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Literatur

4.2.1998. Los gehts!

Quelle: Licht. (Foto: Karl van Worm, 2018)

4.2.1998. Los gehts!

Michael Kröchert
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Michael KröchertSonntag, 04.02.2018

Der Stress von heute ist die gute alte Zeit von morgen. (Rainald Goetz)


Rainald Goetz biegt mit dem Rad von der Torstraße in die Kleine Hamburger Straße ab, und ich schreie: „Ich hab grad dein Buch gelesen. Das war geil!" Die Worte kommen unkontrolliert aus mir heraus. Hätte ich nachgedacht, hätte ich sie nicht gesagt. Er kennt mich ja gar nicht. Aber ich bin in keiner guter Verfassung. Hochnervös, todunglücklich (unkontrolliert) in Berlin; irgendwann ganz zu Anfang der Nuller Jahre. Mein naiver Schrei der Begeisterung erreicht ihn. Er dreht sich zu mir, legt sich in die Kurve, hebt den Arm, reckt ihn in den Himmel und ruft: „Danke! Freut mich!“, und weg ist er. Der Komet. „Nein, Herr Goetz, ich habe zu danken.“

Abfall für alle, sein Internet-Tagebuch, beginnt am 4.2.1998 mit den Worten „Los gehts“ und endet am 10.1.1999 mit dem Eintrag:


„Luhmann

Alltagsplausibilität

Gesellschaft

ja

das wars

allen alles

Licht.“


Ein schöner Scherz von ihm und Suhrkamp, dass sie das Tagebuch - fürs Netz geschrieben - anschließend in diesen fetten Wälzer drucken: Das Leichte und das Schwere, das Neue und das Alte: Abfall für alle. Das tolle, rot-seidige, geliebte 864-Seiten-Buch. Das Energie- und Widerspruchszentrum der Jahrtausendwende. Vom Nervösor.

Doch was darf man als Fan nach so vielen vielen vielen Jahren schon dazu sagen? „Lob ist Strafe“, schreibt Rainald Goetz, „Don´t cry, work!“, „Und über und unter allem: Melancholie.“


„Meine Lieblingsvorstellung vom Effekt der Täglichkeit einer so abstrakten Nähe ist das Verschwinden des Texts im Leben des Lesers. Dass sich vielleicht nur ein leicht gesteigertes Gefühl für die eigene Zeit ergeben würde: 98, als Abfall lief, und ich... – und dann würde dann die jeweils individuelle Geschichte dieser Zeit beginnen, eine immer andere natürlich, und immer eine dieses einen Jahres eben, 98. Für die, die dabei waren. Die ich nicht kenne, stumme Gefährten meines Abenteuers, die – ich –

ich weiß nicht – es geht nicht – ich kann nicht.“ (10.1.99, 19 Uhr 54)


Leicht gesteigertes Gefühl? Stumme Gefährten? Zur Jahrtausendwende, als ich Mitte Zwanzig war? Hunderttausend Widersprüche. Hunderttausend Stimmungswechsel. Hunderttausend Gedankensprünge. Das Sperrfeuer der Gefühle. Das Kreuzfeuer der Überforderung. Jung, traurig, müde, unglücklich verliebt. Daraus kann Glück hervorwachsen? Man liest vom hochgerüsteten Kampfapparat des Denkens und Schreibens. Gegen diese Gefühle. Für die Gegenwart. Gegen die Gegenwart. Gegen Ungenauigkeit. Gift und Gegengift. Affirmation der Kritik. Ein Katarakt. Zersprengte Form. Anstrengend und schön. Glück! Düstere Zerstörung, wörtliche Rede. - - Endlich der freie Blick auf all die großartigen, glückbringenden Banalitäten und großartigsten Großartigkeiten. Das Feiern und Radfahren. Blühende Kastanien. Schreiende Elstern. „Abenddämmerung / und diese Gefühle alle.“ Am nächsten Morgen dann die Wutausbrüche des Pedanten und hochsensiblen Soziopathen. Die Einkaufszettel werden in Stein gemeißelt. Schaum der Hasspredigt und amtlicher Genauigkeits-Kult. Gegen Berlin. Gegen den Rewe im Wedding... ein zerfetztes Nervenkostüm. Ständiges Staubsaugen. Die Gedanken so rein, weiß und blau wie das Kaiserwetter über dem FC Bayern Luhmann. Das Sich-öffnen gegenüber allem. Das Sich-schnell-verschließen-müssen, vor Zumutungen und Gezeiten: Kritik. Und über und unter allem: Alles. Der Schreiber.

„Schwer zu erklären. Ich schreibe Worte hin, aber sofort muss ich sie gelb markieren und gleich wieder löschen. Auch okay. Dann laß mas halt. Und machen den Fernseher an. Und machen Feierabend hier.“ (30.3.98, 19:42)

Kein Buch, in dem ich mehr Energie, mehr Unruhe, mehr Antworten fand als in Abfall für alle. Damals: Die Wirrnis, die Negativität, der Zwang, die Euphorie, die Wut, das Feiern, das Staubsaugen und das Schreiben. Wahrheit, fand ich. Licht. Da stand genau das, was ich brauchte.

„Solange reinbohren in irgendwas ursprünglich Freundliches, Nettes, Zugewendetes, bis wirklich alles in Grund und Boden zerstört und kaputt zerbohrt ist. Warum nicht mal innehalten vielleicht, bei einem irgendwie komplizierten, schönen Moment? Geht nicht.“ (4.2.98)

„Gegessen, gedämmert, geduscht, wieder am Schreibtisch. Arbeit am Negativen, an falschen Gedanken, an falsch Gesagtem, Destruktion. Zerstört die Reflexe, macht einen fertig. Abendliche Schwäche. Den Betrieb einstellen.

denn im klassischen Ballett

gibt es Geschichten, Gefühle, Rollen und Träume

und die Menschen brauchen solche Träume.“ (24.4.99)


„Times fade

don´t let ´em pass

you by

times fade

don´t let them pass you by

und die 909 beginnt zu klopfen, und die Dämono-Hall-Stimme von Ray Davis, oder wer immer das ist, von Phuture, wiederholt den Befund, die Warnung, die Lage, die Drohung, den Imperativ. Times fade. Don´t let them pass you by. Hypnotic tango, dessen Wiederholungen auch den Sondersinn der Negation verschlingen. Times fade. Now let them pass you by.“ (25.4.99)


Ich hatte das Buch seit Jahren nicht in der Hand. Und irgendwie taucht es jetzt wieder auf. Die Erinnerung. Verknüpft mit einem Datum. Heute. Vor zwanzig Jahren. Vor einer Unendlichkeit. Times don´t fade. Und was hat es mir bedeutet? Mich angesprochen, angebrüllt und angestresst? Angeweht und angeleuchtet.

Ich habe damals nicht darüber nachgedacht, wie es sein könnte, das Buch zwanzig Jahre später wieder aufzuschlagen. Es ist so: Heute Abend gehe ich zur Torstraße. Und feiere den Kometen. Hypnotic tango! Don´t let Abfall für alle pass you by. "Ich hab grad Dein Buch gelesen..."


+ + Abfall für alle. Roman eines Jahres. Rainald Goetz. Suhrkamp. 1999 + +

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Kommentare 2
  1. Andreas Merkel
    Andreas Merkel · vor 6 Jahren

    The Great Goetzor.
    Kleine Ergänzung: dieses auch schon wieder komplett veraltete, brandaktuelle, vom Verschwinden bedrohte Interview, neulich zufällig auf einem alten Memory-Stick entdeckt: http://www.zeit.de/201....
    "Wut ist Energie" - hoffentlich funktioniert der Link noch.

    1. Michael Kröchert
      Michael Kröchert · vor 6 Jahren

      Ja, der Link funktioniert noch. Danke! Hoch leben die alten Memory-Sticks.

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