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Europa

Die Agonie des sowjetischen Monsters

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 04.06.2023

Nikolaï Epplé, ist ein russischer Philologe und beschäftigt sich mit Erinnerungsgeschichte. Sein Buch „Die unbequeme Vergangenheit“ erschien in Russland Ende 2020 (auf Deutsch diesen Monat) und sorgte für erhebliches Aufsehen. Es verglich die Aufarbeitung der Geschichte in Russland mit sechs weiteren Ländern, darunter Deutschlands Nationalsozialismus, Spanien unter Franco, das Argentinien der Generals-Junta und Südafrikas Apartheid. Er versuchte auf diese Weise herauszufinden, wie man dort mit der Erinnerung und der Aufarbeitung von Staatsverbrechen umgegangen ist.

Der russische Wissenschaftler stellte fest, dass man überall dieselben Schwierigkeiten hat, sich der Vergangenheit zu stellen: Es ist ein langsamer und mühsamer Prozess und muss aus dem Inneren des Landes kommen, wenn er erfolgreich sein soll. Russland jedoch bildet eine Ausnahme, so seine Erkenntnis, denn dort haben die Vertuschung und die Wiederholung von Staatsverbrechen sehr viel länger überdauert als anderswo. Das hat Folgen für die Gegenwart.

Und zwar massive – die euphemistische Geschichtserzählung prägte die Nachkriegsgeschichte der UdSSR genau wie sie die Geschichte Russlands und seine Zukunft blockiert.

Epplée sieht die Aggression Russlands gegen die Ukraine als eine direkte Folge der Weigerung der russischen Führung, die sowjetische Vergangenheit aufzuarbeiten. Was auch daran liegt, dass sich der russische Staat als eine Art Quasi-UdSSR definiert, mit vergleichbaren imperialen Ambitionen. Auch handelt Russland weiter nach dem grundlegenden Prinzip, wonach der Staat und seine Interessen über den Wert des menschlichen Lebens, über den Interessen seiner Bürger, steht. Und so sieht der russische Staat

die Länder der ehemaligen UdSSR nach wie vor mit einer kolonialen Brille, als wären diese keine vollwertigen, eigenständigen Staaten. Und deshalb ist es auch die Loslösung der Ukraine aus der russischen Einfluss-Zone 2013-14, die diesen Krieg verursacht hat.

Nebenbei, auch in D. habe ich manchmal den Eindruck, als ob einige Analysten, Medien und Politiker die ehemaligen Sowjetrepubliken als nicht ganz vollwertig wahrnehmen. Teile der Sowjetromantik haben wohl bei uns überlebt. Die kritische Tiefe, die wir bei der Geschichte des Nationalsozialismus erreicht haben, findet sich bei der Analyse des Bolschewismus (und des 'nie wieder' Gulag?) seltener. 

Es gab nach 1945 natürlich einige Versuche der Aufarbeitung des Stalinismus in der Sowjetunion (und im Ostblock) und dann in der Russischen Föderation. Erstmals kritisierte Chruschtschow 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU in seiner "geheimen" Rede "Über den Personenkult und seine Folgen" Stalin und die mit ihm verbundenen Verbrechen. 

Zuhörer berichteten nach 1989, das Publikum habe die Rede in völligem Schweigen und mit lähmendem Entsetzen aufgenommen. Es habe keine Aussprache gegeben. Jede mündliche oder schriftliche Weitergabe des Gehörten wurde den Delegierten untersagt. Nur loyale Parteimitglieder waren zugelassen, Journalisten waren verboten. Kopien der Rede gingen im März 1956 an die Staatschefs im Ostblock. Der polnische Staatspräsident und Parteichef Bolesław Bierut erlitt bei der Lektüre der Rede einen Herzanfall und verstarb zweieinhalb Wochen später in Moskau.

Die Gesamtproblematik des ‚Bolschewismus' blieb allerdings außen vor. Aber es begann die sogenannte Tauwetter-Periode, die dann spätestens mit der Entmachtung Chruschtschows 1964 zu Ende ging. Weitere Perioden der Aufarbeitung der Sowjet-Geschichte findet man in den 80er-Jahren unter Gorbatschow. Und dann später zwischen 2019 und 2020, so Nikolaï Epplé, wo es beinahe zu einem „Durchbruch der Erinnerungen“ kam.
Nach den Protesten der Bevölkerung in den Jahren 2011 bis 2012 wurde dem Kreml klar, dass die Versuche, eine „souveräne Demokratie“ (Putins gelenkte Demokratie? Th.W.) zu entwickeln – die zwar den Anschein von Freiheit und demokratischen Institutionen vermittelte, gleichzeitig aber von Männern des KGB mit einer antidemokratischen Einstellung kontrolliert wurde – eindeutig gescheitert war. Also gingen die russischen Machthaber zu einem Mobilisierungsszenario über, das sich 2014 als „Renaissance des Stalinismus“ konkretisierte. Dieser Versuch, die Gesellschaft einzuschüchtern und sie daran zu erinnern, dass sie von einer „Eisernen Faust“ regiert wurde, führte wiederum dazu, dass man sich intensiver für Veröffentlichungen zum Thema „sowjetischer Terror“ interessierte …. Die Folge davon war eine Situation, die dem nahekommt, was ich den „Durchbruch der Erinnerungen“ nenne.

Und so bleiben dem Kreml nur zwei Strategien: den Wandel der Zeiten geschehen lassen, zurückzuweichen und sich der Debatte zu stellen – was sicher zum Machtverlust geführt hätte. Oder sich dagegen zu wehren und das Land quasi in die sowjetische Vergangenheit zurückzuholen. 

Und zwar nicht in die tatsächliche UdSSR, sondern ihren halb verwesten Leichnam. Allerdings war diese Rückkehr in die Vergangenheit ohne einen gewaltsamen Bruch mit der gewohnten Ordnung der Dinge, also ohne Krieg, gänzlich unmöglich. Und so ist der Beginn dieses großen Krieges gegen die Ukraine eine direkte Folge dieser Weigerung, einen definitiven Schlussstrich unter die sowjetische Vergangenheit zu ziehen und den Leichnam der UdSSR zu begraben.

Vielleicht zeigt sich hier sogar die Agonie des Geschichtsnarrativs vom russischen Imperium insgesamt. Jedenfalls wird überdeutlich, wie stark politisches Agieren in der Gegenwart mit der kritischen Aufarbeitung der Geschichte bzw. mit der Nichtaufarbeitung korreliert. Und es stimmt wohl, 

das Beispiel Russland ist in dieser Hinsicht außergewöhnlich und eigentlich nur mit China vergleichbar, wo das autoritäre Gedankengut nun schon drei Generationen andauert. Das macht jetzt die Russen nicht etwa zu Wesen einer anderen Art, zwingt einen aber doch dazu, eine spezifische Vorgeschichte zu beherzigen, wenn man das Verhalten der russischen Gesellschaft in Krisenzeitung analysieren will. In dieser Hinsicht ist die Reaktion der Russen auf den Krieg sehr aufschlussreich, ebenso wie die Probleme des Westens, diese Reaktion zu deuten.

Und diese Schwierigkeit des Verstehens zwischen Völkern, die gewissermaßen in unterschiedlichen Erfahrungs- und Interpretationswelten leben, ist nicht mit der Werte-Diskussion zu überbrücken. Eigentlich wissen wir nicht wirklich, was "die russische Gesellschaft", geprägt von ihrer diktatorischen Vergangenheit, über der Politik ihres eigenen Staates denkt. Sie ist es gewohnt, ihre Meinung für sich zu behalten. Wir hören vor allem, was der Machtapparat als öffentliche Meinung ausgibt, vorgibt. Und einzelne Stimmen der Opposition.

Was zu der Frage führt, ob Russland eines Tages eine Demokratie sein kann, sein wird? Dazu Epplée: 

Die Demokratie ist kein universelles Heilmittel und funktioniert auch nicht in allen Fällen auf ideale Weise. Die Vorgeschichte, unter der Russland leidet, ist sehr ernst, und der Patient befindet sich heute in einer sehr ernsten Krise – er muss erst einmal überleben! Unter diesen Bedingungen von einem Heilungsprozess zu sprechen, wäre verfrüht. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass es keine spezifischen Mechanismen gibt, die verhindern würden, dass Russland demokratiefähig wäre oder dass es zu einer bestimmten Sklavenmentalität neigt. Auch der Versuch, aus Russland eine Bastion der „traditionellen Werte“ gegen die Globalisierung und die Toleranz zu formen, beruht auf einer totalen Manipulation. Die russische Gesellschaft ist zutiefst anti-traditionell. Sie wird nicht von konservativen Werten dominiert, sondern von Zynismus und Skepsis. Und genau diese Eigenschaften dürften das größte Hindernis in Bezug auf demokratische Reformen darstellen, so sie in Zukunft denn überhaupt möglich sind.

Hoffen wir also, dass der Ukrainekrieg wirklich "der letzte Pfahl ist, den Wladimir Putin in den Kadaver der UdSSR treibt", den er eigentlich wiederbeleben will. 

Dieser Artikel stammt aus der Zeitungskooperation Leading European Newspaper Alliance (LENA) – neben WELT gehören dazu Italiens „La Repubblica“, „El País“ aus Spanien, „Le Figaro“ aus Frankreich, „Gazeta Wyborcza“ aus Polen, „Le Soir“ aus Belgien sowie aus der Schweiz „La Tribune de Genève“ und „Tages-Anzeiger“. Er ist also ein Ansatz für die europäische Diskussion. Der Text erschien zuerst in „Le Figaro“. Leider auch dort nur offen für Abonnenten. 

Die Agonie des sowjetischen Monsters
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Kommentare 1
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 11 Monaten

    Ich las nur Deine Einschätzung, die überzeugend klingt, da ich mir das Weltabo spare. Buch und Autor sind mir empfohlen worden und am 27. Juni gibt es eine Vorstellung in Berlin, die ich wahrscheinlich besuche:
    https://www.suhrkamp.d...

    Während Gorbatschow kein Staatsbegräbnis erhielt, sind etliche der Putschisten von 1991, wenn sie nicht gestorben sind, heute in führenden Positionen. Ein Beispiel ist der mutmassliche Kriegsverbrecher Surowikin: Putsch, Tschetschenien, Syrien, heute in der Ukraine.
    https://de.wikipedia.o...

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