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Europa

Europa und die "russische Welt"

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum piqer-Profil
Thomas WahlSonntag, 01.05.2022

Wer versteht, was in Osteuropa gerade vor sich geht? Wie kann man das überhaupt verstehen? In welche Epoche entwickelt sich Osteuropa gerade hinein? Woher kommen diese postkolonialen Ideen und Konzepte auf russischer Seite? Solche Fragen stellt der belarussische Lyriker und Philosoph Ihar Babkou (Jahrgang 1964) und versucht, sie zu beantworten. 

Das Seltsame ist, so Babkou zunächst, trotz der europäischen 'Überproduktion' kritischer Theorien im 20. Jahrhundert (wie etwa der Neomarxisten, die Frankfurter, die Baudrillardschen Simulacren, Sloterdijks zynische Vernunft oder "Žižeks Glanznummern") sehen wir heute:
Sie alle sind nicht in der Lage, die neue Realität zu beschreiben, die der russisch-ukrainische Krieg und die belarussische Revolution freigelegt haben. 

Eigentlich sei klar, dass die neue "russische Welt" und ihre ideologische Doktrin auf einem postkolonialen Verhältnis Russlands zu den osteuropäischen Nachbarstaaten beruht. Nur hat das Aufkommen dieser Welt im Westen Europas kaum einer sehen wollen. Er definiert diese "Neue Welt" so:

Wenn wir über die „Russische Welt“ sprechen, meinen wir eine bestimmte ideologische Doktrin und die ihr entsprechenden Praktiken des russischen Staates, die bereits seit einigen Jahrzehnten in latenter Form im politischen und kulturellen Bereich präsent sind, aber erst 2014/2015 vollständig zum Vorschein gekommen sind. Üblicherweise setzen wir diese neue „Russische Welt“ in Anführungszeichen und markieren damit die Abgrenzung zur ideologischen Bedeutung des Begriffs in der Zeit davor, in der er die „kulturelle und wirtschaftliche Unterstützung der Russen im Ausland“ bezeichnete, ebenso wie die allgemeine Bedeutung dieser Wortgruppe, die tatsächlich alles Mögliche heißen kann (darunter auch die schöne Utopie der russischen Kultur jenseits von Barrieren, Grenzen und Mächten).

Die aktuelle "russische Welt" zeigt sich für viele überraschend als brutaler und aggressiver Neoimperialismus. Vor allem gegen ihre ehemaligen Kolonien und heutigen direkten Nachbarstaaten. 

Die wichtigste konzeptionelle Emotion, die der „Russischen Welt“ zugrunde liegt, ist die postkoloniale Haltung eines Beleidigten, die an die Oberfläche tritt als ein „Warum mag man Russland nicht“, „Warum werden Russlands Interessen nicht berücksichtigt“ und „Warum haben sie Russland vergessen“. Daher sind die Kriege an der Peripherie und die Destabilisierungsversuche der globalen Ordnung nur als Instrumente von Bedeutung, um Russlands Eintritt in die schöne neue Welt zu ebnen, in der es auch „Rechte haben“ wird. Recht auf Krieg. Auf Lügen. Auf Mord und Inhaftierung kritischer Stimmen.

Etwas, was viele im Westen nicht wahrhaben wollen, die immer noch glauben, Ursache sei die 'aggressive' NATO-Osterweiterung. Dahinter steht aber auch noch eine allgemeine "geopolitische" globale Vision unserer Welt. 
Die Vorstellung von einer Zukunft der Menschheit, in der starke Herrscher effektiv und straffrei Ressourcen und Territorien unter sich aufteilen. 

Auch wenn diese Vorstellungen schon lange in Russland reifen, der heutige konkrete große Ausbruch kam für viele von uns überraschend (das trotz vieler Vorwarnungen wie etwa der Krim-Besetzung und der Inszenierung im Donbass). 

Eine Ursache, wenn wir im Westen über die "russische Welt" reden, verschwindet schnell der ganze nichtrussische Teil Osteuropas quasi von der Landkarte. Was für das Verstehen der Prozesse eigentlich eine Katastrophe ist. Wir verstehen nicht, was dort geschieht, welche Epoche dort beginnen könnte. Babkou hat wohl Recht, die ehemaligen osteuropäischen Grenzregionen sind die Erfahrungs- und Denkorte, um Gegenwart und Zukunft zu verstehen: Das Wissen und die Sprache,

in der man konzeptuell über die neue Epoche sprechen kann, kann die Sprache der belarussischen und ukrainischen (postkolonialen) Theorie sein, ihre formalisierende und konzeptualisierende Erfahrung in der Konfrontation mit dem Imperium. Das Überleben dieser Kollision. Die Verteidigung der eigenen Subjektivität und Andersartigkeit.

Eigentlich ist es ein kleines Wunder, trotz der 200 Jahre der Dominanz des Imperiums sind die osteuropäischen Grenznationen nicht verschwunden. Sie haben die Schmelztiegel des Imperiums und der sowjetischen Nation überlebt, konnten sogar ihre "paradigmatische Andersartigkeit" stärken! Man kann durchaus sagen, sie zeichnen sich heute nicht so sehr durch ihre Regionalität aus, sondern sie sind ein wirkliches Alternativkonzept zur "russischen Welt"!

In einem klassischen Text über die Tragödie Mitteleuropas stellte Milan Kundera das Paradigma der „maximalen Vielfalt auf geringstem Raum“, das er das mitteleuropäische nannte, dem Paradigma der „geringsten Vielfalt auf größtmöglichem Raum“ gegenüber, das er auf die damalige UdSSR bezog.

Das heißt auch, dass in Osteuropa nicht nur die Ukraine verteidigt wird oder die belarussische Revolution. Nein, verteidigt wird die Diversität und das Recht auf Selbstbestimmung.

Europa und die "russische Welt"

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Kommentare 1
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor fast 2 Jahre

    In der Tat, die postkoloniale Debatte in Osteuropa ist wichtig. Vor genau 10 Jahren stellte ich dieses Buch vor, dessen letzter Text dazu immer noch knapp und treffend ist:
    https://www.blaetter.d...

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