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Europa

SPD, Russland & Europa heute – ein langer Weg durch die Geschichte

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlDienstag, 25.01.2022

Auch Gerd Koenen hat einen langen Weg hinter sich. Vom sich radikalisierenden Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) über den maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) und als Redakteur der Kommunistischen Volkszeitung über die Solidarisierung mit der polnischen Widerstandsbewegung Solidarność bis zum Kritiker des Kommunismus. Er ist ein ausgewiesener Kenner der Theorie, Ideologie und der Geschichte Russlands, der radikalen Linken, des Personenkults bis hin zur Sozialdemokratie. Wer, wenn nicht er ist prädestiniert, zu verstehen, was in den Köpfen der heutigen Akteure vor sich geht oder besser vor sich gehen könnte? Das macht seinen mit spitzer Feder verfassten Essay besonders spannend. Putin als Phänomen und als Erbe dieses historischen Gebräus ist eigentlich nur mit tiefem Blick in die Geschichte zu verstehen. Wahrscheinlich sehen wir gerade 

das Präludium eines größeren weltpolitischen Machtspiels, das auf Europa, den Westen und die Welt im Ganzen zielt... Wladimir Putin will keineswegs zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, der festen Lagerbildungen, gesicherten Einflusszonen und eines gegenseitig garantierten Gleichgewichts des Schreckens (was allerdings selbst ein viel zu idyllisches Bild dieses „Kalten Kriegs“ ist, der in Asien und Afrika in großen, mörderischen Stellvertreterkriegen ausgefochten wurde). Sondern Putin will, … , „vorwärts in die Regellosigkeit des 21. Jahrhunderts, in der vor allem militärische Stärke und nationale Einheit zählt“. Seine ultimativ vorgetragenen, für mehr oder minder unverhandelbar erklärten Forderungen und die ins weite Vor- und Umfeld Russlands gezeichneten „roten Linien“, die eine von Skandinavien über den Balkan bis zum Schwarzen Meer reichende Zone verminderter Souveränität umschreiben, laufen in der Konsequenz auf eine Revision der in den Neunzigerjahren von den Moskauer Vorgängeregierungen unterzeichneten Verträge und Vereinbarungen hinaus, die zwischen den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und des sich auflösenden Warschauer Paktes sowie den Ländern der westlichen Allianz geschlossen worden sind eröffnet hatten ...

Insofern ist das vorgetragene „Sicherheitsbedürfnis“ Russlands der Hebel zur Neuaushandlung der europäischen Ordnung und Machtverteilung. Wenn es gelingt, das angeblich von Amerika beherrschte West- und Mitteleuropa aus seinen atlantischen Bindungen zu brechen,

würde das überragende militärische und geopolitische Gewicht Russlands viel stärker als heute zur Geltung kommen. Und nur von dieser Position aus könnte es den Vereinigten Staaten als einer im Chaos versinkenden und gleichzeitig von China herausgeforderten Weltmacht wieder „auf Augenhöhe“ gegenübertreten – und China selbst hoffentlich auch.

Wobei das noch die rationalste Interpretation der durchaus auch völkisch grundierten Neuordnungs- und Weltmachtambitionen Moskaus ist:
Wer sich in die von Kreml-Sprechern, Beratern des Präsidenten, Dutzenden offizieller Institute, Medienorganen, Debattenforen und vaterländischen Vereinigungen ausgebrüteten, im Netz zirkulierenden und jederzeit nachlesbaren Programme vertieft und die darin entfalteten, phantastisch-pseudologischen Selbstentwürfe einer einzigartigen, zur moralischen Sanierung der in Degeneration versinkenden Menschheit berufenen, stets opferbereiten russisch-orthodoxen Weltzivilisation ernst nimmt, muss buchstäblich überschnappen.

Und hier bringt Koenen den "Nachhall" und den Mythos der "Neuen Ostpolitik" ins Spiel. Er sieht ein breites Spektrum "von Linken bis zur äußersten Rechten, aber auch in der politischen Mitte von konservativen Landesherren in Bayern oder Sachsen über diverse Industrievertreter", die sich in einer "Querfront" aus fehlinformierten "Russlandverstehern" sammeln. Und versuchen mit der Wiederbelebung dieser Ostpolitik "Wandel durch Annäherung" das aktuelle, eigentlich ganz andere Problem zu lösen. Besonders sieht er da die SPD gefordert, "die viele tief eingewurzelte Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen erst einmal" zurechtrücken müsste. Das würde bedeuten,  sich mit der eigenen Geschichte noch einmal auf neue, selbstreflexive Weise auseinandersetzen. Etwa mit jenen Einschätzungen,
die von Marx und Engels als Gründungspaten an Bebel und Genossen weitergegeben wurde, in der das Zarenreich – dessen Glanz und Aura Putin und seine Ideologen so eifrig aufpolieren wollen – als ein auf maß- und ziellose Expansion ausgerichtetes, koloniales Imperium eigener, singulärer Art firmierte. 
Außenpolitisch expansiv, beruhte es innenpolitisch einerseits auf der Knechtung und dem Missbrauch "des nominellen, dabei stets minoritären Staatsvolks der „Großrussen“ selbst". Andererseits auf der Kontrolle aller nationalkulturellen Ambitionen der "fremdstämmigen" Bevölkerungen, wie etwa der zu "Kleinrussen" degradierten Ukrainer.
Dieser reaktionäre Charakter zeigte sich aber ebenso im verkehrten Kosmopolitismus eines Hof- und Grundadels und einer aus vielen Ländern, gerade auch aus Deutschland, zusammenrekrutierten Beamten- und Militärkaste samt Lobbyisten und Propagandisten, die die immensen Reichtümer des Landes in Baden-Baden verspielten oder an der Côte d’Azur verprassten oder in Paris und London bunkerten, statt sie im eigenen Land anzulegen. Ein Schelm, wer dabei nicht an die heutigen superreichen Kreml-Oligarchen denkt und bei der von Engels gegeißelten „Bande internationaler Abenteurer“ in Zarendiensten an jemanden – auf den wir noch kommen werden.
Als Kehrseite des historischen "Antizarismus" in der deutschen Sozialdemokratie sieht Koenen die
tiefe Verbundenheit mit den russischen Sozialisten, Dissidenten und rebellischen Massen – deren aus einer großen kulturellen und sozialökonomischen Aufstiegsbewegung genährte Unruhe Russland am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zum Land der Revolution par excellence machte. Wann hatte man je solche Szenen einer wirklichen Volksrevolution gesehen wie 1905, in denen alles in Rot getaucht war, in den russischen Zentren ebenso wie an der Peripherie von Warschau bis Baku – Szenen, die sich inmitten des Weltkriegs im Fe­bruar 1917 noch einmal wiederholten.
Aber dadurch haben die deutschen Sozialdemokraten auch sehen können, was dann in Russland passierte. Wie die bis dahin randständigen Bolschewiki im Oktober 1917 erst die Usurpatoren dieser großen russischen Volksrevolution wurden und dann mit ihrer Politik des bedingungslosen Terrorismus ihre Totengräber.
„Dann schon lieber den Strick“, notierte Luxemburg in ihrer Zelle, als sie von den Verhandlungen der Bolschewiki mit den Vertretern des deutschen Kaiserreichs über einen Separatfrieden hörte.
Und hier kommt Koenen mit einem interessanten Gedanken zur historisch katastrophalen Aufspaltung der europäischen Linken in Kommunisten und Sozialdemokraten. Sie war einmal die Folge der brutalen Unterdrückung der Sozialisten aller Richtungen und aller Nationalitäten durch ihre bolschewistischen Exgenossen. Zum anderen war es ein Reflex der Strategie Sowjetrusslands, mit dem besiegten und niedergehaltenen Deutschland in eine revisionistische Sonderbeziehung einzutreten. Also der Versuch
unter dem Deckmantel des scheinbar harmlosen Vertrags von Rapallo eine konspirative Achse Moskau–Berlin zu schmieden, mit deutschen Militärs und Ultranationalisten ebenso wie mit den von Komintern-Emissären instruierten Kommunisten.
Wobei das letztendlich an der Westorientierung der wiedervereinten Sozialdemokratie scheiterte, die im Parteien­spek­trum der Weimarer Republik am klarsten auf Ausgleich mit den Demokratien des Westens setzte. Weshalb sie von der stalinistischen Komintern- und KP-Propaganda als „Sozialfaschisten“ und Werkzeuge des Weltimperialismus beschimpft und bekämpft wurden.
Umgekehrt sieht Koenen das für die Regierung Schmidt und der von Egon Bahr betriebenen Fortentwicklung der "neuen Ostpolitik. Hier sieht er, m.E. etwas einseitig, eine
Strategie der Zementierung des europäischen Status quo, die allen demokratischen Entwicklungen von unten, wie in Polen 1980, mit offenem Misstrauen begegnete. Insofern hatte es wieder seine Logik, dass die Verhängung des Kriegsrechts in Warschau im Dezember 1981 mit einem symbolträchtigen Treffen von Schmidt und Honecker beantwortet und die Signale auf business as usual gestellt wurden. Und es war wiederum Egon Bahr, der diesen militärischen Eingriff auch ausdrücklich als Recht der Sowjetunion anerkannte, in ihrem strategischen Vorfeld für Ruhe zu sorgen, so wie die „Breschnew-Doktrin“ es 1968 mit Blick auf die Tschechoslowakei reklamiert hatte.
Offensichtlich befindet sich die deutsche Sozialdemokratie, wahrscheinlich Deutschland insgesamt, im Verhältnis zu Russland in einer schwierigen, historisch widersprüchlichen und belasteten Situation – fühlt sich teilweise angezogen, andererseits abgestoßen. Je nach Betonung der widersprüchlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit. Aber sollte man das, wie Koenen meint, als einen verqueren deutschen Narzissmus interpretieren,
hinter dem ganz eigene Größenphantasien stecken, die sich in das Gewand einer „besonderen historischen Beziehung“ kleiden und sich auf der ex­tre­men Rechten in Varianten eigener Eurasier-Phantasien sogar ganz explizit finden.
Jedenfalls sollten wir hinter all unseren Erfahrungen, Sympathien oder Antipathien nicht die anderen Nationen im Osten mit ihrem Recht auf Selbstbestimmung vergessen. 

Leider steht der Essay hinter dem Paywall, kann aber bei Blendle für relativ kleines Geld erworben werden.
SPD, Russland & Europa heute – ein langer Weg durch die Geschichte
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