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Europa

Russland und wir – Europäer neigen zur Selbstüberschätzung

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSamstag, 16.07.2022

Der Historiker Jörg Baberowski malt hier ein erschreckend zynisches Szenario, das ich eigentlich nicht wahrhaben möchte. Das aber durchaus realistisch sein könnte. Die Sanktionen gegen Putins Russland wirken nicht wie erhofft, die russische Armee erobert langsam und brutal ukrainischen Boden, Deutschland und andere europäische Staaten leiden unter einem russischen Gasstopp, es gibt Unruhen in den Bevölkerungen, Länder werden politisch instabil, es kommt zu einer Spaltung der EU. Wenn dann noch die USA ihre militärische Unterstützung der Ukraine zurückfahren sollten, in Deutschland und Frankreich die Zweifler überhandnehmen, hätte Putin langfristig gewonnen. Er braucht nur Geduld und etwas Glück. Dazu Baberowski: 

Putin weiß genau, dass die Zeit für ihn spielt, ganz gleich, welche Sanktionen der Westen gegen Russland verhängt. Solange China, Indien und andere Länder Öl abnehmen, wird Putin die Sanktionen durch Exporte kompensieren können. Zurzeit ist der Rubel stabil, die russische Wirtschaft ist noch nicht kollabiert. ….  Die westliche Front gegen Putin bröckelt doch schon längst. Manche Unternehmen haben sich zwar aus Russland zurückgezogen. Andere aber machen weiterhin sehr gute Geschäfte mit den Russen. Nun steigen die Preise im Westen, die Inflationsrate ist auf einem Höchststand. Sobald der Winter anbricht, werden auch wir zu spüren bekommen, was es heißt, sanktioniert zu werden.

Innenpolitisch hat Putin keine ernsthafte Opposition zu fürchten. Die Mehrheit der Russen scheinen hinter ihm zu stehen. Zumindest so lange er keine Generalmobilmachung anordnet, ist wohl auch keine Kriegsmüdigkeit zu erwarten. Er könnte so den Krieg noch lange fortsetzen, auch wenn das Volk Opfer bringen muss. Denn – so Baberowski – für die meisten Russen ist diese Aggression

überhaupt kein Krieg zwischen zwei souveränen Staaten, sondern ein Bürgerkrieg, der dem Ziel dient, eine abtrünnige Provinz ins Imperium zurückzuzwingen. Putin will die Ukrainer für ihren "Verrat" bestrafen, so sieht es die russische Öffentlichkeit. So funktioniert auch die Propaganda: Immer wieder wird an die großen Schlachten des Zweiten Weltkriegs erinnert, in dem alle Völker der Sowjetunion gemeinsam gegen die deutschen Faschisten gekämpft haben. Dass sich die einstigen "ukrainischen Brüder" von diesem Erbe abwenden, wird in Russland als "Verrat" gesehen. Das ist auch der Grund für die Unerbittlichkeit des Krieges.

Die meisten Russen haben ein Weltbild, das sich nicht an unsere Prämissen und Wertvorstellungen hält. Und dadurch wird der Westen, werden die Ukrainer mit ihren moralischen Haltungen dort nicht durchdringen. Auch wenn sie im Recht sind, auch wenn Putin eindeutig Völkerrecht bricht.

Im Recht zu sein, heißt nicht, auch zu können, was man will. Es ist zweifellos moralisch geboten, sich einem Angriffskrieg zu widersetzen. Aber wer sich ihm erfolgreich widersetzen will, darf doch auch die Grenzen des Möglichen nicht aus den Augen verlieren.

Und es fragt sich, ob die Politiker (und Bürger) des Westens sich selbst wichtige kritischen Fragen ernsthaft gestellt haben? Etwa, 

  • Welche Unterstützungen und Maßnahmen sind sinnvoll, welche nicht? 
  • Was soll und kann nach dem Ende des Krieges geschehen - egal ob Russland gewinnt oder nicht? 
  • Wie überzeugt man längerfristig Bürger in den demokratischen Ländern des Westens von der Fortsetzung von Konfrontationen?

Und das ist die nachvollziehbare Hauptkritik Baberowskis:

Es gibt keine deutsche und auch keine europäische Russland-Strategie. Das Verlangen, Russland müsse den Krieg verlieren, ist ein Verlangen, aber keine Strategie. Denn was soll dem Sieg eigentlich folgen? Und ist man sich darüber im Klaren, dass eine strategielose Konfrontation Putin in die Karten spielt und ihm hilft, die Bevölkerung hinter sich zu scharen? Die westlichen Sanktionen sollten den Rubel destabilisieren, Russland in die Zahlungsunfähigkeit treiben und seine Wirtschaft kollabieren lassen. Stattdessen machen die Europäer die Erfahrung, dass ihre Sanktionen auch ihnen selbst schaden. Ich fürchte, dass die Herren im Kreml eine Strategie haben, wie sie mit den Ländern des Westens auf Dauer verfahren. Wir haben sie nicht.

Auch wenn es viele Europäer nicht hören wollen, wir neigen immer noch zur Selbstüberschätzung, meinen wirtschaftlich sowie moralisch der Nabel der Welt zu sein. Das ist aber schon länger vorbei. 

China, Indien, Brasilien, Iran und zahlreiche andere Schwellenländer haben sich auf die Seite Putins gestellt, weil sie den Krieg gegen die Ukraine auch als eine Auseinandersetzung mit den USA, Frankreich und Großbritannien verstehen, als einen Krieg gegen ehemals mächtige Kolonialstaaten. In diesen Ländern wirken die moralischen Versicherungen der westlichen Staaten zynisch, weil man sie dort im Licht kolonialistischer Erfahrungen sieht. 

Und so könnte sich Putin durchsetzen – er kann warten. Auch ist ihm eine zerstörte Ukraine lieber als ein nach Westen orientiertes Brudervolk. Er kennt offensichtlich keine Skrupel. Er hat auch kein Interesse an Verhandlungen. Er kann z. B. ausharren, bis die aufziehenden Wirtschaftskrisen seiner fünften Kolonne in Europa helfen. Marine Le Pen und Matteo Salvini stehen schon in den Startlöchern. Ist uns Demokraten das alles ausreichend bewusst?

Russland und wir – Europäer neigen zur Selbstüberschätzung

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Kommentare 6
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor fast 2 Jahre

    Ein starkes, wenn auch erschreckendes Interview.

    Es bewegt sich in einem der Hauptströme der westlichen Sicht auf den großen Krieg im Osten.

    Am Anfang dominierte die Meinung, die Ukraine falle bald.

    Dann gab es sogar Siegesgewißheit mit westlichen Waffen.

    Mittlerweile wird deutlich, dass das nicht und auf keinen Fall schnell geschehen wird.

    Nun gibt es Vorschläge wie der Krieg beendet werden könnte, da er auch den Westen schwächt: https://www.ipg-journa...?

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

      So offen erschien (mir) die Geschichte schon lange nicht mehr. Ist erstaunlich schwer zu ertragen ….

  2. Jörg Haas
    Jörg Haas · vor fast 2 Jahre

    Oh je, Zynismus und Kapitulation als Realpolitik. Das ist dann doch eine schwache Antwort.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre

      Ein Szenario ist doch keine Realpolitik sondern mögliche Realgeschichte. Die hoffentlich nicht kommt, die zynisch unsere Wünsche und Gefühle missachten und verletzen würde. Aber durch wünschen und verdrängen allein nicht verhindert wird. Die Frage für mich ist daher, wie könnten wir ein solches Szenario verhindern?

    2. Jörg Haas
      Jörg Haas · vor fast 2 Jahre

      @Thomas Wahl Darauf gibt Baberowski keine Antwort bzw. er sucht sie auch nicht.
      Jedenfalls befördert die Verbreitung von solchen Szenarien in erster Linie ihre Materialisierung, im Sinne einer selbst erfüllenden Prophezeiung. Daher halte ich das Interview in dieser Form für nicht hilfreich.
      Ich glaube man wird am Ende folgendes tun müssen:
      1) Bessere Koordination der militärischen Hilfe für die Ukraine - statt eines Sammelsuriums von Einzelstücken braucht das Land eine standardisierte Ausrüstung und die damit verbundenen leistungsfähigen Lieferketten ( das täte auch der NATO gut).
      2) Stärkung der Ukraine soweit dass es ihr gelingt Russland aus wichtigen Teilen des Landes zurück zu drängen. Dazu gehören z.B. auch Satelliteninformationen etc.
      3) Verschärfung der Sanktionen für Exporte nach Russland über die Sanktionierung Dritter, die Sanktionen unterlaufen.
      4) Auf der Grundlage einer gestärkten Position kann die Ukraine dann evtl. Verhandlungen über einen Waffenstillstand mit Aussicht auf Erfolg führen.
      5) Die Nachkriegsordnung wird absehbar mit Putin allenfalls auf so etwas wie friedliche Koexistenz hinauslaufen. Mehr ist nicht drin. Nach dem Ende Putins wird man weitersehen.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor fast 2 Jahre · bearbeitet vor fast 2 Jahre

      @Jörg Haas Szenarien materialisieren sic nicht durch ihre Verbreitung sondern dann, wenn sie der Wirklichkeit nahe kommen. Ein Verschweigen erreicht gerade das Gegenteil - es erhöht u.U. die Selbstüberschätzung und bahnt den Pfad für das befürchtete Szenario. Natürlich muß man die Ukraine stärken und schneller/besser bewaffnen. Das bezweifelt B. auch nicht. Bei den Sanktionen sieht es schon anders aus. Man kann natürlich schlecht wirkende Sanktionen noch verstärken. Nur schießt man sich damit evtl. auch selbst ins Bein. Besonders in einer Weltlage, die man nicht mehr dominiert. In der große Staaten wie China, Indien oder Iran mehr oder weniger auf der Seite der Russen sind. Wie die Nachkriegsordnung aussieht hängt eben davon ab, wer die Oberhand behält. Genauso gut ist ein weiteres Zeitalter abwechselnd heißer und kalter Kriege denkbar - wie im 20.Jh.. Ich hoffe und wünsche mir natürlich einen "Sieg" der westlichen Demokratien. Aber wie B. richtig sagt - es ist in Rußland nicht nur Putin und global agieren starke Kräfte, die einen Erfolg des Westens nicht gerne sehen, aktiv dagegen arbeiten. Also vermutlich müssen wir uns noch gewaltig Anstrengen und endlich ein realistisches Bild von uns selbst finden - von unseren wirklichen Stärken und Schwächen. Insofern hat der Westen in der Tat keine Rußlandstrategie und wohl auch keine Globalstrategie, die den Namen verdient.

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