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Boris Groys: Die neo-imperiale russische Kulturidee verstehen

Michael Hirsch
Philosoph und Politikwissenschaftler, freier Autor und Dozent
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Michael HirschDienstag, 12.04.2022

In diesem Gespräch mit dem deutsch-russischen Philosophen und Kulturtheoretiker Boris Groys wird ein faszinierender Bogen von der zaristischen Vergangenheit über die Sowjetunion bis zur neo-imperialen Gegenwart gespannt. Groys ist mit seiner intimen Kenntnis von russischer Gegenwart und russischer (Kunst-)Geschichte, und zugleich einem ausgeprägten Sinn für große spekulative Synthesen wie vielleicht kein zweiter dazu geeignet, eine profunde philosophische und politische Analyse des heutigen Russlands zu liefern.

Dabei wird deutlich, dass zur neo-imperialen Idee von Russland eben nicht nur einfach geopolitische Einflusszonen und Gebietsansprüche gehören, sondern auch eine umfassende nationale Kulturidee. Diese ist zum einen ein Konglomerat aus revanchistischen Träumen von alter nationaler Größe, Bündnissen mit Miltär- und Geheimdienstapparaten sowie mit der russisch-orthodoxen Kirche. Vor allem aber geht es bei dieser Idee von Russland um eine Kulturidee, in deren Zentrum die Feindschaft zum "Westen" und seiner Kultur, seiner ganzen Lebensweise steht. Insofern wären die westlichen Sanktionen letztlich genau das, was Putin bezweckt: die russische Isolation, die Abwendung vom Westen in wirtschaftlicher und politischer, vor allem aber in kultureller Hinsicht. Dabei dienen islamistische Regime als Vergleiche:

Generally, though, I think that the Putin regime is trying to hark back to a very large Russian tradition—searching for the Russian World’s foundations by purging it of the West. In this sense, I have the distinct feeling that Western sanctions are perhaps the most important goal of this entire operation, or, at least, one of its goals: finally evicting the West from Russian territory, from the Russian World. After all, this is what Iran and many Muslim states did, what Afghanistan showed us not so long ago.

Der entscheidende Unterschied zwischen der Sowjetunion und dem neuen Russland liegt darin, dass dieses keine universale, imperiale politische oder kulturelle Idee hat. Es gibt keinerlei "Botschaft" des heutigen Russland außer dem Russischen selbst. Das unterscheidet es nicht nur vom bolschewistischen Russland, sondern auch von islamischen Staaten:

This is the difference between today’s Russia and the Soviet Union, because back in those days there were communist organizations and parties in every country of the world. They wanted everyone to live under socialism. It was a universal message aimed at the whole world. But the current “Russian message” is not universal: it is not addressed to the whole world. Second, it makes no sense to anyone. It is incomprehensible even to the Russian people, and even more incomprehensible outside of Russia, because no one understands what this Russian identity is. In the case of Islam, we can grasp this identity, but it is simply incomprehensible in Russia’s case.

Und politisch-kulturell steckt hinter dieser Leere des russischen Imperialismus der Gegenwart eben eine absolute Leere: Es gibt gar keinen Gehalt außer dem Ultranationalismus selbst. Die Idee dahinter geht insofern konform mit der Internationale rechtsextremer Ethno-Pluralisten in Frankreich, Italien, Deutschland, Ungarn oder Polen. Es gibt hier keinerlei Werte außer eben der Nation selbst:

What defense of traditional values? Those selfsame traditional values are defended by any conservative party in the West that opposes abortion, gays, and so on. This is just a normal Western European conservative attitude. There is nothing specifically Russian about it.

Groys nennt als entscheidende ideologische Quelle nicht so sehr die typischen romantischen Fantasien des frühen Nationalismus im 19. Jahrhundert mit ihren fortschrittsfeindlichen, reaktionären Elementen und Träumen von organischen Gemeinschaften. In seinen Augen ist es das genaue Gegenteil, das er "pseudo-deutsch" nennt, und eher auf die deutsche Lebensphilosophie von Nietzsche und vor allem auf die nationalsozialistischen Ästhetiken und ihren Größenwahnsinn bezieht, das heißt auf einen militaristisch-technologischen Fortschrittsglauben:

Everyone focused on the historical part of Putin’s history lecture, but I was struck by something else entirely. Maybe it is my German way of looking at things. When he said that history’s main motive force is the will and that they who have the will are triumphant, and when their will weakens, they are defeated, I immediately recalled Leni Riefenstahl’s Triumph of the Will. The theme of tension, power, and will is tantamount to this same theme of progress, if you like. Because will conceived this way is always manifested in terms of missiles and airplanes, in terms of something quite literally ironclad. And the will itself must be like iron.

Neben vielen anderen faszinierenden Spekulationen von Groys finden sich am Ende des Textes auch noch ein paar Hypothesen über das mögliche Ende von Putins Herrschaft: Groys evoziert das für ihn noch gut erinnerbare Ende der Sowjetunion als exakt eine Implosion des Willens, als eine Art kollektive Depression, ein gesamtgesellschaftliches Erlahmen der Energie:

People would drink coffee or beer during work hours. They would chat or talk on the phone. But they didn’t do any work at all. And yet, they would say constantly that they were awfully tired. Everything failed, because all these apparatuses—bureaucratic, industrial, etc.—feed on living flesh and blood. They feed on the energy of the masses, as Lenin said.

But when I look at today’s Russians, I don’t get the feeling that they have huge reserves of energy. Therefore, you can stage Triumph of the Will as you like, but you cannot force the masses to mobilize. If they don’t mobilize and invest their energy, it will fail by itself, not because anyone protests against it. The Russian Empire failed in this way, and so did the Soviet Union. It failed due to fatigue; people lost their energy.

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