihrer Kinder. Man zeigt, daß man seinen Platz verdient. Man zeigt nicht nur Kapital, sondern kulturelles Kapital. Denn es gibt auch eine andere Mittelschicht, die Perry in Tunbridge Wells besucht, einem netten Kurort mit farmers market, wo man organic food bekommt, und wo aus den Kaufentscheidungen der Wunsch spricht, ein guter Mensch zu sein. Eine Frau führt ihn durch ihr Haus, das mit interessanten Objekte vom Flohmarkt oder vom Sperrmüll dekoriert ist – Patina statt glänzende Oberflächen-, darunter auch kitschiges Spielzeug, in diesem Kontext illustriert das nur ihre Individualität, denn sie hat die ironische Auswahl getroffen und dem Objekt die Absolution erteilt. Es geht hier nicht um Marken, man shoppt nicht, sondern man wird zum Kurator seiner Wohnung, die wie eine Ausstellung ist, jeder Gegenstand spricht von dem Wunsch, nicht wie alle zu sein (und dadurch gleicht man sich paradoxerweise doch wieder.)

Die Upper class ist eine gefährdete Art, das von Proust gecastetes Publikum bei einem Polospiel. Manche haben eigentlich gar kein Geld mehr oder brauchen alle Ressourcen, um den Landsitz zu erhalten, der sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz befindet. Geschmack ist hier kein Ausdruck von Individualität, sondern das Wissen um die Tradition. Hier geht es nicht darum, mit seiner Kleidung Individualität auszudrücken, sondern sie wie eine passende Uniform für den jeweiligen Anlaß auszuwählen. Man trägt sogar die (gerne abgewetzte) Kleidung der Großeltern, da sie ja von unübertroffener Qualität war. Die Tradition ist eine schwere Bürde, mancher wohnt in einem bescheideneren Haus nebenan, wo er sozusagen Urlaub von der Verpflichtung nimmt, es genau wie die Vorfahren zu machen.

Am Ende stellt sich Grayson Perry vor seine Studienobjekte, alle sind noch einmal in der Galerie zusammengekommen, und er resümiert, was er gelernt habe, nämlich daß es keinen guten oder schlechten Geschmack gibt sondern nur ganz verschiedene.

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