https://www.piqd.de/europa-eu.atomEuropaWenn es doch nur Katzen gäbe als EU-Politiker oder mehr varoufakische Biker-Bürokraten, aber nein: Selbst in Zeiten dramatischer Krisen zeigt sich Brüssel gewohnt momo-grau. Aber hilft ja nix: Wenn es sein muss, berichten wir über die europäische Idee so unterhaltsam wie Dschungelcamp-Korrespondenten. Hauptsache, wir diskutieren endlich wieder gemeinsam, was wir jetzt mit diesem Projekt anstellen, das uns immerhin den längsten Frieden auf diesem Kontinent beschert hat.2024-03-17T10:49:06+01:00https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/abgeschwacht-aber-sie-kommt-die-eu-lieferkettenrichtlinie2024-03-17T10:49:06+01:002024-03-17T10:49:06+01:00Abgeschwächt – aber sie kommt: Die EU-Lieferkettenrichtlinie<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Die EU-Lieferkettenrichtlinie kommt nun doch dank des Verhandlungsgeschicks der belgischen EU-Ratspräsidentschaft – zwar abgeschwächt, aber der peinliche Widerstand der Berliner Bundesregierung hat sie nicht verhindern können. In welchen Punkten die Richtlinie abgeschwächt wurde hat Anna Brunetti in ihrem Beitrag „EU-Lieferkettengesetz wird stark abgeschwächt: 70% weniger Unternehmen betroffen“ für Euractiv zusammengefasst.Weshalb die EU-Lieferkettenrichtlinie aber trotz aller Abschwächungen ein Erfolg auf globaler Ebene ist, dass hat Hannes Koch in einem Kommentar für taz begründet. Siehe auch meine vorhergehenden piqs zum Thema EU-Lieferkettenrichtlinie:
„Das Lieferkettengesetz aus Sicht der Begünstigten“
"Entmythologisierung des EU-Lieferkettengesetzes"
"Wie weiter mit der EU-Lieferketten-Richtlinie?"
Ergänzung vom 20. März 2024
Der Kern der Richtlinie – Menschenrechte und Umweltschutz – ist unangetastet geblieben (die EU nimmt ihr Engagement für Menschenrechte letztlich doch ernst und setzt damit global Maßstäbe). Siehe dazu auch das taz-Interview von Hannes Koch mit dem Völkerrechtler Markus Krajewski vom 20.03.2024): Experte zu EU-Lieferkettengesetz: „Europa übernimmt Verantwortung".
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-wahl-der-qual-woher-kommen-kunftig-europas-rustungsguter2024-03-15T11:00:50+01:002024-03-15T11:00:50+01:00Die Wahl der Qual. Woher kommen künftig Europas Rüstungsgüter?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Lucas Hellemeier forscht an der Freien Universität Berlin zur Globalisierung der Rüstungsindustrie nach dem Ende des Kalten Kriegs. Fest stehe: Will sich die EU global behaupten, muss sie sich mehr um die eigene Sicherheit kümmern.Die durch den Krieg Russlands in der Ukraine ausgelösten Entwicklungen in der europäischen Rüstungsindustrie verdeutlichen das politische Spannungsfeld, in dem sich Europas Verteidigungspolitik bewegt.Europa stehe vor einer Entscheidung: Für die Versorgung der Ukraine und die eigene Sicherheit könne sie schnell verfügbare US-Rüstungsgüter kaufen – oder einen europäischen Sektor schaffen. Dabei sieht sie sich enormen Hürden gegenüber. Die Rüstungspolitik in der EU stecke derzeit fest – und zwar zwischen der Abhängigkeit von US-amerikanischen Produzenten und den vielfältigen Interessen der Mitgliedstaaten.Um die Versorgung Europas mit Rüstungsgütern mit einem möglichst hohen europäischen Anteil sicherzustellen, bedarf es eines „großen Wurfs“.Hellemeier bringt in seinem Beitrag verschiedene Stimmen zusammen: Die, die der Aufrüstung der EU auch aus logistischen Gründen skeptisch gegenüberstehen. Die, die den Export europäischer Waffen in undemokratische Staaten kritisch sehen. Optionen, Logiken und Hürden zeichnet er in seinem Beitrag nach – und ist auch als Videobeitrag hier verfügbar.
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te.ma Open Science, Civil Discoursehttps://www.piqd.de/users/tema.open-science-civil-discoursehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/warum-und-wie-uberleben-demokratien-uberhaupt2024-03-06T12:52:04+01:002024-03-06T12:52:04+01:00Warum und wie überleben Demokratien überhaupt?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Im "MERKUR„ wirft Thomas Etzemüller, mit Blick auf die 30er Jahre, die Frage auf, wie stabil Demokratien damals eigentlich waren und heute wieder sind? Das eigentliche Wunder ist doch, warum und wie so komplizierte Gebilde wie Demokratien funktionieren. Aber unser Blick in das 20. Jahrhundert beschäftigt sich meist damit, warum sie so oft pervertierten und untergehen konnten. Nicht warum doch einige Bestand hatten und sich die Idee der Demokratie nach den 2. Weltkrieg wieder erholt hat?Der Autor hat sicher recht, viele unserer einflussreichen und vielgelesenen Historiker haben in ihren Geschichtswerken zu Europa im 20. Jahrhundert diese Ambivalenzen eher eliminiert:Die Titel sind sprechend: Age of Extremes (Eric J. Hobsbawm), Höllensturz (Ian Kershaw), The Dark Valley (Piers Brendon), Das Europa der Diktaturen (Gerhard Besier). In solchen Darstellungen wird die europäische Geschichte latent in eine Korridorperspektive gezwängt: Der politische Gegensatz von Demokratie und Diktatur zieht sich von der (stalinistischen) Sowjetunion über das Deutschland des (totalitären) »Sonderwegs« hinüber zum demokratischen Großbritannien, nebenan Frankreich, im Hintergrund die USA. Länder jenseits des Korridors, die dieses Bild modifizieren würden, und die zentraleuropäischen, etwas eigentümlichen Demokratien der Niederlande oder Belgiens, die ihre Konflikte damals erfolgreich in »Säulen« gegossen oder in ein permanentes Krisenmanagement transformiert hatten, werden in der Regel ignoriert.Aus der Sicht einer solchen Geschichtswissenschaften ergibt sich fast zwangsläufig das Bild der erneut drohenden Zerstörung der europäischen Demokratien. Zumindest, wenn wir nicht mit sehr dramatischen Aktionen dagegenhalten.Wieder scheint eine komplexe, multiple Krisensituation moderne Gesellschaften zu überfordern. Damals aufgrund der Folgen des Weltkriegs, von Inflation und der unkontrollierbaren Weltwirtschaftskrise, die im Mittleren Westen der USA mit einer ökologischen Katastrophe einherging. Heute Klimawandel, Kriege und Flüchtlingskrise. Die Zeit politischer Utopie scheint beendet, und mit zahllosen Feuerwehraktionen bekommen die westlichen Gesellschaften ihre Wald- und politischen Brände nur noch mühsam und kurzfristig unter Kontrolle.Dabei sollte, mit Luhmann gesprochen, klar sein, dass man in modernen komplexen Gesellschaften Stabilität nur bedingt erwarten darf. Dank zahlloser Variationsmöglichkeiten lassen sich gegebene Relationen und Strukturen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dauerhaft stabilisieren. Wir werden also mit Friktionen, Instabilitäten und nicht planbaren Übergängen in neue Strukturen leben müssen. Wie können wir helfen, diese mit möglichst wenig Gewalt und totalitären Maßnahmen zu überstehen, fragt m.E. zu Recht:Indem wir analysieren, wie Brandstifter und Opportunisten schon einmal vorgegangen sind? Oder indem wir diejenigen optimistischen Pragmatiker in den Blick nehmen, die seinerzeit Demokratien am Laufen gehalten haben? Warum gibt es zahlreiche Forschungsprojekte zu Gewalt und antidemokratischen Akteuren, aber keines – oder kaum eines – zur friedlichen Kooperation? Ergibt sich das aus der Sache selbst oder bloß aus heutigen Rezeptionsmustern? Aus der selbstzerstörerischen Dynamik der medialen Aufmerksamkeitsökonomie – Zersetzung »sells« –, an der Lust an multiplen Katastrophen? Wenn wir so betont einseitig auf die Geschichte der Demokratie blicken – warum reden wir uns dann ein, sie verteidigen zu wollen?Das Problem dabei fängt schon bei der Interpretation und den Entscheidungen ab, wann Staaten eigentlich Demokratien sind. Etzemüller weißt mit vielen interessanten Beispiel auf die Unschärfe solcher quantitativer und/oder qualitativer Analysen und Konzepte hin. Stehen mehrere Parteien zur Wahl? Verhindert ein Staat Wahlbetrug? Ist die Regierung gegenüber dem Parlament verantwortlich? Liegen das Bruttosozialprodukt unter oder über 200 Dollar, der Urbanisierungsgrad unter oder über 50 Prozent, die Alphabetisierungsquote unter oder über 75 Prozent? Sind mindestens 50 Prozent der Erwachsenen – oder der Männer – wahlberechtigt? Schon mit dem Kriterium »universales Wahlrecht« könnte man »die USA erst ab 1920, Großbritannien erst ab 1928 und etwa Belgien, Frankreich und die Schweiz in der Zwischenkriegszeit zu keinem Zeitpunkt als Demokratien einstufen«. Deshalb macht der Politologe Steffen Kailitz für diese Zeit gar keine vollendete Demokratie aus.Die kurze Schilderung von Beispielen unterschiedlicher europäischer Staaten, die sich damals als »Demokratien in einer Grauzone zwischen Scheitern und Überleben bewegen« bewegten, ist sehr lesenswert. Aber bewußt auch irritierend. Ich denke, wir müssen in unseren Auseinandersetzungen zu Demokratie und ihren Gefährdungen einerseits viel differenzierter und genauer werden. Andererseits aber auch skeptischer, irritierter, was unsere schwarz/weiß Narrative und "Feindbilder" betrifft. Und gelassener?
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/vom-musterschuler-zum-problembaren2024-03-05T16:31:15+01:002024-03-05T16:31:15+01:00Vom Musterschüler zum Problembären<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Lange hielt Deutschland sich für ein eher vorbildliches Mitgliedsland der Europäischen Union. Doch schon seit einiger Zeit zeigt dieses Selbstbild Risse, zuletzt, weil die Bundesregierung auf Druck der FDP wiederholt EU-Gesetzgebungsverfahren in letzter Sekunde torpedierte oder es versucht hat. Doch offensichtlich steht die Berliner Bundesregierung nicht allein bei Gesetzgebungsverfahren in Brüssel häufiger auf der Bremse, sondern auch in Berlin, wenn es um die Umsetzung von EU-Richtlinien in mitgliedsstaatliches Recht geht. Das jedenfalls schreibt Nick Alipour in einem Artikel für das Nachrichtenportal Euractiv. Alipour bezieht sich dabei auf den aktuellen Binnenmarktbericht der EU-Kommission, der Deutschland in die unterste Kategorie einstuft – nur Ungarn erweist sich als noch schlechter als die Bundesrepublik in der Umsetzung von EU-Recht.Der Autor zitiert aber nicht nur aus dem Binnenmarktbericht, er fragt auch nach den möglichen Ursachen für diese durchaus besorgniserregende Entwicklungen und nach den Folgen für die EU als ganze.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/afd-svp-und-fpo-vergleichbar-aber-nicht-gleich2024-03-03T17:22:53+01:002024-03-03T17:22:53+01:00AfD, SVP und FPÖ - vergleichbar aber nicht gleich<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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In der NZZ versucht sich eine Gruppe von Autoren an einem Vergleich der Parteien am rechten Rand in Deutschland, der Schweiz und in Österreich. Wie und warum sind sie entstanden? Was macht sie aus, wodurch unterscheiden sie sich? Ist rechts und links noch die treffende Unterscheidung?Für die Autoren werden rechte Parteien durch ihre kritische Haltung zum Thema Migration sowie eine scharfe Rhetorik vereint. Das erscheint mir als Analyse etwas dünn, man müßte sich auch noch das Menschenbild dahinter genauer anschauen. Jedenfalls schlußfolgert der Artikel:Wer näher hinschaut, sieht neben Gemeinsamkeiten aber auch viele Unterschiede. Die drei grossen rechten Parteien in der Schweiz, Deutschland und Österreich sind jedenfalls zu speziell, um sie in einen Topf zu werfen. Das fängt schon mit den Ursprüngen von SVP, AfD und FPÖ an.Schauen wir also auf die Ursprünge und Gründer. Bei der AfD waren es bekanntlich die Ablehnung gegenüber dem Euro, die 2013 zur Gründung der Partei führte. Merkels Argument der Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen wurde zum Trigger für die Namensgebung - wir sind die Alternative.Die AfD begann als wertkonservative Bewegung, die sich vor allem für eine andere Finanz- und Wirtschaftspolitik einsetzte. Später bekamen aber weit rechte und rechtsradikale Positionen mehr Zulauf und Gewicht in der Partei. In ihrer Wähleransprache begreift sich die AfD als Anti-Establishment-Partei. 2017 schaffte sie den Einzug in den Bundestag und ist heute in 14 von 16 deutschen Landesparlamenten vertreten.Die Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) ist wesentlich älter. Sie wurde bereits 1955 als Nachfolgepartei des Verbands der Unabhängigen (VdU) gegründet. Dieser Verband sah sich nach dem Krieg als politische Vertretung ehemaliger österreichischer Nationalsozialisten und Deutschnationaler. Lange kam die FPÖ bei nationalen Wahlen nicht über 5 bis 8 Prozent der Stimmen hinaus. Wurde aber damit sowohl von den Konservativen (ÖVP) wie auch von den Sozialdemokraten (SPÖ) als mögliche Mehrheitsbeschafferin gesehen. Nach Jörg Haiders Machtübernahme 1986 stieg die FPÖ zu einer Vorreiterin der europäischen Rechten auf. Der charismatische Demagoge öffnete sie für neue Wählerschichten, in den neunziger Jahren kam sie so auf über 20 Prozent der Stimmen. Unter den ÖVP-Kanzlern Wolfgang Schüssel (ab dem Jahr 2000) und Sebastian Kurz (ab 2017) regierten die Freiheitlichen neuerlich auf Bundesebene, die Koalitionen waren aber von Affären geprägt und von eher kurzer Dauer. Bei der im kommenden Herbst anstehenden Parlamentswahl könnte die FPÖ unter Herbert Kickl aber erstmals überhaupt stärkste Kraft werden.Die Gründung der Schweizerische Volkspartei (SVP) fällt in das Jahr 1971. Die Parteigeschichte jedoch reicht zurück bis 1917, als die Zürcher Bauernpartei entstand. Die SVP war damit laut Wikipedia ursprünglich eine zentristische Bauernpartei, wandelte sich jedoch ab den 1980er-Jahren von einer rechtsbürgerlich-konservativen in eine rechtspopulistische Volkspartei.Prägende Figur der SVP ist bis heute der Unternehmer und Industrielle Christoph Blocher. Von 1977 bis 2003 war er der Präsident der SVP des Kantons Zürich. Er gab das Amt ab, als er mit knappem Resultat in den Bundesrat gewählt wurde. Der Berner Flügel der SVP galt immer als regierungsnaher als der Zürcher. Das änderte sich an einem Sonderparteitag im Jahr 2000, der als «Züri-Putsch» in die Partei-Annalen eingehen sollte. Die ganze SVP wurde nun auf den scharfen Zürcher Kurs getrimmt. …. Im Jahr 2003 wurde Blocher nicht nur in den Bundesrat gewählt, die SVP errang national einen historischen Sieg und wurde mit einem Wähleranteil von 26,7 Prozent zur stärksten politischen Kraft der Schweiz.
Die Ziele der Wirtschafts- und Sozialpolitik der drei Parteien fasst der Artikel so zusammen - "Leistungen primär für Inländer". Die AfD beruft sich demnach grundsätzlich auf die Soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard. Sie fordert Steuersenkungen, um Bürger und Mittelstand zu entlasten. Zugleich bekennt sie sich zu Tarifverträgen, Arbeitnehmervertretungen und Mindestlohn. Sozialleistungen sollen beibehalten, für Menschen ohne deutschen Pass aber begrenzt werden. Das Rentenniveau soll durch eine kapitalgedeckte ergänzende Altersvorsorge steigen.Die FPÖ zeichnet sich durch ihren Spagat zwischen wirtschaftsliberalen Positionen und sozialpolitischen Versprechungen aus. Letztere allerdings nur für Inländer.So plädiert die Partei in ihrem Programm für niedrige Steuern statt Umverteilung und einen schlanken Staat. Vermögens- und Erbschaftssteuern lehnt sie ebenso ab wie eine Senkung der Arbeitszeit oder auch die Energiewende.Die Positionen der SVP in der Finanz- und Wirtschaftspolitik ähneln stark der Schweizer FDP. Sie plädiert darinfür tiefe Steuern und Abgaben, einen liberalen Arbeitsmarkt und einen international offenen und gut vernetzten Finanzplatz. Im Unterschied zu anderen europäischen Parteien am rechten politischen Rand ist die Finanz- und Steuerpolitik der SVP restriktiv. So wehrt sie sich vehement – und mitunter gegen einen beträchtlichen Teil der eigenen Wählerschicht – gegen einen weiteren Ausbau der Sozialwerke.In der Aussen- und Sicherheitspolitik sind diese Parteien in ihrer EU-Skepsis vereint. Für die AfD ist die Europäische Union ein gescheitertes Projekt. Dazu in ihrem Europa-Wahlprogramm:„Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt“, ….. Man strebe daher einen „Bund europäischer Nationen“ an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, in der die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt sei. Diese neue Form des Zusammenlebens dürfe in Deutschland aber nur durch eine Volksabstimmung entschieden werden.Der gemeinsame Binnenmarkt soll allerdings beibehalten werden. Gleichzeitig sieht sich die AfD als Friedenspartei gegen die angeblichen «Kriegstreiber» in der deutschen Regierung und in den Unionsparteien CDU/CSU.
Sie lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab und tritt für einen Waffenstillstand im russischen Angriffskrieg gegen das Land ein. Die Sanktionen gegen Russland sollen aufgehoben werden.Die aussenpolitischen Positionen der AfD sind von Antiamerikanismus geprägt. Die Partei verlangt unter anderem den Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa. Sie fordert die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht und begrüsst die Erhöhung der Verteidigungsausgaben.Die FPÖ war Anfangs eine treibende Kraft für einen EG-Beitritt. Jörg Haider war es, der 1991 mit kritischen Äußerungen zur EG einen Positionswechsel innerhalb der Partei einleitete. Heute geltendie Freiheitlichen ….. als EU-skeptisch und treten für ein subsidiäres Europa ein. Sie sind grundsätzlich aber gegen einen Austritt Österreichs aus der EU. Falls die EU die Türkei als Mitglied aufnimmt oder die Union in Zukunft keine Reformen bzgl. mehr Eigenständigkeit der einzelnen Staaten anstrebt, soll eine Volksabstimmung über die Haltung Österreichs zur EU entscheiden.Man tritt für eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik ein, die im Einklang mit der österreichischen Neutralität steht. Sie sind für Volksabstimmungen bei Vertragsänderungen und ein größeres Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Mitgliedsstaaten.Die SVP kämpft in ihrer Aussenpolitik gegen eigentlich alle Projekte der Einbindung der Schweiz in irgend welche supranationale Strukturen. Sie vertritt eine strikte Auslegung der Neutralität des Landes und setzt auf die traditionelle Rolle der Schweizer Armee als Garantin der Landesverteidigung. Und so wehrt sich die Partei auch gegen eine weitere politische Integration des Landes in Europa.
1992 hatte sich die Schweizer Stimmbevölkerung mit einem Nein-Anteil von 50,3 Prozent gegen den Beitritt gestellt. Heute ist die SVP dagegen, dass die Schweiz als Ersatz für die langsam erodierenden bilateralen Verträge einen institutionellen Vertrag mit der EU eingeht. Unter der Themenführerschaft von Blocher setzt sich die SVP zudem für eine immerwährende und bewaffnete Neutralität ein. Einige Exponenten in der Partei fallen immer wieder mit prorussischen Positionen auf. Die Haltung der SVP ist aber ambivalent. Sie sieht in Russland den Aggressor im Ukraine-Krieg, will die Schweiz in dem Konflikt jedoch schlicht neutral halten.
Wer wählt diese Parteien? Die Autoren versuchen das unter dem Motto zusammenzufassen - Unzufriedene und «kleine Leute». Was natürlich extrem schwammig ist. Sicher, die AfD zielt mit ihrer Ansprache auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Besonders gilt das für die deutsche Asyl- und Migrationspolitik. Aber auch andere Trigger-Themen werden sofort aufgegriffen - man erinnere sich an die Coronapolitik. Und je weniger die etablierten Parteien anstehende Probleme lösen, um so stärker wird die AfD:
Zunächst zog die Partei vor allem enttäuschte Wähler von CDU und CSU sowie ehemalige Nichtwähler an. Doch zuletzt liefen auch frühere Wähler von SPD, Grünen und FDP in Scharen zur AfD über. In Ostdeutschland erreicht die Partei heute doppelt so hohe Stimmanteile wie im Westen. In Sachsen und Thüringen war sie bereits bei der Bundestagswahl 2021 stärkste Partei. In beiden Bundesländern stehen im Herbst Landtagswahlen an, und die AfD liegt in den Umfragen beide Male vorne. Gleiches gilt für Brandenburg, wo ebenfalls ein neues Landesparlament gewählt wird. Die Hochburgen der Partei liegen in Regionen, in denen sich viele Menschen wirtschaftlich abgehängt fühlen. Zwei Drittel der AfD-Wähler sind männlich.
Die Einschätzungen zur soziologischen Zusammensetzung der FPÖ-Wähler sind nicht ganz einheitlich. Klar scheint, dass die Wähler der FPÖ sich aus jenen bilden, die sich von nationalkonservativem Gedankengut ansprechen lassen und nicht zu Gewinnern der Modernisierung und der Globalisierung gehören. Wobei nur 40 Prozent der FPÖ-Wähler „Kernwähler“ sind. Die Mehrheit der Wähler besteht aus Protestwählern. Auch der Bildungsgrad spielt eine Rolle.Die FPÖ war bis zu ihrer «rechtspopulistischen Wende» unter Haider eine Honoratioren-Partei der Akademiker und Selbständigen. Seither positioniert sie sich als Protestpartei, die lange Zeit mit ihrer Kritik am «rot-schwarzen Machtkartell» Stimmen holte. Sie gewann zunächst vor allem die Stimmen der Arbeiterschaft. Ihr typischer Wähler war bei der jüngsten Nationalratswahl im Jahr 2019 männlich, unter 30 Jahre alt, mit geringem Bildungsniveau und unzufrieden mit der Regierung.Die SVP galt lange als Partei der Bauern und der «kleinen Leute». Ist aber wohl eine straff geführte und einheitlich auftretende rechtspopulistische Protestbewegung, die in der ganzen Schweiz in den meisten sozialen Schichten Anhänger findet. In den letzten Jahren verfolgte sie in verschiedenen Sachfragen einen pointierten Oppositionskurs, den sie auch nach der Wahl von Blocher in den Bundesrat in ihrer grossen Mehrheit nicht aufgab. Damit führte sie – ähnlich wie die Sozialdemokraten, aber noch akzentuierter als diese – eine Doppelrolle als Regierungs- und Oppositionspartei.Laut NZZ rekrutiert sich ihre Kernwählerschaft aus Arbeitern und Gewerbetreibenden. Die Wähler der SVP haben zwar seltener einen Hochschulabschluss, aber verdienen im Schnitt deutlich mehr als etwa die Wähler der Grünen in der Schweiz.Ein wesentlicher Unterschied zwischen den drei rechtsextremen Parteien scheint mir der Umgang der anderen Parteien mit ihnen zu sein. Während alle etablierten deutschen Parteien eine Koalition mit der AfD bisher strikt ausschließen (was wohl auf kommunaler Ebene nicht immer funktioniert), wurde die FPÖ dagegen praktisch seit ihrer Entstehung von den beiden einstigen Grossparteien SPÖ und ÖVP als Mehrheitsbeschafferin umworben. 1983 kam es in einer «liberaleren» Phase der Freiheitlichen zu einer ersten Regierungsbeteiligung mit der SPÖ. Die ÖVP koalierte auf Bundesebene zwei Mal mit der FPÖ, nachdem diese schon eine starke rechte Kraft geworden war. Zur AfD hat die FPÖ einen engen Draht.Die Schweiz hingegen kennt kein System der Koalitionen. Aber in den kommunalen, kantonalen und nationalen Parlamenten und Regierungen arbeitet die SVP gibt es Zusammenarbeit, am engsten mit der FDP: Das Verhältnis hat in jüngster Zeit aber Risse bekommen. Das Wachstum der SVP ging seit je auch auf Kosten der FDP. International arbeitet die SVP mit keiner anderen Partei zusammen und hält Distanz zu anderen Rechtsparteien.Werfen wir mit „The Economist" noch einen Blick nach Frankreich und den Rassemblement National (RN), ehemals Front National (gegründet 1972). Seit Marie Le Pen 2011 den Front National übernahm (und ihn in Rallye Nationale umbenannte), hat sie aus dieser Paria-Organisation eine regierungsfähige Partei gemacht. Mehr als 60 % der Franzosen sehen die rn inzwischen als eine politische Partei wie jede andere. Fast zwei Drittel der Wähler glauben, dass sie die Wahlen gewinnen kann, gegenüber 40 % im Jahr 2018. Eine Mehrheit der Franzosen befürchtet nicht mehr, dass die rn eine "Gefahr für die Demokratie" darstellt.Der "Economist" schätzt, das Marie Le Pen in der nächsten Präsidentschaftswahl ein noch ernster zu nehmender Gegner sein wird. Bereits im Jahr 2022 holte sie fast 42% der Wählerstimmen. Beim nächsten Mal wird sie vermutlich noch besser abschneiden. Was gerade in diesem Land besonders heikel sein könnte:Frankreich ist ein Land, wie es kein anderes gibt. Es ist atomar bewaffnet, hochgradig zentralisiert und konzentriert ungewöhnliche Befugnisse in den Händen einer einzigen Person - einschließlich der Möglichkeit, das Parlament aufzulösen, den Premierminister zu ernennen und zu entlassen und den Chef der Streitkräfte, staatlicher Unternehmen, Institutionen und der Rundfunkbehörde zu ernennen. Im benachbarten Italien, wo die relativ gemäßigte Amtsführung von Giorgia Meloni die Befürchtungen mancher Beobachter hinsichtlich eines Präsidenten Le Pen zerstreut, wird der Ministerpräsident vom Staatspräsidenten ernannt, der als Kontrolle der Exekutivgewalt fungiert.Die Zukunft ist offen. Allerdings die außenpolitischen Spannungen und auch die globalen wirtschaftlichen Prozesse sprechen m.E. nicht für verstärkte links-liberale Entwicklungen in Europa. Die Verteilungsspielräume werden enger. Das wird nicht gleich zu einer "faschistischen Europäischen Union" führen. Aber konservativer wird unser Kontinent wohl werden, dabei nicht zwangsläufig unsozialer.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-ratsel-der-westlichen-ukrainepolitik2024-02-27T08:13:35+01:002024-02-27T08:13:35+01:00Die Rätsel der westlichen Ukrainepolitik<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Es kam sehr viel zusammen während der Münchner Sicherheitskonferenz. Vom Tod Alexej Nawalny's, über die Einnahme der Stadt Awdijiwka in der Ostukraine durch russische Truppen bis hin zum zunehmenden Munitionsmangel der Ukrainer, der andauernden Weigerung Deutschlands Taurus zu liefern und der Blockade der amerikanischen Hilfsgelder durch die Republikaner. Dann kündigt Trump auch noch an Beitragszahlern der NATO, die das 2%-Ziel nicht einhalten, den amerikanischen Schutz zu entziehen. Die Sanktionen gegen Rußland wirken immer noch nur sehr moderat. Auch wenn das so nicht von ihm geplant war - "Wladimir Putin muss diesen Moment genossen haben". So die Schlußfolgerung von Nicholas Vinocur in POLITICO. Der in dem empfohlenen Artikel versucht Geschichte und Wurzeln der westlichen Ukrainestrategie herauszuarbeiten.Er zeigt eine Strategie des Versagens, der falschen Einschätzungen, des Verpassens von Gelegenheiten und Momenten, eine Strategie der Zurückhaltung und Ängste. Garniert immer wieder von großen Worten und einer Hilfe, die zum Sterben zu viel und zum Siegen zu wenig ist. Die, so die WELT in ihrem Nachdruck (auf Deutsch hinter dem Paywall), zentral von US-Präsident Biden und Bundeskanzler Scholz geformt wurde.
Es mag zu früh sein, um zu sagen, dass der Westen den Krieg in der Ukraine verlieren wird - aber es wird immer deutlicher, dass er verlieren könnte. Während Kiew und seine Verbündeten für das aktuelle Jahr ein grausiges Menü von Möglichkeiten durchspielen – einschließlich eines Vorstoßes von Russlands Verbündeten, dem Iran und China, an allen Fronten, um den Dritten Weltkrieg zu provozieren – lohnt es sich, einen Moment innezuhalten und zu fragen: Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte der Westen mit seinen Flugzeugträgern und einer gemeinsamen Wirtschaftspower von fast 60 Billionen Euro (weit mehr als China, Iran und Russland zusammen) die Initiative an ein schrumpfendes postsowjetisches Land mit dem Bruttoinlandsprodukt Spaniens abtreten und in die Defensive geraten, um beim nächsten Angriff Putins zurückzuweichen? Und wenn die Abwehr von Putins Invasion nicht das eigentliche Ziel des Westens ist – was dann?
Einen Grund für die zögerliche und widersprüchliche Haltung des Westens sieht „Politico“, nach vielen Gesprächen mit Diplomaten, Sicherheitsbeamten und Experten auf beiden Seiten des Atlantiks, in der Angst vor den nuklearen Drohungen Putins. Was dazu führte, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu limitieren und zu verzögern. Vor jeder Runde für eine qualitativ erweiterte Ausrüstung mit schwereren Waffen gab es lange Diskussionen. So kann man keinen ernsthaft agierenden Eindringling schlagen. Ein Vorgehen, das in Kriegszeiten zu vermehrten Opfern führen muß.„In Bidens Regierung und in Scholz‘ Umfeld herrschte Angst vor einer möglichen nuklearen Konfrontation“, so der Diplomat weiter. „Diese Angst war anfangs sehr groß. Sie prägte die Reaktion der Welt.“ Laut Techau und Edward Hunter Christie, Sicherheitsexperte vom Finnish Institute of International Affairs, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der russische Staatschef zu Beginn des Konflikts eine Art nukleare Drohung direkt an Biden und Scholz gerichtet hat, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. „Wir wissen, dass Putin Boris Johnson gesagt hat, er könne sein Land innerhalb von fünf Minuten angreifen“, sagt Hunter Christie. „Wenn er das bei Johnson getan hat, ist es durchaus möglich, dass er das Gleiche bei Biden getan hat.“ Techau fügt hinzu: „Es gab ziemlich gut informierte Spekulationen über eine direkte [nukleare] Drohung an Scholz, in der er gewarnt wurde, dass ein solcher Schlag passieren könnte.“
Die Angst vor einem russischen Atomschlag ist zwar nach den ersten Monaten des Krieges etwas abgeebbt. Es dominiert nun das Argument, Putin werde von einem Erstschlag wenig profitieren bzw. sogar einen direkten militärischen Gegenschlag des Westens provozieren. Aber die Angst vor der Eskalation lauert wohl im Hintergrund und begrenzt so die militärischen Optionen der Ukrainer.„Es gibt hier ein offensichtliches Muster“, sagt Hunter Christie. „Wir haben es bei den Panzern gesehen. Wir haben es bei den Flugzeugen gesehen. Wir haben es bei den Vorbehalten gesehen, wie das Raketenartilleriesystem Himars eingesetzt werden kann. Man achtet wie besessen auf Details, auf Vorbehalte, wie diese Waffen eingesetzt werden können, auch wenn einige der Überlegungen militärisch absurd sind. Hinter dieser Besessenheit verbirgt sich die Angst, eine eskalierende Reaktion auszulösen. Das ist verständlich – niemand will einen Atomkrieg –, aber so ist es nun einmal.“Ein weiterer Grund für das Lavieren des Westen seien die Persönlichkeiten der wichtigen politischen Spitzenakteure. Gerade die Charaktere von Biden und Scholz prägen die "Strategie" der langsamen Steigerung und die Konzentration auf das Management der Eskalation – was die Fokussierung auf strategische Ergebnisse immer wieder behinderte. Beide Politiker sind, trotz des Altersunterschieds von 16 Jahren,während des Kalten Krieges und der damals weit verbreiteten Furcht vor einem nuklearen Armageddon politisch erwachsen geworden. Beide sind der von den USA geführten internationalen Ordnung und dem NATO-Schutz für Europa zutiefst verbunden. Beide sind Männer der Linken, die bewaffneten Interventionen instinktiv misstrauisch gegenüberstehen und, vom Temperament her gesehen, risikoscheu sind und sich mit geopolitischen Spielereien nicht anfreunden können, so die Meinung von Experten und Diplomaten.Demnach war Biden ideologisch schon immer gegen Interventionen und Kriege, wie auch sein chaotischer Rückzug aus Afghanistan zeige. Bei Scholz, als ehemaligem Aktivisten der extremen Linken, der in seiner Jugend nach Moskau reiste, vermutet man eine tiefere Sympathie für die Sowjetunion und unbewußt auch für deren "Nachfolger" Rußland. Sein Aufstieg in der deutschen Sozialdemokratie, die für ihre historische Sympathie für Russland bekannt ist, hat Scholz sicher nicht direkt zu einem Russland-Falken werden lassen. Das entwickelt sich offensichtlich sehr langsam. Rätselhaft langsam. Insgesamt diagnostizieren Experten bei beiden Politkern eine fehlende Ambiguitätstoleranz. Meines Erachtens gilt diese gewachsene Unsicherheitstoleranz auch für die westlichen Gesellschaften als Ganzes. Und so scheint auch keine stringente gemeinsame europäische Strategie in Sicht. Der französische Präsident Emmanuel Macron, hat zwar vor kurzem ein Verteidigungsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet, Langstreckenraketen vom Typ SCALP in die Ukraine geschickt und sein Beharren auf einem Dialog mit Putin aufgegeben. Besorgnis hingegen erregt sein derzeitiges Beharren auf "Buy European" bei dringend benötigten Waffen und Munition. Das verschwendet wertvolle Zeit undhat ihm den Vorwurf eingebracht, eine "zynische" Politik zu betreiben, die sich mehr auf den Wiederaufbau der europäischen Rüstungsindustrie als auf die Unterstützung der Ukraine auf dem Schlachtfeld konzentriert.Und gerade hört man aus Deutschland endlich eine konkrete (aber fadenscheinige) Information zur Taurus-Frage:Der deutsche Regierungschef Olaf Scholz hat der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt eine klare Absage erteilt. Er begründete dies mit dem Risiko einer Verwicklung Deutschlands in den Krieg. Der Taurus sei eine weitreichende Waffe, es drohe ein Eskalation.Das macht einen fassungslos. Mehr Hoffnung geben vielleicht andere westliche Staatsoberhäupter:Ukrainische Quellen bezeichnen das Vereinigte Königreich, sowohl unter dem ehemaligen Premierminister Boris Johnson als auch unter dem derzeitigen Premierminister Rishi Sunak, als verlässlichen Verbündeten, der dazu beigetragen hat, die westliche Zurückhaltung bei der Lieferung bestimmter Waffen zu überwinden. Sie schreiben dem amtierenden niederländischen Premierminister Mark Rutte zu, ein Tabu bei der Lieferung westlicher Kampfjets gebrochen zu haben, da die Niederlande nach Angaben des niederländischen Verteidigungsministeriums derzeit die Lieferung von 24 F-16 an die Ukraine zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Jahr vorbereiten. Die nordischen, baltischen, mittel- und osteuropäischen Staaten, insbesondere Polen, werden von ukrainischen Beamten für ihr großes Engagement für den Sieg der Ukraine gelobt - ein Beispiel dafür ist die jüngste Entscheidung Dänemarks, seine gesamte Artillerie nach Kiew zu schicken.Könnte es trotzdem sein, dass der Westen seine Kriegsziele in der Ukraine leise umdefiniert? Wenn der Bundeskanzler jetzt sagt, man dürfe Putin nicht erlauben, die Bedingungen für einen Frieden in der Ukraine zu diktieren, ist das etwas anderes, weicheres, als früher "Die Ukraine darf nicht verlieren".Der Westen hat die Ukraine nicht aufgegeben. Aber seine vorrangige Konzentration auf das Risikomanagement verrät den Wunsch, den Konflikt zu beenden und sich mit Putin zu einigen, möglichst früher als später. Die große Frage, die sich aufdrängt, ist allerdings, ob der Ansatz die Katastrophe abwenden wird – oder Schlimmeres heraufbeschwören.Putin ist nicht dumm, kein durchgeknallter Verrückter. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass er die Lage öfter so dramatisch falsch einschätzt wie in den ersten Tagen des Krieges. Auch wenn er als jahrzehntelanger Alleinherrscher vielleicht zunehmend den Kontakt zur Realität verlieren könnte. Der Westen muß handeln - schnell und entschlossen. Mit oder ohne Amerika.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-ratsel-der-westlichen-ukrainepolitik">[link]</a>
Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/ursula-von-der-leyen-zeigt-sich-bereit-fur-eine-zweite-runde2024-02-18T01:18:17+01:002024-02-18T01:18:17+01:00Ursula von der Leyen zeigt sich bereit für eine zweite Runde<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Schon länger wird darüber spekuliert, ob die aktuelle Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen (CDU), sich um eine zweite Amtsperiode bewirbt. Die Spekulationen finden nun ein Ende. Euractiv berichtet, dass von der Leyen für eine zweite Amtszeit kandidieren will. Der Wiener Standard (Europawahlen: EU-Kommissionschefin von der Leyen bewirbt sich um zweite Amtszeit.) ergänzt mit Bezug auf den österreichischen MdEP Othmar Karas (ÖVP), dass die EVP/EPP am Montag (19. Februar 2024) bekannt geben will, dass von der Leyen zur Spitzenkandidatin der EVP bestimmt wird.Nick Alipour konzentriert sich in seinem Artikel für Euractiv jedoch auf die Widersprüche mit denen von der Leyen in ihrer eigenen Partei und in der bundesrepublikanischen politischen Landschaft konfrontiert ist. Von den Grünen und von den Sozialdemokraten wird sie durchaus geschätzt aufgrund ihres bisherigen klimapolitischen Engagements. In ihrer eigenen Partei erzeugt genau dieser politischer Schwerpunkt Widerspruch. Alipour bringt diese Widersprüche treffend auf den Punkt:„Der Druck aus der eigenen Partei schafft jedoch eine heikle Situation, in der von der Leyen als Spitzenkandidatin gegen ihre bisherigen Erfolge als Kommissionspräsidentin Wahlkampf machen muss.“Thomas Meier, Brüsseler Korrespondent des eher sozialdemokratisch ausgerichteten Wiener Standard, plädiert dagegen eindeutig für eine zweite Amtsperiode der bisherigen EU-Kommissionspräsidentin: „Von der Leyen muss weitermachen“, ist sein Kommentar überschrieben. Das sei angesichts der vielen Krisen in und rund um Europa notwendig, meint Meier.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-ruckkehr-der-deutschen-frage-in-europa2024-02-14T14:47:11+01:002024-02-14T14:47:11+01:00Die Rückkehr der „deutschen Frage“ in Europa<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Wie sieht die Rolle Deutschlands innerhalb Europa und der Welt aus? Damit meint der Autor unseres Beitrags Sebastian Hoppe nicht „Germany first“, sondern die Dringlichkeit unserer wirtschaftlichen Ausrichtung. Denn daran hängt auch unmittelbar unsere demokratische Gesellschaftsordnung zusammen.Ohne massive wirtschafts- und sozialpolitische Interventionen und einen damit einhergehenden gesellschaftlichen Aufbruch – ursprünglich das große Anliegen der Ampelregierung – werden sich jedoch weder die allgegenwärtige und amorphe Unzufriedenheit noch die hohen Zustimmungswerte für die AfD angehen lassen.Gegenstand von Hoppes Analyse: Das wirtschaftliche Instrument der Schuldenbremse. Die Debatte darum war nicht nur Dauerbrenner in deutschen Medien, sondern auch die globale Presse verfolgte mit Sorge unser innenpolitisches Gezerre.Man muss die Schuldenbremse als Prisma verstehen, durch das die Widersprüche der deutschen Wirtschaftspolitik ersichtlich werden.Und Deutschlands Finanzpolitik hat weltpolitische Relevanz. Bereits jetzt sind die Schäden für das gesamteuropäische Projekt abzusehen – und deren fatale Folgen. Die Positionierung Deutschlands in der Eurokrise hat insbesondere den südeuropäischen Ländern und der Reputation Deutschlands als Motor des europäischen Einigungsprozesses geschadet.Hoppe rollt nicht nur die aktuellen Geschehnisse auf, sondern bettet die deutsche Wirtschaftspolitik in den historischen und globalen Kontext ein, um die tiefgreifenden Auswirkungen deutlich zu machen. Und daher ist der Beitrag ideal für Menschen, die bisher wenig Berührungspunkte mit der deutschen Wirtschaftspolitik haben.
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te.ma Open Science, Civil Discoursehttps://www.piqd.de/users/tema.open-science-civil-discoursehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/der-muhsame-wiederaufbau-eines-geschundenen-rechtsstaates2024-02-11T18:10:09+01:002024-02-11T18:10:09+01:00Der mühsame Wiederaufbau eines geschundenen Rechtsstaates<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Im Sommer 2023 startete der Verfassungsblog „Das Thüringen-Projekt“. Angesichts dessen, dass in der zweiten Jahreshälfte in drei ostdeutschen Ländern – u.a. in Thüringen – Landtagswahlen anstehen, bei denen die AfD nach Umfragen unter Umständen bis zu gut einem Drittel der Stimmen von Wählern und Wählern erreichen könnte, geht das Thüringen-Projekt der Frage nach, was passiert könnte, wenn autoritär-populistische Parteien staatliche Machtmittel in die Hand bekommen. (Vgl. dazu auch meinen piq „Wie beständig ist das Grundgesetz gegen Demokratiefeinde?“).Der EU-Mitgliedsstaat Polen hat diese Erfahrung bereits hinter sich. Bei den polnischen Parlamentswahlen vom 15. Oktober 2023 wurde die für den Abbau des Rechtsstaats in Polen verantwortliche PiS-Partei zwar abgewählt und damit durch die Wählerinnen und Wähler die Voraussetzung für eine Wiederherstellung des Rechtsstaates geschaffen. Doch die Reparatur des Rechtsstaates ist offensichtlich offensichtlich gar nicht so einfach. Das jedenfalls ist die Schlussfolgerung aus einem taz-Interview von Gabriele Lesser mit der polnischen Verfassungsrechtlerin Ewa Łętowska. In dem Interview erklärt die Verfassungsrechtlerin, mit welchen Herausforderungen die Wiederherstellung des Rechtsstaates durch die neugewählte Regierung in Polen konfrontiert ist.Dieses Interview ist also eine ausgezeichnete Ergänzung zu dem Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs und unterstreicht, wie wichtig es ist zu verhindern, dass die AfD Zugriff auf staatliche Machmittel bekommt.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/polens-traumata-polens-politiken-eine-annaherung2024-02-04T13:10:40+01:002024-02-04T13:10:40+01:00Polens Traumata, Polens Politiken - eine Annäherung<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Polen war für Ostdeutsche einer der wenigen Länder, in die man reisen konnte und oft reiste. Das nicht nur zu den "Polenmärkten" sondern auch zu den historischen Städten, in die kulturellen Zentren. Das Verhältnis zu den Polinnen und Polen war in meiner Erinnerung etwas ambivalent. Politisch betrachteten Polen die Ostdeutschen oft als allzu treue Gefolgsleute des Sowjetimperiums. DDR-Bürger waren andererseits oft leicht neidisch auf die polnische Weltläufigkeit und auf deren privates Unternehmertum. Aber es war da gleichzeitig eine gewisse Überheblichkeit wegen des etwas höheren Lebensstandard. Trotzdem gab es viele Freundschaften und Beziehungen.Für den Westen scheint Polen noch mehr als für den Osten Deutschlands ein weitgehend unbekannter Nachbar zu sein. Obwohl viele Deutschpolen in die Bundesrepublik migrierten (mit 2,2 Mio. sind Polen die zweit häufigste Gruppe mit Migrationshintergrund, also entweder selbst oder die Eltern geboren in Polen). Das Land ist mit seinen etwa 40 Mio. Einwohnern der fünft-bevölkerungsreichste und seinem BIP der sechstgrößte EU-Partner. Sein geografische Lage macht es dazu geopolitisch und militärisch zu einem besonderen Akteur. Polen hat Landesgrenzen von 210 km zum russische Oblast Kaliningrad und gut 400 km zu Belarus. Und natürlich lange Grenzen zur Ukraine und zu Litauen. Insofern ist es wichtig, dass die Medien, aus Anlass des politischen Wechsels in Warschau, zunehmend über das Land, die aktuellen Probleme und über die Geschichte berichten. In der NZZ rezensiert Ulrich M. Schmid einen Essay über Polens "Posttraumatische Souveränität". Karolina Wigura, Ideenhistorikerin und Jarosław Kuisz, Politikwissenschaftler, analysieren darin die jüngeren Wirren der polnischen Gesellschaft, wie der Krieg in der Ukraine historische Traumata reaktiviert und warum Warschau trotzdem eine so aktive Rolle in der europäischen Verteidigungspolitik übernommen hat. Selbst unter der abgewählten Regierungspartei PiS, die die EU auch schon als Bedrohung der eigenen Souveränität sah. Aus ihrer Sicht steigert gerade die wiederholte Erfahrung des Staatszusammenbruchs in Polen den Wert der nationalen Souveränität, der in westlichen Ländern schon längst anderen Staatszielen wie der Sicherung von Wohlfahrt, Gesundheit oder Infrastruktur gewichen ist. Dieses unterschiedliche Staatsverständnis kann bisweilen zu grotesken Episoden führen. So rief der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki im Oktober 2021 symbolisch zu den Waffen, falls die Europäische Kommission im Streit um Polens Rechtsstaatlichkeit «einen dritten Weltkrieg» anzetteln würde.Aber sind solche erratischen Deutungen nicht in gewisser Weise verständlich für ein Volk, das im Mittelalter eine europäische Großmacht war und im 19.Jh. lange von der Landkarte verschwand? Ein Volk, geprägt vom wiederholten Verlust seines Staates, von Teilungen und Aufständen?Kuisz und Wigura verstehen sich als Brückenbauer zwischen Ost und West und versuchen aufzuzeigen, warum der Begriff der «Souveränität» einen ganz anderen Klang in den Ohren der polnischen Bevölkerung hat. Gerade weil die Nation auch in der jüngsten Vergangenheit immer in ihrer Existenz bedroht war, stellt die «posttraumatische Souveränität» eine wichtige politische Antriebskraft dar, die weit über die konservative Wählerschaft der PiS hinausreicht.Es erklärt auch, wie man mit der Angst vor dem Verlust der Souveränität Politik machen kann, wie die PiS es tat. So konnte Kaczynski 2015 dem Wahlvolk einreden,Polen liege «in Ruinen» und müsse gerettet werden. In einem weitherum beachteten Interview für die «Financial Times» wiederholte Kaczynski 2016 seine Diagnose und hielt in seinem typischen Duktus fest: «Die Elite sagt, dass in Polen alles in Ordnung sei. Aber es ist nichts in Ordnung. Überhaupt nichts ist in Ordnung.»Mit diesem Angstszenario gelang es den Liberalismus auf die gleiche Ebene wie den Faschismus und den Kommunismus zu stellen und gemeinsam mit Orban innerhalb der EU eine illiberale, europaskeptische Allianz zu bilden. Mit dem Segen der Kirche konnte PiS nach dem Wahlsieg die Justiz, die Medien prägen und unter Kontrolle bringen, damit auch die Seelen vieler Menschen manipulieren. Aber die beiden Autoren zeigen ebenso die starken «liberalen Emotionen», die gerade auch vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine wirkmächtig werden. Ihre These lautet, dass die «posttraumatische Souveränität» Polens nach dem 24. Februar 2022 auch auf den Westen übergegriffen hat. Vor dem russischen Einmarsch wurden warnende Stimmen aus Polen als Alarmismus abgetan. Heute herrscht in vielen europäischen Hauptstädten die Überzeugung, dass in der Ukraine auch die Souveränität der westlichen Staaten verteidigt werden müsse.Polen selbst steht nun vor der Aufgabe nach acht Jahren der Herrschaft illiberaler und nationalistischer politischer Ideen und Kräfte zurück zu finden zu einer liberalen offenen Gesellschaft. Ohne wieder, wie seinerseits auch Tusks liberale Bürgerplattform, zu versuchen, das Verfassungsgericht nur rein mit eigenen Parteianhängern zusammenzustellen. Damit steht man, so T.G.Ash im Guardian, vor einem Dilemma. Muss man zum Beispiel bestimmte Gesetze, Rechtsrahmen, brechen, die von einer demokratisch gewählten Regierung erlassen wurden, um die Rechtsstaatlichkeit als Gesamtheit wieder herzustellen? Es scheint, so Ash, die Wiederherstellung der liberalen Demokratie ist intern schwieriger als ihre ursprüngliche Gründung nach dem Ende des Kommunismus im Jahr 1989:Es ist intern schwieriger, denn dies ist nicht, wie 1989, eine extern aufgezwungene Einparteiendiktatur, bei der fast alle Polen - einschließlich vieler der ehemaligen kommunistischen Machthaber - zustimmten, dass sie durch eine friedliche Revolution verändert werden muss. Vielmehr ist es ein völlig hausgemachtes Durcheinander, das größtenteils in Gesetze gehüllt ist, die von einer demokratisch gewählten parlamentarischen Mehrheit genehmigt wurden.Zweitens haben wir in Polen (und nicht nur dort), so wieder Ash, einen Fall von Hyperpolarisation, Fake News und Hysterie, der stark an die heutigen Vereinigten Staaten erinnert. Wie Maga-Republikaner und linke Demokraten leben Anhänger von Kaczyński und Tusk in verschiedenen Realitäten, wobei jeder den anderen wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und des Verrats der Nation anprangert. Eine stabile liberale Demokratie hängt von einem grundlegenden sozialen Konsens über die Legitimität wichtiger Institutionen wie Parlament, Präsidentschaft, unabhängige Gerichte und freie Medien ab. Das gilt sicher auch für die Spaltung heute in Deutschland und dann für eine Post-AfD-Ära. Man wird nicht einen hohen Prozentsatz der Bürger ewig hinter einer Brandmauer halten können. Also lernen wir hoffentlich von Polen, wie man … eine gut funktionierende liberale Demokratie (schafft), wenn es diesen minimalen sozialen Konsens nicht gibt?In der Zeit schildert Heinrich Wefing aus Warschau die konkreten Probleme. Seit 2015 hat die PiS den polnischen Staat strategisch umgebaut, aus einer modernen westlichen Demokratie eine illiberale nach ungarischem Vorbild gemacht. Viele Institutionen – Gerichte, die Staatsanwaltschaften, die Geheimdienste, das öffentlich-rechtliche Fernsehen – sind mit PiS-Leuten durchsetzt. Und die wehren sich nun hartnäckig. Die PiS hat die Mehrheit im Parlament verloren, aber längst noch nicht alle Macht.Ein besonders skurriler, aber symbolischer Fall in diesem Machtkampf ging auch durch deutsche Medien. Zwei PiS-Politiker, Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik, Innenminister der eine, dessen Stellvertreter der andere, saßen wegen eines Skandals, der 15 Jahre zurückliegt, in Haft. Dann wurden sie freigelassen, begnadigt vom PiS-nahen Staatspräsidenten Andrzej Duda. Während ihrer Haft waren sie im Hungerstreik, wurden zwangsernährt. Der neuen Regierung, sagt Wójcik (ein PiS-Abgeordneter), gehe es nicht um Gerechtigkeit, es gehe ihr um Rache. "Donald Tusk ist kein Demokrat." Er täusche Europa, er attackiere die "Fundamente der Demokratie": "Polen ist auf dem Weg in die Tyrannei."Für die einen sind das Helden, für die anderen Kriminelle. So ist die Machtkonstellation derzeit in Polen. Staatspräsident Andrzej Duda gewann 2020 die Stichwahl gegen seinen Kontrahenten Rafał Trzaskowski mit 51,03 Prozent der Stimmen und kann noch bis 2025 die Politik der liberalen Regierung konterkarieren und blockieren. Dazu kommt das Verfassungstribunal, das höchste Gericht in Polen. Dessen 15 Richterinnen und Richter wurden alle von der PiS gewählt. Wefing schätzt das so ein:Es gibt dort nicht nur zwei politische Lager, die sich erbittert bekämpfen. Es gibt zwei Versionen von Recht und Unrecht. Zwei Realitäten, zwei Wahrheiten. Zwei Staaten auf dem Boden eines Landes. Und je länger man das Nebeneinander betrachtet, desto ungewisser scheint es, ob sich Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge überhaupt noch unterscheiden lassen.Wir haben es mit einem dysfunktionalen Dualismus der Staatsgewalten zu tun, auch mit einer Dualität von Recht und Unrecht. Solche machtpolitischen "Spielchen" wie oben beschrieben gibt es zu Hauf und wird es weiter geben. Wie das auf Dauer die Akzeptanz für eine liberale Demokratie beeinflußt ist offen. Wann wird der Ruf nach radikalen Gewaltlösungen lauter? Nein, es gibt keine Regeln für die für die Rekonstitution eines Rechtsstaats. Noch agiert laut ZEIT-Artikeldie neue Regierung indirekt, kleinteilig, mit juristischen Mitteln, die manchmal geradezu wie Tricksereien aussehen. Oder mindestens ein bisschen hilflos: Das Außenministerium etwa beruft PiS-nahe Botschafter nicht von ihren Posten ab, dazu bräuchte es die Zustimmung des Präsidenten. Es beordert sie lediglich zu Konsultationen zurück nach Warschau. Das geht ohne Beteiligung von Duda – und kann lange dauern. Das Justizministerium hat gerade entdeckt, dass viele PiS-nahe Staatsanwälte noch eine Menge Resturlaub haben. Also hat das Ministerium sie verpflichtet, sofort in die Ferien zu gehen. Dann können immerhin für dreißig oder vierzig Tage andere Staatsanwälte ihre Arbeit erledigen.
Für Adam Bodnar, dem neuen Justizminister lautet daher die wichtigste Frage: "Kann man einen demolierten Rechtsstaat wiederaufbauen, ohne selbst das Recht zu brechen?" Wir sehen hier ein Lehrstück.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/polens-traumata-polens-politiken-eine-annaherung">[link]</a>
Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/der-isolierte-populist2024-02-02T21:57:33+01:002024-02-02T21:57:33+01:00Der isolierte Populist<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Bisher sah es so aus, dass die Europäische Union kaum über Instrumente verfügt, um sich dagegen zu wehren, dass der ungarische Rechts-Populist und Staatschef Viktor Orbán die EU immer wieder mit Veto-Drohungen erpresst und vor sich her treibt. Das ließ die EU mit ihren demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien mitunter recht hilflos aussehen. Auf dem EU-Sondergipfel am 1. Februar 2024 in Brüssel, der nur deshalb zusammenkam, weil Orbán als einziger Regierungschef der EU-Ukraine-Hilfe zustimmen wollte, scheint sich das Blatt nun gewendet zu haben. Offensichtlich hat Orbán den Bogen überspannt und steht nun gänzlich isoliert da unter den Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer. Wie es dazu kam, schildern Thomas Mayer und Gregor Mayer in einem Beitrag für den Wiener Standard.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/der-isolierte-populist">[link]</a>
Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/eu-projekt-will-irregulare-migration-untersuchen2024-01-22T14:29:02+01:002024-01-22T14:29:02+01:00EU-Projekt will irreguläre Migration untersuchen<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Das Thema Migration lässt In der Europäischen Union und in etlichen ihrer Mitgliedsländer seit Jahren die Emotionen hochkochen. Das Erregungspotential erhöht sich noch einmal, wenn es um irreguläre Migration geht. Dabei ist die Datenlage über letztere – also über irreguläre Migration – äußerst dürftig. Derzeit gibt es nur eine grobe Schätzung des US-amerikanischen PEW Research Center für das Jahr 2017 zur irregulären Migration in der EU. Das soll sich nun ändern. Das Zentrum für Migrations- und Globalisierungsforschung an der Universität für Weiterbildung Krems hat 2022 das EU-Horizon-Projekt "Measuring Irregular Migration and Related Policies" (kurz: MIrreM) gestartet. Dieses Projekt soll genauere Daten liefern und auch politische Handlungsempfehlungen. Sarah Kleiner stellt dieses Projekt und seine Ziele im Wiener Standard vor und benennt sowohl die Probleme bei der Zusammenstellung der Daten im Rahmen dieses Projektes als auch die Schwachstellen der für 2017 erfolgten Untersuchung zur irregulären Migration des PEW Research Center.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/staats-und-eliteversagen-in-grossbritanien-da-wie-hier2024-01-21T00:28:10+01:002024-01-21T00:28:10+01:00Staats- und Eliteversagen in Grossbritanien - da wie hier?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Deutschland wird gerade mal wieder als der "kranken Mann Europas" tituliert. Aber wir sind nicht allein. England geht es seit Jahren ähnlich oder schlimmer - Infrastrukturen und Unternehmen siechen dahin:Heute ähnelt Britannien dem, der es in den siebziger Jahren schon einmal gewesen war. Die Reallöhne liegen tiefer als vor der Finanzkrise von 2008/09. Die Inflation hält sich hartnäckiger als in vergleichbaren Ländern. Die Zahl der Armen, die auf Nahrungsmittelspenden angewiesen sind, wächst. Streikwellen lähmen Eisenbahnen und Spitäler."Der Spiegel" hat vor einigen Monaten eine eindringliche Reportage (hier der Podcast) dazu gebracht. Lebensmittel werden knapp, Wohnungen verschimmeln, Pflegekräfte flüchten: Ein Sturm fegt über Großbritannien, Millionen Menschen rutschen in die Armut. Eine Reise an den Rand des Erträglichen.Und natürlich wird allgemein das Problem einseitig darauf zurückgeführt, das die Reichen immer reicher werden und der Neoliberalismus sich eben auswirkt. Der Brexit hat sicher ebenfalls seinen Anteil. Aber wie ist es mit dem Staat, den politischen Eliten und auch mit der Demokratie? Die politische Lage in GB ist permanent instabil. So haben die Torys, seit über 13 Jahren an der Macht, in sieben Jahren zwei Premierminister und zwei Premierministerinnen verschlissen. Kürzlich haben zwei Akteure des konservativen Regierungslagers ihre politischen Memoiren veröffentlicht. Das ist einmal Theresa May, Innenministerin von 2010 bis 2016 und danach drei Jahre Premierministerin. Der zweite Autor ist der frühere konservative Abgeordnete Rory Stewart, eine Zeit lang Entwicklungshilfeminister im Kabinett von Theresa May.Unabhängig voneinander schildern sie Innenansichten vom Zentrum der Macht und ringen nach Erklärungen für das britische Malaise. ….. May reiht über ein Dutzend Beispiele von «Staatsversagen» aneinander.Die NZZ schildert diese Analysen des eigenen Polit-Handelns in den Netzwerken der Macht und das individuelle Erleben der politischen Strukturen. Beide Akteure zeigen, wie schwer es ist, solche alten, traditionell gewachsenen politischen Strukturen zu verändern und wie stark diese zu Unterlassungen und zu Fehlhandlungen beitragen.May schildert etwa Fälle von Übergriffen durch Amtsträger - Spesenskandale oder sexuelle Belästigungen und Mobbing durch Abgeordnete. Gewichtiger sieht sie wohl Fälle von Machtmißbrauch, bei denen Amtsträger und Institutionen die eigene Interessen höher gewichten als das Gemeinwohl. Immer wieder geht es darum, dass Autoritäten untätig geblieben sind, wenn sie hätten eingreifen müssen. Ein Beispiel ist die Brandkatastrophe im Wohnhochhaus Grenfell in Westlondon im Sommer 2017, die mehr als siebzig Todesopfer forderte. Wie man mittlerweile weiss, waren bei der Renovation des Gebäudes Bauvorschriften missachtet worden, und Hausverwaltung und Behörden hatten nicht auf Warnungen der Bewohner reagiert. ..… So kritisiert sie das Versagen der Polizeiorganisation in Rotherham im Norden Englands. Zwei Jahrzehnte lang blieben die Ordnungshüter untätig, während eine Bande pakistanischstämmiger Männer Hunderte von Mädchen sexuell missbrauchte und zur Prostitution zwang. Die Angst, als rassistisch verleumdet zu werden, lähmte das Pflichtbewusstsein der Polizisten.
Dabei liegen die Skandalen oft an strukturellen Schwächen des politischen Systems in England, auf die May nicht eingeht - so die Kritik von Markus M. Haefliger in der NZZ. Etwa der britische Zentralismus:Vielfach – immer für die 85 Prozent von Briten, die in England leben – laufen die Fäden wie seit je im Londoner Regierungsbezirk Westminster zusammen, auch wenn sich die Macht über die Jahrhunderte in vielen kleinen Schritten vom Königshaus zum Parlament und dort vom Besitzadel hin zu den gewählten Volksvertretern verschoben hat.Das führt dazu, das Subsidiarität der britischen Gesellschaft fremd geblieben ist. Es wird nicht auf der Ebene entschieden, die für das Problem die höchste Kompetenz hat, sondern Westminster hat meist das erste und letzte Wort. Die 400 Gemeindebehörden des Landes sind eher Londons Ausführungsorgane.In gewissem Sinn sind die Briten Untertanen geblieben. Angestellte und Beamte scheuen sich, nach eigenem Wissen und Gewissen über einen Sachverhalt zu verfügen. Die Folgen sind Schlendrian und Stümperei, die durch ein tiefes Berufsbildungsniveau im Tieflohnsektor verstärkt werden. In England kann man es sehen: ohne Ausbildung kein Berufsstolz, ohne Berufsstolz kein Pflichtbewusstsein.Dafür gibt es immer wieder Beispiele. Wahrscheinlich muß man letztendlich auch den Brexit und seine Durchführung dort einordnen - viel stümperhafter ging es kaum. Das passt auch zu dem Sittenbild, das Rory Stewart schildert. Der charakterisiert die Torys in seiner Unterhausfraktion als "eitle Schaumschläger", die lieber intrigieren als ernsthaft politische Ziele zu verfolgen. Irgendwelche Selbstzweifel sind ihnen dabei aber grundsätzlich fremd, Kompetenz scheint kaum eine Rolle zu spielen. So hätten nur wenige Politiker die technischen Aspekte des EU-Austritts-Vertrags verstanden. Aber es wurde laut für oder gegen sie argumentiert. Ein Volk, das solche Politiker wählt braucht keine Feinde. Dazu kommt - so Stewart - die ungeeignete Struktur der demokratischen Mechanismen:Der bei Unterhauswahlen geltende einfache Majorz – pro Wahlkreis gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen – verstärkt den Konkurrenzdruck und die Duckmäuserei. Dazu kommt, dass die Exekutive die Gesetzgebung weitgehend allein bestimmt. Der Anreiz für parteiübergreifende Vorstösse fällt entsprechend gering aus. Grossprojekte, über die ein Konsens herrschen sollte, damit sie in der Ausführungsphase von der Politik verschont bleiben, geraten zum Spielball enger Parteiinteressen.Was dazu führt, das Reformen nur schlecht gelingen, Kompromisse nicht zustande kommen, ständige politische Richtungswechsel an der Tagesordnung sind. Was auch zeigt, des es für eine funktionierende Demokratie nicht reicht ordentliche Wahlen durchzuführen. Auch die Moral, Kompetenz und die Interessen der politischen Klasse und die Struktur der politischen Institutionen sind enorm wichtig. Der Artikel diskutiert daher einige Schritte zu einer Verfassungsreform, die das verbessern soll. Es bleibt die Hoffnung, dass diese Reform gelingt bevor die britische Insel politisch und wirtschaftlich endgültig versinkt.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/staats-und-eliteversagen-in-grossbritanien-da-wie-hier">[link]</a>
Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/ein-europapolitischer-ruckblick-auf-das-jahr-20232024-01-07T13:02:26+01:002024-01-07T13:02:26+01:00Ein europapolitischer Rückblick auf das Jahr 2023<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Das Jahr 2023 begann für die Europäische Union mit einem der bisher größten Skandale des Europäischen Parlaments: dem so genannten Katar-Gate-Skandal. Das war allerdings nicht die einzige Herausforderung, mit der die Europäische Union sich im zurückliegenden Jahr konfrontiert sah. Das europäische Nachrichtenportal Euractiv hat in den ersten Januartagen 2024 eine kleine Artikelserie veröffentlicht, in der es einige der wichtigsten politischen Herausforderungen der EU in 2023 unter die Lupe nimmt. Der hier verlinkte von Benjamin Fox verfasste allgemeine Jahresrückblick (2023: EU-Politik im Jahresrückblick; vom 04.01.2024) wird um die folgenden themenspezifische Rückblicke ergänzt:Die EU-Außenpolitik im Jahr 2023: Zwischen zwei Kriegen und Erwartungen künftiger Mitglieder. Kann die EU ein echter globaler Akteur sein? Im Jahr 2023 hat sie dies sicherlich versucht, allerdings nur mit mäßigem Erfolg. Grund dafür war die Schwierigkeit, mehrere Krisen zu bewältigen und gleichzeitig ihren Einfluss auf Nachbarn und Partner auszudehnen. Von Alexandra Brzozowski. (05.01.2024)Atomkraft, Phosphat und Wasserstoff: EU-Energiepolitik im Jahr 2023. Das Jahr 2023 war in der Energiepolitik geprägt von vielen Auseinandersetzungen. Insbesondere das Ringen zwischen Frankreich und Deutschland um die Atomkraft dürfte einigen im Gedächtnis geblieben sein. Allerdings gab es auch erfreuliche Nachrichten. (05.01.2024)2023: Europas entscheidendes Jahr für die Digitalpolitik. Das vergangene Jahr war in der Digitalpolitik für die EU in vielen Bereichen prägend. Vom KI-Gesetz bis zu den strengeren Regeln für digitale Plattformen wurde eine Reihe von Meilensteine gelegt. Von Julia Tar (05.01.2024)2023: Ein Jahr der Turbulenzen in der EU. Das Jahr 2023 war wohl eines der turbulentesten der jüngeren Geschichte: Der Ukraine-Krieg ging in das zweite Jahr, die Energiekrise dauerte weiter an und der deutschen Wirtschaft wurde ein deutlicher Dämpfer verpasst. Mit dem Krieg im Gaza wurde die Weltlage zudem noch einmal deutlich komplizierter. Von Oliver Noyan (05.01.2024)2023 in der EU-Agrarpolitik: Ein Jahr der Hindernisse und Blockaden. Debatten und politische Entscheidungen rund um Landwirtschaft und Lebensmittel sind üblicherweise emotional und oft stark polarisierend. Im Jahr 2023 gab es in der EU-Agrar- und Lebensmittelpolitik jedoch ein neues Ausmaß an Blockaden und Dramen. Von Julia Dahm und Maria Simon Arboleas (03.01.2024)
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/meloni-arbeitet-am-aufbau-einer-rechten-mehrheit-im-ep2024-01-06T13:06:24+01:002024-01-06T13:06:24+01:00Meloni arbeitet am Aufbau einer rechten Mehrheit im EP<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni überlege, ob sie für das Europaparlament kandidieren solle, berichtet das europäische Nachrichtenportal Euractiv. Es ist kaum anzunehmen, dass Meloni ernsthaft plant, ihre Position als italienische Regierungschefin, der ihr ja auch einen Sitz im Rat der EU sichert, gegen einen von über 700 Sitzen im Europäischen Parlament einzutauschen. Der Euractiv-Artikel von Marta Rullán deutet vielmehr darauf hin, dass Meloni an einer Strategie arbeitet, die Mehrheiten im Europäischen Parlament massiv nach rechts zu verschieben bei der die nächsten Europawahl, die vom 6. bis 9. Juni 2024 stattfindet. Immerhin hat sie in dem deutschen MdEP und Vorsitzenden der EVP im Europaparlament und der EVP Manfred Weber (CSU) bereits einen Bündnispartner, der seit längerem mit der extremen Rechten im EP flirtet und kooperiert, um eine wirksame Klimapolitik und eine faire Handelspolitik zu boykottieren. Und auch der deutsche Bundeskanzler Olf (SPD) hofiert Meloni ganz unverhohlen – beide sitzen im Rat der EU. Melonis Strategie könnte also mit dieser sehr speziellen Art schwarz-roter Unterstützung aus Deutschland (in alter unseliger Tradition) durchaus aufgehen.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/erdogans-abkehr-vom-westen2024-01-05T17:11:01+01:002024-01-05T17:11:01+01:00Erdoğans Abkehr vom Westen<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Reichskanzler Bismarck soll Ende des 19. Jahrhunderts einmal gesagt haben, Die Liebe der Türken und Deutschen zueinander ist so alt, dass sie niemals zerbrechen wird.Damals war natürlich das Osmanische Reich gemeint, aus dem als Rest dann die Türkei hervorging. Aus der Liebe wurde um die Zeit des Ersten Weltkrieges dann eine "Waffenbruderschaft". Im Laufe der Zeit wich dieser Begriff in den Reden von Politikern beider Länder der "Freundschaft". Daraus wurde ab etwa den Nullerjahren eine "Partnerschaft". Heute ist fast nur noch von "Beziehungen" die Rede.Und Erdogan versucht offensichtlich Glanz und Größe des Osmanischen Imperiums wieder erstehen zu lassen?Can Dündar, ein türkischer Journalist im deutschen Exil, von Erdogan persönlich angeklagt, zeichnet in seinem empfohlenen ZEIT- Artikel den Weg nach, den die Türkei unter Erdogan gegangen ist. Den besorgniserregenden Weg in Richtung Osten hin zur Autokratie. Die Kundgebung zur Unterstützung der Palästinenser kann ich ja noch verstehen. Aber die Kalifatsfahnen mit Rufen nach der Scharia dagegen sind schon ein ganz anderes Alarmsignal. Hat Europa zu lange dieser Ablösung vom Westen zugeschaut?Die konservative Wende ist (und war) überall spürbar, in Lehrbüchern, auf Fußballplätzen, in Fernsehserien, bei Verboten von Konzerten. Das Austauschprogramm für Studierende Erasmus steht an der Schwelle zum Aus, weil die meisten der damit ins Ausland reisenden Studenten nicht in die Türkei heimkehren. Seit 2013 bereits beteiligt sich die Türkei nicht mehr am Eurovision Song Contest. Auch aus der Istanbul-Konvention, dem auf seine Initiative hin 2011 unterzeichneten Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, stieg Erdoğan wieder aus. Und 2020 hatte er gefordert, soziale Netzwerke wie YouTube, Twitter und Netflix abzuschaffen. Wikipedia war in der Türkei drei Jahre lang gesperrt, die Deutsche Welle ist es seit 2022.Und das sind nur die "weicheren" Aktionen. Noch schwerer wiegt es wohl, wenn die Türkei die Sanktionen gegen Rußland wegen des Ukrainekrieges nicht mittragen, das russische Raketenabwehrsystem S-400 kaufen und und lange den Beitritt Schwedens zur Nato verhindert. Dazu passt das Bestreben nach Autarkie im Rüstungsbereich:Für die Militärplaner der Türkei zahlt sich die Autarkie-Strategie in der Rüstungsbranche aus. Sie ist eine Antwort auf zahlreiche Sanktionen des Westens in den vergangenen Jahren gegen das Land. Deutschland lieferte keine weiteren Leopard-Panzer für den Kampf gegen die Kurden. Die USA stoppten die Türkei als Bauteile-Lieferant für den US-Kampfjet F-35, weil Erdogan bei Russlands Präsident Wladimir Putin Luftabwehrraketen erwarb. Das Kalkül des Westens, die Türkei damit in der Rüstung auszubremsen, geht aber offensichtlich nicht auf. Als jüngst die Analysten des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri die Liste der weltweiten Top-100-Rüstungskonzerne veröffentlichte, gehörten die türkischen Unternehmen zu den großen Gewinnern – im Gegensatz zu US-Firmen, die Umsatz einbüßten. Der Umsatz der vier türkischen Unternehmen in dem Ranking stieg 2022 um gewaltige 22 Prozent auf 5,5 Milliarden Dollar. Allein beim Drohnenhersteller Baykar stieg der Umsatz um 94 Prozent, und das Unternehmen landete mit Platz 76 erstmals in der Liste.
Zumindest in der Rüstung scheint die türkische Wirtschaft zu funktionieren. Auch in die Richtung einer Abwendung vom Westen zeigt Erdogans "Drohung" der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) beizutreten, die vor allem der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit deren Mitgliedstaaten dienen soll und bei der das Nato-Mitglied Türkei bislang nur den Status eines Dialogpartners hat. Dieses Bündnis wurde ursprünglich als "Shanghai Five" von Russland, China, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan gegründet und später um Indien, Pakistan, Iran und Usbekistan erweitert. An der Begründung mag etwas dran sein, aber sie signalisiert eben klar die Abwendung von Europa und der NATO. „Die Europäische Union hält uns seit 52 Jahren mit Hinhaltungstaktiken am Rand. Wir können uns anderweitig umschauen.„ Derlei Erklärungen mögen als Bluff gegenüber Europa betrachtet werden. Ein Blick auf die Veränderungen in Diplomatie, Politik, Militär und Kultur der Türkei zeigt aber, dass es keine bloße Erpressung ist. In den 100 Jahren ihres Bestehens wurde die Türkei als Brücke zwischen Osten und Westen verstanden und tendierte stets zum Westen, in den vergangenen zehn Jahren aber wurde sie immer mehr Teil der autoritären Welt, in der freie Wahlen, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Pressefreiheit, unabhängige Justiz, Laizismus und Gleichberechtigung der Geschlechter missachtet werden.
Inzwischen hat Erdogan auch sein Machtsystem vollständig durchstrukturiert. Ihn von der Macht zu verdrängen wird offensichtlich immer schwieriger. Auch das ein Grund, warum westlich denkende, gut ausgebildete Türken, in immer größerer Anzahl nach Europa auswandern. Was dem Regime nicht unangenehm zu sein scheint. Dazu Bülent Mumay in der FAZ:
Als Beleg dafür lassen Sie mich anführen, was ein AKP-Minister einmal in dieser Angelegenheit sagte: „Bei steigender Bildung verringern sich die Stimmen für die AKP.“ Aus ebendiesem Grund ist Erdoğan bestrebt, die Religion zum Mörtel der Gesellschaft zu machen und seine Macht zu zementieren, indem er die Gesellschaft zunehmend islamisiert. Er öffnet religiösen Orden und Gemeinschaften die Tore zum Staat, um sein politisches Leben zu verlängern. In Bildungs- und Gesundheitswesen, in Handel und Politik, in allen Bereichen lässt er Initiativen zu, die eine Bedrohung für das säkulare Leben darstellen.
Gleichzeitig verändert sich die soziale Struktur des Landes auch durch die mehr als fünf Millionen Flüchtlinge, vor allem aus Syrien und Afghanistan. Sollte es Erdoğan gelingen, bei den Ende März stattfindenden Kommunalwahlen das vor fünf Jahren verlorene Istanbul für seine Partei zurückzuerobern, würde er nicht bloß der desolaten Opposition einen weiteren Schlag versetzen. Womöglich würde ein Wahlsieg bei den Kommunalwahlen einem komplett autokratischen Regime und dem Modell "Türkei des Ostens" den Weg ebnen. Was tun?Der Artikel von Can Dündar ist auf türkisch, den Link zur deutschen Fassung findet sich am Textanfang.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/belgien-hat-die-rotierende-eu-ratsprasidentschaft-ubernommen2024-01-04T13:50:35+01:002024-01-04T13:50:35+01:00Belgien hat die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernommen<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Zum 1. Januar 2024 hat Belgien die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Andreas Kockartz hat für das deutschsprachige belgische Nachrichtenportal „Flanderninfo“ einen Überblick über die Themensetzung der belgischen föderalen Regierung mit dem flämischen Liberalen Alexander De Croo als Premierminister zusammengestellt. In die Zeit der belgischen Ratspräsidentschaft fallen auch die Europawahlen, die vom 6. bis 9. Juni 2024 stattfinden.Zu den Prioritäten der belgischen Ratspräsidentschaft siehe auch den Euractiv-Artikel vom 02.01.2024: Belgien übernimmt rotierende EU-RatspräsidentschaftUpdate vom 7. Januar 2024:Nicht nur Klappern, auch Hämmern gehört zum politischen Handwerk. Zum Auftakt des belgischen EU-Ratsvorsitzes. Von Michael Stabenow. (Belgieninfo, 07.01.2024)Welche Rolle nimmt Flandern beim belgischen EU-Ratsvorsitz ein? Am Neujahrstag hat Belgien für ein halbes Jahr turnusgemäß den EU-Ratsvorsitz von Spanien übernommen und leitet die Geschicke dieses Gremiums bis zum 30. Juni. Auch das Bundesland Flandern wird hierbei eine wichtige Rolle übernehmen und Belgien als Vorsitzender in den Bereichen Industrie, Jugend, Medien und Kultur sowie bei der Fischerei vertreten. Von Andreas Kockartz. (Flanderninfo, 06.01.2024)Belgien übernimmt EU-Präsidentschaft: Im Schnelldurchlauf. Belgien hat die Präsidentschaft im Rat der EU übernommen, die dort nicht nur mit dem Kampf um den Einzug ins Europäische, sondern auch um die nationalen Parlamente zusammenfällt. Das könnte die Agenda auf EU-Ebene mitprägen. Von Thorsten Fuchshuber. (woxx, 05.01.2024)
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/wohin-gehst-du-europa2023-12-15T10:57:19+01:002023-12-15T10:57:19+01:00Wohin gehst Du Europa?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Timothy Garton Ash reflektiert im Guardian seine diesjährige Fahrt durch 20 Länder Europas. Ein besonderes Jahr, in dem die neue Realität endgültig deutlich wird, die riesige Herausforderung für die Europäische Union (die Ash einmal als »antiimperiales Imperium« charakterisiert hat) schlagartig ins Rampenlicht tritt. In weiten Teilen unseres Kontinents führen Autobahnen oder Hochgeschwindigkeitszüge über Grenzen, die man kaum bemerkt. Aber bewegen wir uns nur ein paar Stunden nach Osten, erfährt Ash hautnah auf seinen Reisen, verbringt man dieZeit in Bombenunterkünften und (spricht) mit schwer verwundeten Soldaten mit Geschichten aus den Schützengräben, die an den Ersten Weltkrieg erinnern. Ich halte die Air Alarm Ukraine-App auf meinem Handy aktiv, so dass mich ihre Warnungen vor Luftangriffen auf ukrainische Städte jeden Tag an dieses andere Europa erinnern.Der Krieg steht also in Europas Osten und damit direkt vor der Haustür des Westens. So richtig ist das wohl noch nicht in unser Bewusstsein eingedrungen? Der Einmarsch Wladimir Putins in die Ukraine am 24. Februar 2022 beendete die Zeit nach dem Mauerfall, die mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 begann, und wir befinden uns nun in den Anfangsjahren einer neuen Zeit, deren Namen und Charakter wir noch nicht kennen. …. Intellektuell wissen die europäischen Staats- und Regierungschefs das. Es ist das Thema von tausend Reden von Politikern und Webinaren von Thinktanks. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Einstellung zur Sicherheit in Ländern wie Deutschland und Dänemark erheblich verändert, ganz zu schweigen von Finnland und Schweden, die von ihrer langjährigen Neutralität in die Nato-Mitgliedschaft katapultiert wurden. Aber emotional und in der Gesellschaft insgesamt ist es viel weniger klar.
Die Bürger sind konfrontiert mit einem Haufen Problemen in ihren Ländern und zögern daher, sich den gewaltigen Herausforderungen rings herum wirklich zu stellen, vom Krieg im Osten bis zum Migrationsdruck im Süden, von der schmelzenden Eiskappe im Norden bis hin zur Aussicht auf eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump im Westen. Und ihre Politiker zögern, es ihnen direkt zu sagen, aus Angst, nicht wiedergewählt zu werden.Nun wollen die Staats- und Regierungschefs der EU Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und mit Moldau beginnen. Das eine Land ist im Krieg, das andere gehört zu den ärmsten Europas. Auch Bosnien-Herzegowina hofft auf ein schnelles Go aus Brüssel. Die Verhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien sollen beschleunigt werden. Und Serbien und Montenegro könnten bereits innerhalb der nächsten Jahre aufgenommen werden.Damit könnte die EU, die schon mit 27 Ländern oft überfordert scheint, bald mehr als 30 Mitglieder zählen. Diese Aufnahme der Ukraine und der Westbalkanstaaten käme, so Matthias Krupa in der oben verlinkten ZEIT, einer Revolution gleich:Eine Union, die sich von Lissabon bis Charkiw erstreckte, zu der Tirana, Skopje und Chişinău gehörten – sie wäre tatsächlich nicht wiederzuerkennen. Geografie und Gewicht würden sich nach Osten verschieben; das westliche, karolingische Europa wäre endgültig vergangen. Von 36 Ländern käme die Hälfte aus dem früheren Ostblock. In einer solchen Union gäbe es sehr viele kleine und nur noch wenige große Staaten. Armut und Reichtum würden noch weiter auseinanderklaffen. Selbst in Bulgarien, dem bislang ärmsten Mitgliedsland, liegt das Bruttosozialprodukt pro Kopf fast dreimal so hoch wie in der Ukraine. Die EU wäre ärmer, östlicher und diverser.Damit korreliert, so Ash, eine Dualität im politischen Spektrum der europäischen Länder. Immer noch gibt es in der Mehrzahl der Staaten Regierungen zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts. Wenn auch oft mit komplizierten Koalitionen. Die sich aber alle auf die eine oder andere Weise auf die liberale Demokratie und die Europäische Union verpflichtet haben. Zunehmend erzielen auf der anderen Seite populistische, nationalistische Parteien der harten Rechten bemerkenswerte Erfolge. Das reicht von Giorgia Meloni als italienischer Premierministerin im vergangenen Jahr (die m.E. allerdings erstaunlich gemäßigt agiert) bis hin zu besorgniserregenden Wahlergebnissen für Deutschlands "AfD" oder auch dem jüngsten Wahlsieg von Wilders in den Niederlanden. Von dem aggressiven Verhalten Viktor Orbán ganz zu schweigen. Die berechtigte Frage von Ash:Kann eine demokratische, auf Recht basierende politische Gemeinschaft aus 27 sehr unterschiedlichen Ländern ohne einen einzigen Hegemon tatsächlich zusammenhalten und funktionieren? Die Frage, wie die EU so reformiert werden kann, dass sie z.B. nicht von rein egoistischen Akteuren wie Orbán blockiert werden kann, wird im Allgemeinen oft erst im Zusammenhang mit einer möglichen Erweiterung zu einer Union mit mehr als 35 Mitgliedstaaten gestellt. Aber klar ist für Ash (und ich befürchte, man wird ihm zustimmen müssen), das Dilemma ist bereits da. Die Fragmentierung der europäischen Parteipolitik bedeutet nicht nur, dass man mit 27 verschiedenen nationalen Interessen zu kämpfen hat, sondern auch mit der zusätzlichen Komplexität mehrerer Koalitionsregierungen. Um es klar zu sagen: Eine nicht-hegemoniale Union auf der Basis von Zustimmung hat es in dieser Art und Größenordnung in der europäischen Geschichte noch nie gegeben, und sie hat auch nirgendwo sonst in der heutigen Welt eine Entsprechung.Es gilt also, praktikable Lösungen zu finden. Hier fand ich einen Artikel in der NZZ bemerkenswert. Unter der Überschrift "Brüssel darf sich von Viktor Orbán nicht länger erpressen lassen" polemisiert Andreas Ernst gegen das Einknicken der Kommission gegenüber Orbáns Blockade gegenüber der Ukrainehilfe. Die Hoffnung, für 10 Milliarden Euro oder noch mehr seine Zustimmung zu erkaufen, hält er für falsch. Erstens gefährdet Brüssel damit seine Glaubwürdigkeit und die Steuerbarkeit der Union. Sie stärkt gleichzeitig seine Position in Ungarn. Und drittens wird es sicher Nachahmer geben. Sein Vorschlag:Die Finanzhilfe kann auch jenseits des Budgets an Ungarn vorbei unter den Mitgliedstaaten organisiert werden. Gleiches gilt für die Waffenhilfe, zu der Budapest nichts beiträgt – den EU-Fonds aber dennoch blockiert.Man muss es nur organisieren wollen und das strategisch rechtzeitig. Ähnlich mit der Einladung zu den Beitrittsgesprächen. Dort ist das Einstimmigkeitsprinzip zwar letztendlich sakrosankt. Doch auch hier gäbe es Wege, die Erpressung zu parieren.Die EU kann den Ukrainern offiziell mitteilen, was alle wissen: 26 Staaten wünschen, dass Kiew den Integrationsprozess antritt. Nur Ungarn will das nicht. Weil es bis zum Beitritt aber ohnehin ein weiter Weg ist, ist das derzeitige ungarische «Nein» keine Katastrophe. Und schon gar kein Grund für die Ukraine, Reformen aufzuschieben.Damit könnte die Union signalisieren, dass sie in ihrer jetzigen Gestalt die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit zumindest noch nicht ganz erreicht hat. Wäre wohl auch nachhaltiger, als für die Entsperrung von 10 Mrd. Euro zu hoffen, dass der "Querulant" zufällig kurz den Saal verlässt. Um dann weiter um die nächsten Milliarden zu pokern.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-eu-ringt-mit-der-von-deutschland-eingeschleppten-schuldenbremse2023-12-12T11:46:49+01:002023-12-12T11:46:49+01:00Die EU ringt mit der von Deutschland eingeschleppten Schuldenbremse<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Die deutsche Schuldenbremse, die im Grundgesetz und in den Verfassungen der Bundesländer festgeschrieben ist, ist wohl das dümmste, was Politikerinnen und Politikern in neuerer Zeit eingefallen ist, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimasonderfond gezeigt hat. Deshalb gelangt es 2011/2012 Merkel und Schäuble auch nicht, diese absurde Regelung eins zu eins auf die EU-Ebene zu übertragen. Mit dem Euro-Stabilitätspakt gelang der damaligen Bundesregierung aber immerhin eine Schuldenbremse light auf EU-Ebene durchzusetzen, die irreführenderweise den Titel Stabilitäts- und Wachstumspakt trägt. Denn diese Regel blockiert sowohl die ökonomische Entwicklung der EU als auch die energiepolitische Transformation. Genau deshalb bemüht sich die EU und insbesondere das Europäische Parlament derzeit um eine Reform dieses Paktes, die die starren und fortschrittsblockierenden EU-Schuldenregeln im Interesse einer zeitgemäßen Wirtschaft- und Klimapolitik auflösen sollen. Das ist allerdings nicht ganz einfach, wie János Allenbach-Ammann in seinem Artikel für Euractiv beschreibt.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/europa-das-globale-system-und-die-idee-rationaler-akteure2023-12-01T10:56:30+01:002023-12-01T10:56:30+01:00Europa, das globale System und die Idee rationaler Akteure<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Münkler steckt hier noch einmal den großen Rahmen ab, in dem sich deutsche und europäische Politik bewegt und zukünftig wahrscheinlich bewegen wird. Interessant finde ich seine Sicht auf den Glauben an den "rationalen Akteur" bzw. die Annahme, andere agieren nach unseren Vorstellungen von Rationalität, Logik oder Vernunft. Oder eben der Vermutung, unsere Kontrahenten würden auf vergleichbare Situationen reagieren wie wir selbst.Sicher haben mehrere Faktoren zum aktuellen Chaos beigetragen. Der "Hüter" der globalen Ordnung, die USA, ist seiner Rolle nicht gerecht geworden (was vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war) und hat sich dabei überdehnt. Auch der Glaube, die wirtschaftliche Verflechtung führe automatisch zu am Wohl der Menschheit orientierter politischer Kooperation, war naiv. Und der Westen hat das Denken, die Logik revisionistischer Mächte gründlich missverstanden. Man hat versucht, die Idee der liberalen Gesellschaft durch Appelle und über vertrauensbildende wirtschaftliche Verflechtung durchzusetzen. Oder im Notfall durch militärische Intervention die Grundlagen für demokratische Systeme zu schaffen. Russland gegenüber versuchte man z.B. klarzumachen, dass ein Angriffskrieg auf die Ukraine nicht im russischen Interesse sei:Man ging davon aus, dass man es mit rationalen Akteuren zu tun hat, die am Wohlstand ihrer Bevölkerung orientiert sind, also mit Homines Oeconomici. Die Überraschung war, dass Putin sich mehr von post-imperialen Phantomschmerzen, also runtergeschluckter Wut, hat lenken lassen als von einer kühlen Abwägung der Kosten und Nutzen. Dann ergibt sich eine Konstellation, wie sie etwa Krastev formuliert, Das Paradoxe der derzeitigen Situation ist, dass die Mehrheit der Russen der festen Überzeugung ist, in einem Krieg gegen den Westen zu sein. Während die meisten Amerikaner und Europäer nicht glauben, in einem Krieg gegen Russland zu sein.Ein ziemlich grundsätzliches wechselseitiges Missverstehen. Die gesamte Ordnung nach 1990 beruhte aus der Sicht des Westens auf der Annahme, die anderen Akteure folgen unserer eigenen Rationalität, unseren Welt- und Wertvorstellungen. Typen wie Putin, Kim Jong-Un, die Taliban, die Hamas etc. waren in der dominierenden westlichen Denke nicht wirklich vorgesehen. Andersherum sind wohl diese Autokraten und Teile ihrer Bevölkerung davon überzeugt, dass das Reden von universellen Menschenrechten nur ein Trick des Westens ist.Es hat sich gezeigt, dass diese Ordnung zu anspruchsvoll ist angesichts der Diversität politischer Systeme. Unter diesen Umständen steht eine Weltordnung auf sehr wackeligen Beinen.Die Menschheit als Ganzes verfügt über keine eigenen Ressourcen, um eine neue Ordnung zu gestalten. Die USA sind mit ihren Kräften eher auf dem Rückzug aus der globalen Arena. China übernimmt – so Münkler – keine globale Verantwortung, es erweitert lediglich seine Einflusszone, sodass die Vorstellung eines chinesischen Zeitalters illusionär ist. Die Ordnung, die im Entstehen begriffen ist, hat keinen Hüter, der über die Einhaltung der Regeln wacht, sondern eine Mechanik. Sie wird eine normative Unterdeckung haben gegenüber der alten Weltordnung. Es wird weniger politische Philosophie der internationalen Beziehungen geben und mehr geopolitische Analysen.
Es bildet sich für Münkler eine auf das quasi physikalische Spiel der Kräfte konzentrierte Mechanik heraus, die eine möglicherweise relativ robuste Weltordnung grundiert.Es wird vermutlich eine Pentarchie sein, und die Stabilität beruht auf der wechselseitigen Anerkennung der Großen, also USA, China, Russland, Indien und vermutlich Europa. Sie leisten Ordnungsarbeit in einem umgrenzten Raum und versuchen, die zweite und dritte Reihe einzubinden. Diese zweite Reihe, Länder wie z.B. Argentinien oder Indonesien, wird aufgewertet. Es entsteht also ein Mechanismus, der der europäischen Ordnung bis zum Ersten Weltkrieg vergleichbar ist. Das ist allerdings keine Friedensordnung mehr, sondern eine, in der das Militär eine größere Rolle spielt. Das wurde den militärunwilligen Europäern durch das russische Agieren in der Ukraine aufgezwungen. Es scheint, die Idee, man könne mit immer weniger Waffen und Soldaten den Frieden garantieren, ist erstmal widerlegt. Auch die wirtschaftliche Macht als Mittel internationaler Politik ist in der Realität stark relativiert worden. Die westlichen Länder haben kein industrielles Quasi-Monopol mehr und Rohstoffe kaufen auch andere gern.Man hatte die Abhängigkeiten einseitig gedacht und übersehen, dass auch wir von unseren Handelspartnern abhängig sind, von russischem Erdgas und Erdöl, das nun nicht mehr fließt. Wohlstandsgesellschaften mit demokratischer Beteiligung sind hier sogar verwundbarer als eine Mangelwirtschaft, deren Bevölkerung an Kargheit und Knappheit gewöhnt ist.Für Münkler kommt es nun zunehmend auf das „Zünglein an der Waage“ zwischen den großen und mittleren Mächten an. Eine Macht also, die das Gleichgewicht zwischen den großen Akteuren herstellt, damit das System nicht in Richtung einer Hegemonie oder in einen großen, globalen Konflikt kippt. Historisches Vorbild sei Großbritannien, das die europäische Pentarchie ausbalancierte. Heute sehe ich Indien in diese Rolle hineinwachsen. Es steht zwischen den Mächten. Auf der einen Seite ist es die größte Demokratie der Welt, andererseits zeigt Narendra Modis Hindu-Nationalismus eine Distanz zum Westen an. Doch auch zu China hält es Abstand, die Beziehungen zu Russland sind klassischerweise gut, zum Westen jedoch ebenfalls. Es bleibt die Frage nach Rolle und Status Europas in diesem Zukunftsmodell. Wird es der Union gelingen, ein Stück weit aus ihrer Regelwirtschaft und der Zerstrittenheit herauszukommen? Um als geschlossene und schnelle politische Handlungsmacht globale Prozesse entsprechend mitzugestalten? Die Imperative des internationalen Kräfte-Systems drängen uns sicher in diese Richtung. Brauchen wir dazu gemeinsame Kernwaffen, wie viel unserer Wertschöpfungsketten können oder sollten wir in die Union zurückholen. Wir müssen uns aber auch klarmachen, die Zeitspanne zwischen der Auflösung der alten Weltordnung und der Formierung einer neuen Weltordnung ist eine Zeit vermehrter und intensivierter Kriege, weil viele Akteure ihre Position im Hinblick auf die entstehende neue Ordnung verbessern wollen. In einer solchen Phase befinden wir uns zurzeit; es ist anzunehmen, dass deswegen noch eine Reihe von weiteren Kriegen entstehen werden.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/krise-der-reprasentativen-demokratie-ein-leicht-ironischer-essay2023-11-24T12:25:19+01:002023-11-24T12:25:19+01:00Krise der repräsentativen Demokratie - ein leicht ironischer Essay<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Was ist los mit unserer Demokratie und mit uns Demokraten? Immer öfter hört man, der eine oder andere gefährde mit seinen Ansichten und/oder Taten die Demokratie. Laut einer Umfrage in Deutschlandsahen 20 Prozent der Befragten den steigenden Rechtsextremismus/ Rechtspopulismus im Land als größte Gefahr an. Am zweithäufigsten wurde zum Zeitpunkt der Erhebung im Oktober 2022 die soziale Ungleichheit sowie abgehobene Politiker:innen genannt (je elf Prozent). Die aktuell sehr präsente Energiekrise gaben hingegen lediglich drei Prozent der Befragten als größte Gefahr an.Meine kurze Google-Suche unter den Stichworten "Gefährdung der Demokratie" brachte gut 600.000 Links. Man kann also durchaus vermuten, wie es der MERKUR in seinem November-Heft tut, dass unsere repräsentative Demokratie in eine Krise geraten ist:
Aus welchen Gründen, ist nicht leicht zu sagen. Liegt es an den Repräsentanten, den Repräsentierten oder der Idee der Repräsentation?
Unsere Politiker sind sicher im Schnitt ihrer Sozialisation nicht identisch mit der sozialen Zusammensetzung ihrer Wähler. Ihr Mandat ergibt sich aus der Zahl der Wähler-Stimmen, nicht aus der sozialen Identität mit den dann Repräsentierten.Der Bundestag ist kein Abbild der Gesellschaft, weiß aus dieser Differenz aber keinen Vorzug zu machen. Im Schnitt sind seine Abgeordneten älter, wohlhabender, urbaner, männlicher und promovierter als die übrige Bevölkerung und haben seltener eine Migrationsgeschichte. Das schlägt sich, wie neuere Untersuchungen zeigen, auch in seinen politischen Entscheidungen nieder. Es liegt also nahe, je mehr man selbst den Abgeordneten gleicht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass man die eigenen Ansichten tatsächlich in den verabschiedeten Gesetzen wiederfindet. Die dann zu den Pflichten der anderen werden. Was dann in dieser Gruppe zu höherer Zufriedenheit führen sollte. Das ist aber wohl nicht so. Befragungen ergeben ein leicht schizophrenes Bild:Sieht man von Fragen der Migration ab, erkennen sie sich in vielen politischen Überzeugungen ihrer Repräsentanten durchaus wieder, jedenfalls stärker als noch vor dreißig Jahren. Das Vertrauen in sie ist in derselben Zeit gleichwohl durch die Bank weg gesunken. Offenbar hegt man ein notorisch schlechtes Bild von seinen Mitbürgern, nachdem man sie selbst in ein Amt berufen hat, unabhängig davon, wieweit ihre Ansichten tatsächlich von den eigenen abweichen.Komischerweise sind – so jedenfalls Christian Neumeier in seinem Essay – oft jene, die in Parlamenten eher überrepräsentiert sind, die alten, halbgebildeten Männer besonders unzufrieden mit den gewählten Politikern. Ob die gebildeten (alten) Männer und Frauen zufriedener sind, wer weiß.Ebenso wenig wie soziale Ähnlichkeit gelingende Repräsentation garantiert, schließt soziale Differenz diese grundsätzlich aus. Mit viel Populismus schlagen ….
amerikanische Vielleicht-Milliardäre …. aus den Symbolen ihres Reichtums repräsentatives Kapital, indem sie sie mit der Scheingleichheit rhetorischer Anbiederung verbinden.
Auch scheint die Bereitschaft politischer Amtsträger, Organisationen oder Institutionen auf Interessen anderer Akteure einzugehen (in dem sie z.B. Sozialausgaben ausweiten, AKW schließen oder Preise stützen) ggf. nicht viel zu nützen.Das könnte darauf hindeuten, dass in der fehlenden Responsivität der Parlamente, so bedenklich sie ist, nicht der primäre Grund für die Krise der Repräsentation liegt. Liegt in der verbreiteten Unzufriedenheit einfach ein stummer Schrei nach mehr demokratischer Partizipation?
Schaut man aber in die Kommunalpolitik, spürt man dort wenig Lust auf konstruktive direkte Demokratie. Mit Ausnahme, wenn es um die Reinhaltung des eigenen Vorgartens geht – frei etwa von Windrädern oder Asylantenheimen.
Wo sich am leichtesten die größten Veränderungen bewirken ließen, käme es einem darauf an, ist zugleich das Desinteresse am stärksten. Noch am ehesten Vertrauen genießen dagegen diejenigen Institutionen, die sozial am allerwenigsten repräsentativ sind, weil sie es gar nicht sein sollen: Gerichte und Zentralbanken.
Es stimmt, der Kern des Problems bleibt häufig unscharf. Liegt er in den Differenzen zwischen Repräsentanten, Repräsentierten und ihren demoskopisch ermittelten zunehmend differenzierten Einstellungen? Oder darin, dass die traditionelle Vermittlung dieser Differenz durch die Parteien nicht mehr gelingt. In den zahllosen öffentlichen Debattenbeiträgen der vergangenen Jahre zeigt sich eine auffällige Tendenz, gelingende politische Repräsentation unhinterfragt als Spiegelbildlichkeit zu verstehen. Die Logik von Abbild und Durchschnitt unterläuft dabei die der Mehrheit. Dass Regierungen etwa integrationsfreundlicher sind als die Bevölkerung im Durchschnitt, könnte ja auch einfach bedeuten, dass sie eine proeuropäische Mehrheit und nicht die euroskeptische Minderheit repräsentieren.Bedeutet das, Repräsentation gilt als gelungen, wenn Ruhe im Land ist? Allerdings handelt es sich bei solchen Mehrheiten oft nur um relative, nicht um absolute Mehrheiten, die meisten Konstellationen sind ja nicht rein bipolar. Wie auch (europaweit) die Zersplitterung der Parteiensysteme zeigt. Und, Mehrheit bedeutet nicht zwangsläufig Richtigkeit bzw. Realitätstauglichkeit. Das ist m.E. ein grundsätzliches Problem von Demokratien. Mehrheiten und ihre Repräsentanten können irren. Was passiert, wenn das deutlich wird. Ist es nicht genau das, was wir gerade sehen – in der Russlandpolitik, in der Energie- und Wirtschaftspolitik, in der Finanzpolitik, in der Migrationspolitik? Die Gruppen, die vorher schon eine andere Politik wollten (und dafür oft harsch bekämpft wurden, sich radikalisierten) bekommen Zulauf und Mehrheiten. Der Essay diskutiert dann mögliche Auswege, wie Bürgerräte, direktdemokratische Optionen, aber auch bessere Bildungssysteme, um das Volk klüger zu machen. Ich halte das für einen wichtigen Diskurs. Aber wir sollten uns auch über die grundsätzliche Imperfektion der Menschen und ihrer sozialen Systeme klar werden. Erinnern wir uns an die vier berühmten kantischen Fragen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Vielleicht hilft dabei auch ein Besuch der großen Kant-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/sinkende-arbeitslosigkeit-in-der-eu-gluck-oder-problem2023-11-16T16:03:25+01:002023-11-16T16:03:25+01:00Sinkende Arbeitslosigkeit in der EU - Glück oder Problem<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Hurra, die Arbeitslosigkeit in der Eurozone ist am Verschwinden. Sie liegt mit 6,7 % der Erwerbsbevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit dreißig Jahren. In der EU sind es sogar nur 6,1 %. Die Vollbeschäftigung ist bereits in 10 Mitgliedstaaten Realität: Sie weisen eine Arbeitslosenquote von weniger als 5 % auf, die von Ökonomen allgemein als Schwelle für die Erreichung dieses Grals angesehen wird. Dies gilt für Österreich, Dänemark, Irland, Deutschland, Niederlande, Slowenien und auch für Polen. Natürlich sollte man Vollbeschäftigung nicht nur auf die Arbeitslosenquote reduzieren. Damit dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit wirklich positiv ist, muss er mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote verbunden sein. Ist dies nicht der Fall, kann es bedeuten, dass eine gewisse Anzahl von Menschen entmutigt aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden ist und somit die Arbeitslosenquote künstlich senkt. Auch diese Tendenz scheint momentan in Europa vorhanden zu sein - der Rückgang der Arbeitslosigkeit geht einher mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote. Auf den ersten Blick sehr erfreuliche Nachrichten. Dennoch stagniert die Produktion, die gute Entwicklung des Arbeitsmarkts steht in starkem Widerspruch zu der schwachen Wirtschaftstätigkeit im Europa. Wie ist das möglich?Zunächst ist da eine Variable, die auch der Artikel übersieht. Die Arbeitszeit pro Arbeitnehmer im Euroraum sinkt ebenfalls. Die erfreuliche Entwicklung bei der Beschäftigungsquote fällt alsomit einem deutlichen Rückgang der zur Verfügung gestellten Arbeitszeit pro Arbeitnehmer:in zusammen. Da der Anstieg des Arbeitszeitvolumens seit 1995 deutlich geringer als der Anstieg der Beschäftigung im Euroraum ausfällt, ergibt sich ein Rückgang der durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit pro Arbeitnehmer:in um rund 6 Prozent bzw. ca. 90 Stunden. In Österreich ist die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit sogar um 11 Prozent bzw. 180 Stunden gesunken, übertroffen nur von der Slowakei.Auch für Deutschland gilt:Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in den letzten Jahren deutlich an. Jedoch ging das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen, das die Summe aller Arbeitsstunden der Erwerbstätigen in einem Jahr erfasst, leicht zurück und stiegt erst seit dem Jahr 2005 wieder an. Das Arbeitsvolumen hat sich somit durch Arbeitszeitverkürzung auf mehr Personen verteilt – wodurch sich der Rückgang der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen erklärt.Nicht zu vergessen auch die großen Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit in der Eurozone zwischen Nichtakademikern, wo die Quote immer noch doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt (11,7 % im dritten Quartal 2022), und Akademikern. Auch wenn die Quote bei den weniger Qualifizierten seit dem Ende der Pandemie stark zurückgegangen ist.Der Artikel nennt als einen weiteren Faktor für die mögliche "Scheinblüte" der niedrigen Arbeitslosigkeit die Demografie. Die arbeitsfähige europäische Bevölkerung nimmt ab. Im Jahr 2021 ist die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren in der Eurozone um 0,6 % und in der Europäischen Union um 0,7 % zurückgegangen. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in Italien und Slowenien (-1,9 %), aber auch in Polen (-1,2 %) und Deutschland (-0,5 %); auch Frankreich bleibt nicht verschont (-0,3 %).Demgegenüber wuchs in den 1980er Jahren die erwerbsfähige Bevölkerung ziemlich stark, jedes Jahr um 0,7 %. Um die Arbeitslosenquote zu senken, mussten also umso mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, um dies zu kompensieren. Bei einer schrumpfenden oder stagnierenden Bevölkerung braucht man weniger neue Stellen, um die Arbeitslosigkeit zu senken.Zu diesem Phänomen kommt noch ein tendenzieller oder sogar realer Rückgang der Produktivität (gemessen in BIP pro Arbeitsplatz) hinzu. Letzterer in wirtschaftlich besonders relevanten Ländern wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande. Damit sinkt die Menge an Arbeit, die zur Herstellung einer Ware oder Dienstleistung benötigt wird, weniger schnell als früher bzw. steigt sogar an. Die Produktivitätssteigerung leistet also kaum noch einen Beitrag zum Wachstum. Dies erleichtert die Schaffung von Arbeitsplätzen: Wenn ein Arbeitgeber seine Produktion steigern will, kann er sich nicht allein auf die höhere Effizienz seiner Arbeitnehmer verlassen, sondern muss seine Arbeitskraft durch Neueinstellungen vergrößern.Auch wenn der Ausfall bei der Produktivität für die meisten Wirtschaftswissenschaftler noch rätselhaft ist, man sollte sich dabei nicht auf mögliche Messfehler, Verzerrungen oder gar auf eine von selbst verschwindende Erscheinung verlassen. Dazu dauert m.E. die nachlassende Dynamik der Produktivität und die Suche nach den Ursachen schon zu lange.Wir leben also in einer Zeit der Ungewissheiten. Scheinbar gute Nachrichten haben ihre düsteren Seiten. Der Wunsch nach weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich ist verständlich. Und angesichts der Knappheit an Arbeitskräften werden viele Unternehmen versuchen, darauf einzugehen. Wie das bei sinkender Zahl an arbeitsfähigen Bürgern und stagnierender Produktivität volkswirtschaftlich gehen soll, erschließt sich mir nicht. Dazu kommen gewaltige Aufgaben wie Energiewende, steigender Renten- und Pflegebedarf, Integration der Migranten, notwendige Verteidigungsanstrengungen und auch die wachsende globale Konkurrenz. Sicher muss und kann man einen Teil des dazu erforderlichen Fachkräftebedarfes durch gezielte Einwanderung abfangen. Aber gemütlicher wird es in der EU nicht.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/fortschritte-bei-der-reform-der-ukrainischen-justiz2023-11-10T16:18:35+01:002023-11-10T16:18:35+01:00Fortschritte bei der Reform der ukrainischen Justiz<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/dybg19mgh_EU_Flagge_europa_piqd.png" />
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Manche Fortschritte der Menschheit erkennt jedes Kind. Andere sind viel schwerer zu erkennen und deshalb auch für die meisten Medien weniger interessant. So ist es auch mit der Entwicklung unabhängiger, demokratischer Justizsysteme. Für viele Deutsche ist eine funktionierende Justiz selbstverständlich. In vielen anderen Ländern, gerade außerhalb Europas, ist es jedoch ganz anders. Das gilt auch für die Ukraine. Ich (Jonathan Widder, Gründer von Squirrel News) habe von 2009 bis 2011 selbst in Kiew / Kyjiw gelebt und dort Soziologie studiert. Kritik am ukrainischen Rechtsstaat dort kam mir vorher (als Student Mitte 20) immer übertrieben und nebensächlich vor. Doch schon nach dem Überqueren der Grenzen hatte ich Erfahrungen mit korrupten Grenzern und Polizisten gemacht, wie ich sie mir vorher nicht hätte vorstellen können. Es war die Zeit des autoritären, extrem korrupten Präsidenten Janukowitsch, der stark unter dem Einfluss Russlands stand. Am Ende habe ich meine Masterarbeit über die historische Entwicklung der demokratischen Kultur der Ukraine geschrieben. Die Unabhängigkeit und Nicht-Bestechlichkeit von Richtern und Amtsträgern ist wesentlich für die gesunde Entwicklung einer Demokratie. Berichte über Fortschritte darin, wie hier von tagesschau.de, wirken oft etwas trocken (wenn es überhaupt welche gibt). Nichtsdestotrotz vollzieht sich hier ein grundlegender positiver Wandel, der – wenn er denn anhält – für Länder wie die Ukraine von kaum zu überschätzender Bedeutung ist.Dass das Misstrauen in die Gerichte trotzdem noch niedrig ist, ist nicht überraschend. Das Vertrauen entsteht als allerletztes. Aber es wird entstehen, wenn die Korruption tatsächlich spürbar und dauerhaft zurückgeht. Eine weitere Maßnahme, die dabei helfen dürfte, ist übrigens das neue, fortschrittliche Whistleblower-Portal, das Präsident Selenskyj eingeführt hat. All diese Maßnahmen werden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, um zu wirken. Eine belastbare demokratische Kultur quer durch alle Regionen und Institutionen entwickelt sich nicht über Nacht. Aber Fortschritte passieren schneller, als ich es damals bei meiner Rückkehr aus der Ukraine erwartet hätte.
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Squirrel Newshttps://www.piqd.de/users/squirrel.newshttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-fdp-entwickelt-sich-zum-schreckgespenst-der-eu2023-11-06T11:18:53+01:002023-11-06T11:18:53+01:00Die FDP entwickelt sich zum Schreckgespenst der EU<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Wer die Regierungsarbeit und die Umfrageergebnisse der FDP beobachtet, der/die kann schnell den Eindruck gewinnen, dass die FDP sich lustvoll auf einen Abgrund zubewegt. Dieser Eindruck wird nun zusätzlich seitens des Europäischen Parlaments bestätigt. Denn dort hat sich die FDP laut eines Berichts des Nachrichtenportals Euractiv zu einem Außenseiter unter den Liberalen entwickelt. Insbesondere bei klimapolitisch relevanten Gesetzesprojekten der EU steht die deutsche FDP in Opposition zu ihrer Fraktion im EP, der Fraktion „Renew Europe“, in Daueropposition. Eine schwedische Renew-Abgeordnete wandte sich kürzlich in einer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments mit dem folgenden Appell an die deutschen FDP-Abgeordneten: „Ich spreche zu Ihnen als Liberale: Bitte (…) hören Sie auf, das zentrale Element unseres Klimapakets zu blockieren.“ Bei anderen in der Renew-Fraktion setzt sich wohl der Eindruck fest, „Sie scheinen einfach eine rechte Partei zu sein“. Der Euractiv-Artikel gibt darüber hinaus noch weitere detaillierte Einblicke in das eigenwillige und für viele Liberale nervige und schwer nachvollziehbare Stimmverhalten der FDP im Europäischen Parlament.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/kein-konsens-in-sicht-europa-sucht-eine-gemeinsame-china-strategie2023-11-01T10:09:50+01:002023-11-01T10:09:50+01:00Kein Konsens in Sicht: Europa sucht eine gemeinsame China-Strategie<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/dybg19mgh_EU_Flagge_europa_piqd.png" />
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Europa diskutiert über den zukünftigen Umgang mit China. Der kleinste gemeinsame Nenner der EU-Mitgliedsstaaten: Eine neue, geschlossene Strategie gegenüber Beijing muss dringend her, um dem aufsteigenden Hegemon das Wasser zu reichen. Doch wie genau soll das aussehen? Darin scheiden sich die Geister. Die Historikerin Alice Trinkle (Forscherin bei SCRIPTS und CHERN-Mitglied) erklärt in einem te.ma-Gastbeitrag gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Sebastian Hoppe, was den Konsens verhindert.Zum Hintergrund: Chinas rapide Entwicklung zum wirtschaftlichen Schwergewicht habe sich in den letzten Jahrzehnten auf Europa, seine Nationalstaaten und Partner ganz unterschiedlich ausgewirkt, so Trinkle und Hoppe. Entsprechend divers fallen die strategischen Positionen aus, wie die beiden Forschenden anhand der Beispiele Deutschlands, Frankreichs sowie der östlichen Mitgliedstaaten im Detail analysieren. Die historisch unterschiedlich gewachsenen Beziehungen und Erwartungen fordern nicht nur die Konsensbildung, sondern den Zusammenhalt der EU selbst heraus:
Die europäischen Bemühungen um eine China-Strategie spielen sich in einem Spannungsfeld ab: Auf der einen Seite steht die umfangreiche wirtschaftliche Verflechtung fast aller Länder mit China. Auf der anderen Seite muss der Einfluss, den die chinesische Führung unter Xi ausübt, politisch neu bewertet werden. Die politische Herausforderung für die EU besteht darin, die unterschiedlichen Bewertungen der China-Frage nicht zu Sollbruchstellen werden zu lassen.
Ein zentraler Punkt auf der europäischen China-Agenda, welcher seit diesem Jahr von verschiedenen Mitgliedstaaten regelmäßig besprochen und besonders von der EU-Kommission geprägt wird: Das sogenannte De-Risking. Hinter dem Begriff steckt der Gedanke einer Risikominimierung durch mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit, die gleichzeitig gezielte Kooperationen und Gesprächsbereitschaft erlaubt. Doch auch hierfür erkennen Trinkle und Hoppe deutliche Barrieren: „Dem Anspruch des De-Risking stehen die immensen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Europa und China gegenüber.“Die chinesische Führung, wachsam gegenüber den europäischen Entwicklungen, erklärt ihrerseits, dass „der De-Risking-Ansatz unnötige Konflikte in laufende Kooperationen hineintrage“ und kritisiert mitunter eine zu enge Anbindung Europas an die USA. Tatsächlich wird das Gewicht der transatlantischen Partnerschaft innerhalb der EU sehr unterschiedlich justiert. Ihre Rolle bleibt auch in der China-Frage entscheidend: Hinter den unterschiedlichen Perspektiven auf China stehen also nicht zuletzt verschiedene Visionen, wie die anvisierte strategische Autonomie Europas und das Verhältnis zu den USA aussehen können.Mit Blick auf diese Multiperspektivität innerhalb der EU sowie auf die zunehmend dynamischen Entwicklungen in der europäischen China-Diplomatie liefern Trinkle und Hoppe abschließend eine eigene Einschätzung dazu, wie ein strategischer Konsens erreicht werden könnte: Statt dem Ziel einer China-Strategie „für ganz Europa“, sollte die EU an einer Position arbeiten, die den Unterschieden zwischen den europäischen Staaten gerecht wird. Das bedeutet zum einen, die verschiedenen China-Lager in Europa zu integrieren und die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Verflechtung mit der Reduzierung von Abhängigkeiten in Einklang zu bringen. Zum anderen sollte die Angst vor der „autoritären Internationalen“ nicht dazu führen, Nuancen in der chinesischen Position, und damit potenziell ähnliche Interessen, zu übersehen.
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te.ma Open Science, Civil Discoursehttps://www.piqd.de/users/tema.open-science-civil-discoursehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/polen-ist-anders-als-ungarn-oder-russland2023-10-27T18:17:06+02:002023-10-27T18:17:06+02:00Polen ist anders - als Ungarn oder Rußland<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Am Tag nach der polnischen Parlamentswahl vom 15. Oktober fielen den liberalen Bürgern (nicht nur) in Europa ganze Steinlawinen vom Herzen. Die Ängste waren groß, dass sich die autoritäre Wende auch in Polen verfestigen könnte.In der Quasidiktatur unter Jaroslaw Kaczynskis Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sei ein Machtwechsel fast unmöglich, sagten Opposition und europäische Kritiker aus fast allen politischen Lagern warnend. Donald Tusk und seine linksliberalen Verbündeten würden bei einer Niederlage blutige Unruhen anzetteln, raunten dagegen die rechtsnationalen Propagandisten.Noch vor kurzem schrieb das IWD:In Polen hat die regierende Prawo i Sprawiedliwość (PiS) (deutsch: Recht und Gerechtigkeit) die Demokratie ausgehöhlt. Für einen Sieg der Opposition bedarf es fast eines Wunders. Die anstehende Parlamentswahl ist im Wesentlichen ein Referendum über Demokratie und die Zukunft der polnischen Beziehungen zur EU. Selbst ein „Polexit“ ist nicht ausgeschlossen (...).Doch Polens Demokratie erwies sich als viel nachhaltiger als gedacht, das Wunder wurde Wirklichkeit:Die Menschen strömten in so grosser Zahl wie nie zuvor an die Urnen, die Wahl sowie die Auszählung der Stimmen verliefen praktisch ohne Probleme. Und auch wenn die PiS nicht ganz geräuschlos abtreten dürfte: Die Polinnen und Polen haben der Opposition einen deutlichen Regierungsauftrag erteilt. Den Nationalkonservativen verweigerten sie eine dritte Amtszeit – aus der Überzeugung, dass so ein Machtmonopol nicht zu ihrer hart erkämpften Demokratie passt.Die nationalistische PiS versuchte einen national-populistischen Wahlkampf, der ungeniert die öffentlichen Sender und unbegrenzte öffentliche Mittel für die regierende Partei einsetzte. Die Wahl wurde begleitet, so Ivan Krastev im „The Guardian“, durch ein von der PiS beschlossenem Referendum:Im vergangenen August stimmte die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ des Landes dafür, dass die Parlamentswahlen im Oktober von einem Referendum begleitet werden sollten. Den Bürgern würden populistische Fragen über den (angeblichen) Verkauf von Staatsvermögen an Ausländer, die Erhöhung des Rentenalters und die illegale Einwanderung gestellt. Das Referendum war die Kopie einer Strategie, die erfolgreich von Viktor Orbán verwendet wurde, um sein illiberales Regime in Ungarn zu konsolidieren. Das war der Versuch, die Wahlen als Referendum über die polnische Souveränität zu definieren. Dieser Trick ist gescheitert. Die Opposition boykottierte das Referendum erfolgreich, nur etwa 40 % der Wähler nahmen überhaupt daran teil. Das zeigt, eine der wichtigsten Strategien der langen Herrschaft der nationalen Populisten in Polen ist gescheitert. Es ist ein erfreuliches Paradoxon, dass acht Jahre Kulturkrieg gegen den Liberalismus zu einer dramatischen Liberalisierung der polnischen Gesellschaft geführt haben. … Ähnlich wie Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine eine neue, radikal antirussische ukrainische Identität hervorgebracht hat, hat Jarosław Kaczyńskis innerpolnischer Krieg eine liberale politische Identität in Polen geschaffen, die es vorher nicht gab.Diese Wahlen könnten, laut Guardian, daher die letzten sein, die von der Generation der beiden großen Blöcke angeführt wurden, die den Kommunismus gestürzt hat. Sowohl, Tusk, 66, als auch Kaczyński, 74, repräsentieren zwei starke Strömungen innerhalb dieser antikommunistischen Bewegung. Kaczyński stand und steht für das Polen der Vorkriegszeit; Tusk vertritt die Idee vom liberalen Polen.
Die beiden Visionen konnten im Kampf gegen den Kommunismus koexistieren, standen aber nach 1989 in ständiger Spannung, beide beanspruchten das Vermächtnis der Solidarność als ihre politische Identität.
In diesem Zusammenhang ist hoffentlich die Niederlage von „Recht und Gerechtigkeit“ nicht nur eine Chance für das Ende des „polnisch-polnischen“ Krieges, sondern auch für das Ende des nie offen deklarierten polnisch-deutschen Krieges. Aber wir sollten bedenken:Die Opposition hat gewonnen, aber diese Wahlen bestätigten die Existenz der zwei Polen, und dieses zweite, Kaczyńskis Polen, wird nicht verschwinden. Die neue Regierungskoalition wird auch nicht einfach sein. Der Sieg der Opposition bedeutet nicht, dass das Misstrauen gegenüber Deutschland verschwinden wird oder dass die polnische Kritik an Deutschland überhaupt falsch war.Wie die NZZ im empfohlenen Artikel zeigt, Polen ist einerseits geprägt durch große Unterschiede zwischen dem Westen und Osten des Landes. Aber auch seine Geschichte eint und spaltet gleichzeitig. Mit langen Unterbrechungen und mit wechselnden Grenzen hat das Land eine über tausendjährige Staatlichkeit hinter sich. Dabei war sicher die Königliche Republik Polen-Litauen, aus polnischer Sicht als Erste Polnische Republik bezeichnet, mit prägend. Diese Adelsrepublik des 16. Jahrhunderts wurde nicht nur in Polen zu einem einzigartigen, freiheitlichen Idealbild stilisiert. Auch wenn nicht die gesamte erwachsene Bevölkerung daran partizipieren konnte, es war eine wichtige historische Erfahrung.
Polen war Imperium, Nationalstaat und oft genug Opfer der Grossmächte in der Region. Ende des 18. Jahrhunderts teilten diese das Gebiet dreimal unter sich auf. Nach 1918 folgte auf die lange Fremdherrschaft eine zwanzigjährige Periode der Unabhängigkeit und Expansion. 1939 zerschlugen Nazideutschland und die Sowjetunion Polen erneut und lieferten die Bevölkerung ihren Terrorregimen aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt das Land durch die Westverschiebung ein völlig neues Gesicht. Als «Volksrepublik» und Satellitenstaat der Sowjetunion war die Unabhängigkeit mehr formal als real. Dennoch überlebte mit der katholischen Kirche eine zentrale identitätsstiftende Institution, bis die gewerkschaftliche Massenbewegung Solidarnosc das sozialistische Regime 1989 an den runden Tisch zwang.
Diese gewaltsamen und sehr unterschiedlichen Erschütterungen des brutalen 20. Jahrhunderts generierten Opfer und Profiteure, passive Zuschauer, Aktivisten und Kollaborateure. Im Unterschied zu vielen anderen Staaten des Ostblocks musste nach 1989 … ein Land demokratisch zusammenfinden, das durch historisch völlig unterschiedlich geprägte Regionen und stürmische Veränderung geprägt war. Ähnlich wie die Sowjetunion war Polen eine durcheinandergewirbelte «Flugsandgesellschaft», um den Historiker Moshe Lewin zu zitieren. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die (sehr ausgeprägte Th.W.) nationale Idee stets erhalten blieb, wenn auch phasenweise nur im Exil.Polens Geschichte umfasst deshalb sowohl die Wurzeln der nationalen Einheit als auch der Spaltung. Die wirtschaftliche Transformation vom Sozialismus zur Marktwirtschaft hat dabei regionale Unterschiede eher verstärk:
Die Chancen boten sich in den grossen Städten, in Warschau, Breslau (Wroclaw) oder Danzig (Gdansk). Noch 2020 lag laut der OECD das Pro-Kopf-Einkommen in Lublin, der ärmsten Region an der Ostgrenze zur Ukraine und zu Weissrussland, bei fast einem Drittel von jenem in der Hauptstadt. Politisch spiegelt sich dies bis heute: Der traditionell weltoffenere, industrialisiertere und reichere Westen hat am letzten Sonntag die Opposition gewählt, während der konservativere und ärmere Osten PiS-Land ist.
Dabei, so die NZZ, war Polen nie vergleichbar mit Ungarn. Dort ist die Hauptstadtregion nach wie vor so dominant, dass der Rest des Landes gefühlt (?) nur mit einer zentral gesteuerten Strategie und viel Subventionen entwickelt werden kann. Polens Dynamik aber hat viele Quellen. Zu den Verdiensten der Partei Recht und Gerechtigkeit, kann man daher zählen, dass sie die Gräben zwischen Ost, West, Stadt und Land verringert hat. Das Ziel der Vorgängerregierungen hatte darin gelegen, Polen wirtschaftlich in die EU zu integrieren und durch Wachstum den durchschnittlichen Wohlstand zu erhöhen. Dieser verteilte sich aber alles andere als gleichmässig. Die PiS ermöglichte den Abgehängten ein Stück Wohlstand, etwa durch das Kindergeld. Der ausgebaute Sozialstaat ist heute innenpolitisch praktisch unbestritten.Trotzdem hatte die PiS nie ein Volksmandat für eine Revolution. Alles in allem könnte der Wahlausgang eine gute Basis für die Zukunft schaffen. Europa kann es gebrauchen. Es verschieben sich dadurch die wirtschaftlichen und militärischen Machtgewichte weiter nach Osten. Polen wird dabei zunehmend das Gravitationszentrum in Europas neuem Osten. Wir sollten daher die Fehler der Vergangenheit nicht verdrängen, die Thomas Schmid mit den Worten von Tadeusz Mazowiecki, der 1989 der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident Polens wurde, so formuliert hat: „Ein Volk, das seine volle Souveränität gerade wiedererrungen hat, kann sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, einen Teil seiner Souveränität abzutreten, und sei er noch so winzig.“ Darauf haben die kulturell blinde EU und auch Deutschland nicht gehört. Sie haben diese Sorge als eine hinterwäldlerische Marotte abgetan.Natürlich hat diese Ignoranz des Westens den Aufstieg und Erfolg der PiS mit befördert. Die Nationalisten verstanden es hervorragend, das polnische Opfer-Bewusstsein wiederzuerwecken. Bei aller berechtigten Kritik an der PiS, ist es dennoch ihr Verdienst, sich mit der Rolle am Katzentisch der EU nicht abgefunden zu haben. Und es stimmt, nicht nur wegen der wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Stärke Polens:Es wäre fatal, wenn die EU und Berlin jetzt kurz durchatmen und dann zur Tagesordnung übergehen würden. Es gibt etwas gut zu machen an Polen, nicht nur wegen der deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs. Polen ist kein Land unter anderen in der EU. Seiner besonderen Geschichte wegen, die viel Leid enthält, verdient es besondere Aufmerksamkeit.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/zum-3-mal-wurde-der-daphne-caruana-galizia-preis-verliehen2023-10-20T11:33:18+02:002023-10-20T11:33:18+02:00Zum 3. Mal wurde der Daphne Caruana Galizia Preis verliehen<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Es ist sicher etwas ungewöhnlich, hier auf eine Pressemitteilung des Europäischen Parlaments zu verweisen. Der Grund: Das Ereignis, um das es geht, hat bisher keine nennenswerte mediale Resonanz gefunden. Dabei geht es um einen Preis, mit dem das Europäische Parlament Pressefreiheit und kritische Berichterstattung fördern und stärken will. Deshalb ist dieser Preis nach der am 16. Oktober 2017 durch eine Autobombe ermordete investigative maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia benannt. Dieser Preis wurde in diesem Jahr zum 3. Male verliehen. Verliehen wurde er an das griechisch-deutsch-britische Konsortium für die Recherche zum Untergang des Flüchtlingsboots „Adriana“ mit über 600 Toten vor der Küste von Pylos im Südwesten Griechenlands. Die Mitteilung der Presseabteilung des EP erläutert die Gründe für die Preisverleihung an dieses Konsortium und stellt eine Reihe zusätzlicher Informationen zur Arbeit des Konsortiums zur Verfügung. In Zeiten, in denen Pressefreiheit verstärkt unter Druck gerät (vergl. Reporter ohne Grenzen: Krisen, Kriege und Gewalt bedrohen Pressefreiheit) sollte m.E. eine solche Preisverleihung mehr Beachtung finden, als es derzeit der Fall ist.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/der-mythos-vom-riss-durch-die-mitte-der-gesellschaft2023-10-19T13:04:52+02:002023-10-19T13:04:52+02:00Der Mythos vom Riss durch die Mitte der Gesellschaft?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Sind unsere westlichen Gesellschaften wirklich so gespalten wie zunehmend behauptet wird? Und wenn ja, welche betrifft es besonders und warum? Oder ist das nur ein „Mythos“? Der anhand von Beispielen und verschiedenen Streitthemen versucht wird zu untermauern? Immer mit hohen Erregungswellen in Politik und Medien. Auch bei Piqd haben wir auf solche Fragen schon verwiesen.Ein Team von Wissenschaftlern um den Soziologen Steffen Mau hat nun jüngst die Einstellungen zu aktuellen Reizthemen quer durch alle Schichten in Deutschland untersucht. Das Medienecho war groß, hier "Die Welt" dazu:Die Soziologen ließen über 2500 Bundesbürger ab 16 Jahren für eine repräsentative Studie befragen und Teilnehmer in mehreren Diskussionsgruppen in Berlin und Essen aufeinandertreffen. Mit „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ stellen die Wissenschaftler nun ihre überraschenden Ergebnisse vor. Gibt es einen gesellschaftlichen „Rechtsruck“? Verkörpern der „alte weiße Mann“ und die Boomer den Rückschritt? Ist die Arbeiterklasse gefangen in einem trüben Sumpf aus Fremden- und Queerfeindlichkeit? Nichts davon stimmt, so Mau, Lux und Westheuser. Die Studie erschüttert zahlreiche Gewissheiten über die „Kulturkämpfe“, sowohl des moralisierenden Jargons des Linksliberalismus als auch der Rechten. Es ist die dringend nötige Korrektur eingeschliffener Debatten durch Empirie.
In ihrem aus den Analysen bei Suhrkamp erschienenen Buch schreiben die Autoren:Trotz der jüngsten Prominenz dieser Thesen gehört das Bild eines Auseinanderfallens der Gesellschaft in gegensätzliche Blöcke seit Langem zum Repertoire der Zeitkritik. So erklärte Marx die sozialen Kämpfe seiner Zeit durch die Grundspannung des Kapitalismus. Als Kamelhöcker treten hier soziale Klassen auf, die durch ihr Eigentum an Produktionsmitteln und ihre Position in der Produktionssphäre bestimmt sind. Im Spiel der kapitalistischen Kräfte, so prophezeite es das Kommunistische Manifest, würden »Zwischenklassen« nach und nach zerrieben. Übrig blieben zwei antagonistische Hauptklassen, verkörpert durch die Gruppen der Besitzenden und der Lohnabhängigen. Dieses schismatische Zwei-Klassen-Modell war lange Zeit eine der wirkmächtigsten Polarisierungsdiagnosen in den Sozialwissenschaften.Bekanntlich ist es nicht ganz so gekommen. Das "Neue Deutschland" bringt nun hierzu ein Interview mit Steffen Mau, das erfreulicherweise nicht hinter der Bezahlschranke steht und auch daher hier empfohlen wird. Mau charakterisiert den Grad der gemessenen gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland als "Dromedargesellschaft" und eben nicht als "Kamelgesellschaft" .Beim Kamel haben wir zwei Höcker, dazwischen ist ein großer Graben. Hier stehen sich zwei gesellschaftliche Großgruppen gegenüber, die Differenzen erscheinen unüberbrückbar. Beim Dromedar gibt es einen großen Hügel, die Ränder laufen aus und sind deutlich kleiner.Kamelgesellschaften findet man eher in Staaten mit Mehrheitswahlrecht sowie Zwei-Parteien-Systemen wie in Großbritannien oder in den USA und weniger in Ländern mit Verhältniswahlrecht. Beim Mehrheitswahlrecht gewinnt immer der Kandidat mit den meisten Stimmen das Mandat. Koalitionsregierungen sind daher eher unüblich, es dominieren wenige große Parteien. Mehrheitswahlrecht fördert also Polarisierungen und passt nicht mehr richtig zu den vielfältig ausdifferenzierten modernen Gesellschaften. Aus dieser Ausdifferenzierung und Vielfalt folgt nach Mau auch, dass die traditionelle Aufteilung in ein rechtes und ein linkes politisches Lager nur noch bedingt zeitgemäß ist. Die historisch bekannten absoluten Spaltungsdiagnosen, wie sie etwa Marx theoretisch untermauert hat, verlieren demnach an Relevanz. Die Diagnose, nach dem wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben wäre also zu pauschal:Wir leben in einer emotional aufgewühlten Gesellschaft mit vielen neuen Konflikten. Wir haben radikale Ränder. Aber deshalb ist unsere Gesellschaft noch nicht gespalten. Die meisten Leute gruppieren sich in der breiten Mitte.Auch wenn heute der Rechts/Links-Konflikt noch den politischen Raum strukturiert, ist der Grundkonflikt weniger dominant. Es sind neue Konflikte hinzugetreten, Themen wie Migration, Klimawandel oder sexuelle Diversität machen die Lage komplizierter. Wir sehen in den politikwissenschaftlichen Analysen, dass es im Vergleich zu früheren Urnengängen mehr Wählerwanderung beispielsweise zwischen der SPD, den Grünen und der CDU/CSU gibt, sich also die Fronten etwas aufgeweicht haben. Neu ist in Deutschland aber der Aufstieg einer rechtspopulistischen und in Teilen rechtsradikalen Partei, der AfD. Dadurch sind neue Reibeflächen in der politischen Auseinandersetzung entstanden.Insofern scheint die starke gesellschaftliche Spaltung auch etwas medial und politisch herbeigeredet?Es gibt eine »Spaltung in den Köpfen« oder eine »gefühlte Polarisierung«, die das tatsächliche Auseinanderdriften der Gesellschaft überbetont. Die Menschen sind bei vielen Themen näher beieinander und weniger kompromisslos als man angesichts der öffentlichen Debatten meinen könnte. Statt einer Spaltung in der Mitte haben wir eine Radikalisierung des Randes.Das erscheint mir durchaus einleuchtend. So wird die Stärke und Richtung einer beobachteten Polarisierung auch von der Blickrichtung und Fragestellung der Analyse abhängen. In einem etwas früheren Interview in "Soziopolis" sagte Mau dazu:Beschäftigt man sich politikwissenschaftlich mit Polarisierungsphänomenen, wird in der Tat eine Veränderung des Parteiensystems in der gesamten westlichen Welt mit einer größeren Bedeutung von Parteien erkennbar, die entweder universalistische Überzeugungen vertreten und ökologische Fragen thematisieren oder ethno-nationalistische Schließungen propagieren wie die AfD oder Lega Nord. Das sind zweifelsohne neue Erscheinungen jenseits des alten Schemas links-rechts oder Kapital-Arbeit. In den Elektoraten ist eine Reorganisation der Wählerschaft und Wählerströme zu beobachten, bis hin zu dem Punkt, an dem manche sagen, die AfD sei die neue Arbeiterpartei und spreche vor allem die unteren Schichten an. Wenn man jedoch soziologisch fragt, wie sich Leute zu Sachthemen positionieren, zu zentralen gesellschaftlichen Fragen – Migration, Anerkennung sexueller Diversität, Gleichstellung von Mann und Frau – dann ist die Lage viel unübersichtlicher. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen erlauben es nicht ohne Weiteres, die Leute dem einen oder anderen Camp zu zuordnen. Da finden sich keine scharf konturierten, klar einander gegenüberstehenden Lager. Und es lässt sich auch keine, wie man früher gesagt hätte, klare soziale Standortgebundenheit der Positionen feststellen, etwa in dem Sinne, dass es ein kosmopolitisches Oben und ein kommunitaristisches Unten gebe.Insofern findet die Forschungsgruppe auch keine Aufspaltung in zwei klar zu unterscheidende Lager und auch keinen strikt trennenden Graben zwischen Bevölkerungssegmenten. Es mag einen kosmopolitischen und einen kommunitaristischen Pol als Idealtypen von Gesinnungsklassen geben, die meisten Menschen positionieren sich aber irgendwo in der Mitte.In dem Interview des ND nennt Mau vier empirisch nachgewiesene zentrale "Konfliktarenen der Ungleichheit"Erstens den Oben-Unten-Konflikt, in dem es um klassische ökonomische Ungleichheit und um Verteilungsfragen geht. Zweitens um Innen-Außen-Konflikte wie die Migration. Dazu kommt die Wir-Sie-Arena die sich um Diversität und Diskriminierung dreht und die Heute-Morgen-Arena also etwa die Klimafrage. Die drei letzten Themen seien eher neue Konflikte, die viel Bewegung und Erregung in die Gesellschaft hineinbringen und sehr viele "Triggerpunkte" aufweisen:Wir beobachten einerseits viel Konsens, aber auch erhitzte Gemüter, wenn bestimmte Reizthemen angesprochen werden, etwa das Gendern in der Sprache, im Straßenverkehr die Lastenfahrräder oder auf der anderen Seite Geländewagen wie die SUVs. Verletzungen von Gleichheitsvorstellungen, Gefühle von Kontrollverlust und Veränderungszumutungen sind typische Trigger, die Menschen erregen oder wütend machen. Das führt dann zu besonders emotionalisierten Diskussionen, die sich nicht so schnell einfangen lassen.Und diese neuen "Umordnungen" politischer Konfliktfelder erzeugen natürlich auch neue Allianzen. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, was Mau in dem Interview mit der "ZEIT" sagte:Die soziale Welt ist nicht so schubladisiert, wie es vermittelt wird. Die öffentlichen Diskurse sind zum Teil entkoppelt von der Realität. Ich bin selbst immer wieder überrascht von der Empirie, weil sich meine Erwartungen ja auch aus den Medien und privaten Unterhaltungen speisen. Als Soziologe bin ich ein Mythenjäger.Jagen wir auf der Suche nach der Wirklichkeit die "schubladisierenden" Mythen mit Geduld und Gelassenheit. Wir sind uns in Vielem wohl näher als gefühlt …..
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/das-europaische-parlament-will-sich-neu-organisieren2023-10-19T07:14:31+02:002023-10-19T07:14:31+02:00Das Europäische Parlament will sich neu organisieren<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Diese Empfehlung ist eher für EU-Nerds und EU-Nerdinnen gedacht. Aber für die dürfte der Artikel interessant sein. Konkret geht es um den Zuschnitt der parlamentarischen Ausschüsse. Ihr gegenwärtige Struktur wurde vor knapp zwanzig Jahren festgelegt. Da sich die politischen Rahmenbedingungen in dieser Zeit spürbar verändert haben, will das Europäische Parlament die Zuständigkeiten der Ausschüsse verändern, um Kompetenzstreitigkeiten, zu denen der aktuelle Zuschnitt immer wieder führt, zukünftig zu vermeiden. Gleichzeit soll die Zahl der Ausschüsse verringert werden.Das Sekretariat des Europäischen Parlaments hat dazu nun einen Vorschlag gemacht, wie die Ausschüsse zukünftig zugeschnitten sein könnten. Eleonora Vasques hat sich diese Vorschläge für Euractiv angeschaut und stellt sie den Leserinnen und Lesern vor.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/diktaturen-der-welt-vereinigt-euch-gegen-den-westen2023-10-07T15:45:58+02:002023-10-07T15:45:58+02:00Diktaturen der Welt vereinigt euch – gegen den Westen<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Wir scheinen uns langsam an den Ukrainekrieg zu gewöhnen – er wird zum Alltagsereignis. Auch der Konflikt mit China, die Ereignisse im Iran, beunruhigen nur noch begrenzt. Man sieht diese Ereignisse gewöhnlich nicht als bedrohliche Gesamtstrategie. Unsere moralisierende Außenpolitik (und nicht nur die) folgt ihrem gewohnten Lauf. Richard Herzinger zeichnet nun in der NZZ ein sehr bedrohliches, leider auch realistisches Szenario – eine potenzielle Weltkriegsallianz der Diktatoren unserer Welt gegen den Westen.Das blitzt auf, wenn sich etwa Wladimir Putin mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-un trifft. Oder wenn der Iran Drohnen und mehr nach Moskau liefert. Auch China agiert gegenüber Russland und seinem Krieg in der Ukraine eher undurchsichtig. Seine Absicht gegenüber Taiwan allerdings formuliert es auch gegenüber dem Westen knallhart. Selbst Serbien träumt wohl im Windschatten von Russlands Krieg von einer Revanche gegenüber Kosovo und Bosnien-Herzegowina. Die Diktatoren in Syrien und Weißrussland sind ebenfalls an Bord. Die kleinen Despoten wittern Morgenluft. Und Russland ist offensichtlich dabei, systematisch eine weltweite Kriegsfront gegen westliche Demokratien aufzubauen. Doch im Westen wird das Ausmass der Bedrohung, die ihm durch das Entstehen einer gegen ihn gerichteten potenziellen Weltkriegsallianz erwächst, längst noch nicht ausreichend erkannt. Weiterhin hängt man in westlichen Hauptstädten der illusionären Vorstellung an, Moskau werde sich über kurz oder lang zu «Verhandlungen» über einen «gerechten Frieden» (Olaf Scholz) für die Ukraine bereitfinden. In Wahrheit rüstet sich Russland massiv für eine jahrelange Fortsetzung seines genozidalen Feldzugs gegen die ukrainische Nation.Und wer genau hinhört, bemerkt, dass die russische Führung den Überfall auf die Ukraine nur als ersten Akt des viel grösseren Kriegs gegen die Nato betrachtet, durch den die weltpolitische Dominanz des demokratischen Westens ein für alle Mal beseitigt werden soll. Das Ziel des kriminellen Regimes in Moskau ist nicht weniger, als die gesamte auf universellen Werten und Normen gegründete internationale Ordnung zum Einsturz zu bringen und sie durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen.Wiederholt sich jetzt die Autosuggestion des Westens, die ihn am Tag des Überfalles auf Kiew so unvorbereitet dastehen ließ, gerade im globalen Maßstab? Was ist aus der Zeitenwende geworden, die unser Kanzler ausgerufen hat? Klammert sich der Westen nicht immer noch an die Hoffnung, die Widersprüche zwischen den Kräften innerhalb der autokratischen Phalanx seien zu gross, als dass diese dauerhaft zusammengehalten werden könnte. Tatsächlich aber kennen Iran, dessen theokratisches Regime von der apokalyptischen Erwartung einer anbrechenden Weltherrschaft des Islam angetrieben wird, Russland, das sich als Beschützer und Retter des von liberaler «Dekadenz» bedrohten «christlichen Abendlands» aufspielt, und die streng atheistische Diktatur Nordkoreas (die den Glauben an ein höheres Wesen freilich durch die Vergottung ihres weltlichen Führers ersetzt hat) keinerlei weltanschauliche Berührungsängste, wenn es gegen den verhassten Westen geht.In den USA sehen wir derweil Spielchen zwischen Republikanern und Demokraten, die die Unterstützung der Ukraine bis hin zum Zusammenhalt des Westens überhaupt massiv gefährden. Bundeskanzler Scholz weigert sich beharrlich, militärisch dringend notwendige Marschflugkörper zu liefern und von einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsinitiative hört man auch nichts. Man möchte ausrufen – Völker hört die Signale:Der Kollaps der regelbasierten internationalen Ordnung könnte schneller eintreten, als man es im Westen zumeist wahrhaben will.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-eu-auf-dem-weg-zur-foderalisierung2023-10-06T15:29:25+02:002023-10-06T15:29:25+02:00Die EU auf dem Weg zur Föderalisierung?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Das Highlight der bald zu Ende gehenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments war die Europäische Zukunftskonferenz, mit deren Ankündigung sich Ursula von der Leyen 2019 die Mehrheit der Stimmen im Europäischen Parlament für ihre Kandidatur als EU-Kommissionspräsidentin gesichert.Die EU-Zukunftskonferenz fand dann auch tatsächlich statt. Bürger und Bürgerinnen aus allen EU-Mitgliedsländern haben sich daran beteiligt und am Ende gab es eine Reihe von Vorschlägen zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Europäischen Union.Mitte September 2023 haben einige Europaabgeordnete diese Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger aufgenommen und im Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Europäischen Parlaments (AFCO) ein umfangreiches und ehrgeiziges Projekt zur Vertragsänderung vorgestellt, der mit einem Antrag verbunden ist, in dem der Rat aufgefordert wird, die vorgelegten Reformvorschläge unverzüglich und ohne weitere Beratung dem Europäischen Rat vorzulegen, mit dem Ziel, einen Konvent nach dem ordentlichen Änderungsverfahren gemäß Art. 48 EUV zu ermöglichen. Vermutlich wird der Antrag ohne größere Änderungen Anfang Oktober im AFCO angenommen und wird dann Anfang November im Plenum des Europäischen Parlaments zur Abstimmung stehen. Erarbeitet wurde der Antrag von einem Ko-BerichterstatterInnentream im AFCO, dem Guy Verhofstadt (Renew, BE), Sven Simon (EPP, DE), Gabriele Bischoff (S&D, DE), Daniel Freund (Greens/EFA, DE) und Helmut Scholz (The Left, DE) angehörten.Luca Lionello, Assistenzprofessor für EU-Recht an der Katholischen Universität Mailand, hat sich den Antrag genauer angeschaut und auf dem Webportal Verfassungsblog die wichtigsten Aspekte des Antrags dargestellt.Der Antrag beruft sich auf das Manifest von Ventotene und auf die Schuman Deklaration und fordert eine stärkere demokratisch eWeiterentwicklung der EU-Institutionen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger. Lionello betont, dass erstmals nicht Regierungsvorschläge im Zentrum einer Weiterentwicklung der EU stehen, sondern die von Bürgern und Bürgerinnen im Rahmen der Europäischen Zukunftskonferenz erarbeiteten Vorschläge. Drei grundlegend Vorschläge stehen im Zentrum des AFCO-Antrags: Eine Neuausrichtung des institutionellen Gleichgewichts der EU, die zu einer Stärkung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission führen soll bei gleichzeitiger Verringerung der Bedeutung des Rates der EU, der derzeit strukturell den beiden anderen Institutionen überlegen ist. Zudem soll es eine Ausweitung der Zuständigkeiten der Union auf zentrale Politikbereiche geben sowie eine stärkere Überwachung der nationalen Politik durch die EU.Im Ergebnis führen die AFCO-Vorschläge, so Lionello, also zu einer Reduzierung des Einflusses der Regierungen der Mitgliedstaaten und zu einer Stärkung des Einflusses der Bürgerinnen und Bürger über das Europäische Parlament.Zum Abschluss seines Beitrags fragt Lionello noch nach den Chancen einer Umsetzung dieser aus seiner Sicht in einem guten Sinne provokanten Vorschläge.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/ost-und-west-dreissig-jahre-spater-denkanstosse-von-karl-schlogel2020-03-06T15:43:09+01:002020-03-06T15:43:09+01:00Ost und West dreißig Jahre später – Denkanstöße von Karl Schlögel<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Das vermeintliche oder reale Auseinanderdriften der politischen und kulturellen Befindlichkeiten zwischen dem Osten und dem Westen Europas ist ein Thema, das in den vergangenen Jahren in Mode gekommen ist. Es gibt eine Menge steiler Thesen dazu, und es äußern sich im Westen auch manche - Journalisten, Publizisten, Autoren -, die sich nie besonders für den Osten Europas interessiert haben, noch auch ihn besonders gut kennen. Demgegenüber ist der Historiker Karl Schlögel jemand, der seit Jahrzehnten wie kaum ein anderer versucht, einem deutschen und westeuropäischen Publikum die Geschichte und Gegenwart des Ostens nahezubringen. Er hat mitunter regelrechte "archäologische" Pionierarbeit geleistet. Für die neueste Ausgabe der wunderbaren Zeitschrift Osteuropa, die sich dem Thema "Macht und Recht im Osten Europas" widmet, hat Schlögel den einleitenden Essay geschrieben. Er blickt darin zurück auf das Jahr 1989 und auf die großen Hoffnungen nach dem Umsturz der Diktaturen im Osten Europas, auf die Transformation und ihre Wirren, und er sinniert über den Aufstieg von Nationalismus und Autoritarismus in Osteuropa. Schlögel ist ein großartiger, sprachgewaltiger und dafür zu Recht preisgekrönter Essayist. In diesem Text gibt er mit Zurückhaltung und fast mit Bescheidenheit, der man den Umfang seines Wissens und seines Verständnisses für den Osten Europas anmerkt, einige Denkanstöße zur neuen Ost-West-Debatte, die in der besten Tradition kritisch-skeptischen Denkens stehen. Es ist schwer, das in nur einigen kurzen Sätzen wiederzugeben, deshalb ein Zitat zu der heutigen allgemeinen "Verwirrung bisher klarer Fronten":Vielleicht ist das nichts anderes als die Wiederherstellung des Normalzustandes Europas nach einem halben Jahrhundert der Stabilität auf einem geteilten Kontinent. Der Westen ist ebenfalls Teil dieser Normalisierung. „Der Westen“ als eine homogene Einheit hat zu existieren aufgehört. Auch der ehemalige Westen ist auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Dabei kommt es zu Fusionen, die sich niemand vor 30 Jahren vorstellen konnte. (...) Die Korruption aus dem Osten fusionierte mit der hausgemachten Korruption des Westens.An dieser Stelle möchte ich zugleich die - nochmals: wunderbare - Zeitschrift Osteuropa empfehlen, in der herausragende Akademiker und Intellektuelle aus Ost und West die zeitgenössischen Entwicklungen im Osten Europas analysieren und einordnen. Wer sich tiefschürfend über diesen Teil unseres Kontinents informieren möchte, wird keine vergleichbare Zeitschrift finden.
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Keno Verseckhttps://www.piqd.de/users/keno.verseckhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/folge-dem-geld-wirtschaftsverbrechen-und-korruption-in-europa2023-09-23T14:55:24+02:002023-09-23T14:55:24+02:00Folge dem Geld – Wirtschaftsverbrechen und Korruption in Europa<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Vor einer Woche hat Jürgen Klute eine piqd-Empfehlung zum Thema Katar-Gate, dem Schmiergeld-Skandal im Europäischen Parlament, abgegeben. Schmiergeld ist offensichtlich für viele Staaten ein Mittel, um ihre Politik durchzusetzen. Aber das umfasst nur einen kleinen Teil der umfangreichen Finanz- und Wirtschaftsverbrechen auf unserem Kontinent mit seinen halblegalen bis kriminellen Netzwerken. Im Mittelpunkt stehen dabei unauffällige, verdeckte Finanztransfers etwa auch zur Geldwäsche.Der unauffällige internationale Finanztransfer, juristische Betreuung und verschiedenen Formen von Lobbying sind längst auf eine Weise professionalisiert worden, dass daraus zum Beispiel in Großbritannien eine ganze "Industrie" mit Rechtsanwälten, Buchhaltern, Immobilienmaklern und PR-Leuten entstanden ist. Als Antwort darauf gründete Europol im Jahr 2020 das Kompetenzzentrum für Finanz- und Wirtschaftsverbrechen, das kürzlich erstmals einen Bericht zur Bedrohungsanalyse publiziert. Darin heißt es:Kriminelle Akteure nutzen die Schwachstellen unseres Systems aus, schwächen dabei unsere Gesellschaft und generieren dabei enorme Gewinne. Mit dem Wachsen der schweren und organisierten Kriminalität, entwickeln sich auch kriminelle Strukturen, die an Finanz- und Wirtschaftsverbrechen beteiligt sind, indem sie die illegalen Erlöse waschen und das unterirdische kriminelle Finanzsystem verwalten. Und damit in der Lage sind, den Reichtum krimineller Akteure zu erhalten. Sie müssen auch Brücken zu relevanten Akteuren mit Zugang zu (politischer) Macht oder Informationen in wichtigen Bereichen der Gesellschaft und Wirtschaft aufbauen. Dafür ist die Korruption der Schlüssel. Daher bilden Geldwäsche, kriminelle Finanzen und Korruption weiterhin die Hauptmotoren der organisierten Kriminalitätsmaschine.Ein zentraler Bestandteil der organisierten Kriminalität ist laut dem Papier die Geldwäscherei. Das gilt für alle "Branchen" – egal ob Drogenhändler, Zigarettenschmuggler, Mehrwertsteuerbetrüger, Wettmafias oder Geldfälscher. Die Akteure im Katar-Gate scheinen da Amateure gewesen zu sein, die recht unvorsichtig mit großen Mengen Bargeld hantiert haben.Knapp 70 Prozent der in der EU aktiven kriminellen Netzwerke benutzen gemäss dem Bericht «Basistechniken» zur Geldwäscherei, während der Rest professionelle Geldwäschedienste oder das System der Untergrundbanken braucht. Professionelle Geldwäscher verlangen laut den Behörden typischerweise für ihre Dienste 5 bis 20 Prozent der gewaschenen Gelder.Die Liste der praktizierten Methoden ist dabei ziemlich lang: von informellen Geldüberweisungssystemen, Bargeldschmuggel, Banküberweisungen via Konten von Strohmännern über Kryptowährungen bis hin zu fingiertem Warenhandel und der Zwischenschaltung von Scheinfirmen, d. h. dem Missbrauch legaler Geschäfte etwa von Restaurants oder Juwelierläden, aber auch Spielcasinos und Fußballklubs. Fantasie scheint gefragt, was die Summen der beschlagnahmten Gelder betrifft, sagt der Europol-Bericht:In den EU-Mitgliedstaaten wurden pro Jahr durchschnittlich 4,1 Milliarden Euro an kriminellen Vermögenswerten in den Jahren 2020 und 2021 beschlagnahmt. Dies stellt einen Verdoppelung im Vergleich zu früheren Schätzungen dar. Es ist jedoch nur ein kleiner Teil dessen, was kriminelle Netzwerke wahrscheinlich illegal an finanziellen Gewinnen generieren. Immer noch gibt es keine wirklich zuverlässigen Daten über illegale Erträge aus der organisierten Kriminalität in der EU. Daher handelt es sich bei den genannten Summen – sowohl über die gesamten illegalen Gewinne als auch über den Anteil der eingezogenen Gewinne – um vorsichtige Schätzungen. Allgemein gilt die begründete Vermutung, dass die große Mehrheit der illegalen Erträge in den Händen der organisierten Kriminalität bleibt. Betrachtet man die Einnahmen der organisierten Kriminalität, so lagen die jüngsten Schätzungen der jährlichen Gewinne von neun kriminellen Märkten in der EU zwischen 92 und 188 Mrd. EUR. Demnach würden sich die beschlagnahmten kriminellen Gelder auf 4,4 % bis 2,2 % der gesamten illegalen Einnahmen belaufen. Wenn man bedenkt, dass selbst die höhere Schätzung von 188 Mrd. EUR zweifellos eine Unterschätzung der tatsächlichen Gewinne der schweren und organisierten Kriminalität darstellt (bei einer einzigen groß angelegten EU-Operation beliefen sich allein die beschlagnahmten kriminellen Gelder auf fast 900 Mio. EUR), bleibt der Betrag der Vermögenswerte, die die Strafverfolgungsbehörden den kriminellen Netzen entziehen konnten, immer noch unter 2 % der jährlichen Erträge aus der organisierten Kriminalität. Sicher ein erträgliches Risiko für kriminelle Netzwerke. Dies zeigt u. a., dass die zu den Ermittlungen gegen die kriminellen Machenschaften zu wenig parallele Finanzermittlungen erfolgen. Noch sind solche integrierten Vorgehensweisen nicht in allen EU-Strafverfolgungsbehörden gängige Praxis. Das aber wäreeine Voraussetzung für die Einziehung von mehr kriminellen Vermögenswerten und für einen besseren Schutz der Bürger und der legalen Wirtschaft ist. Die Investition von Milliarden von Euro an gewaschenen illegalen Gewinnen in die legale Wirtschaft verzerrt den Wettbewerb und die allgemeine Dynamik eines freien Marktumfelds und behindert letztlich die wirtschaftliche Entwicklung. Gleichzeitig stellt die Möglichkeit, kriminell erworbene Gelder einzubehalten und sie in kriminelle Aktivitäten oder Dienstleistungen zu reinvestieren, eine zentrale Bedrohung für die innere Sicherheit der EU dar, da sie kriminelle Strukturen und Märkte fördert. Man fragt sich auch, ob die mittlerweile 84 Angestellten des europäischen Kompetenzzentrums für Finanz- und Wirtschaftsverbrechen ausreichen, um den gemeinsamen Markt mit fast 450 Mio. Einwohnern und ca. 23 Mio. Unternehmen erfolgreich im Blick zu behalten? Und so endet der empfohlene Artikel der NZZ sehr allgemein:Luft nach oben in der Verbrechensbekämpfung ortet auch die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson: «Wir brauchen bessere Gesetze.» Sie erinnerte am Montag vor den Medien an Vorschläge der EU-Kommission unter anderem zur Bekämpfung der Geldwäscherei und zur Modernisierung des chronisch von Betrügern missbrauchten Mehrwertsteuersystems.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/europaparlament-reagiert-auf-katar-gate2023-09-15T10:35:15+02:002023-09-15T10:35:15+02:00Europaparlament reagiert auf Katar-Gate<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Einige Leserinnen und Leser erinnern sich sicher noch an Katar-Gate, jenem Schmiergeld-Skandal im Europäischen Parlament, den die belgische Staatsanwaltschaft kurz vor dem Weihnachtsfest 2022 aufgedeckt hat. In dieser Woche hat sich das Europäische Parlament auf seiner Plenarsitzung in Straßburg neue Regeln gegeben, die eine Wiederholung von Katar-Gate verhindern sollen.In den deutschsprachigen Medien hat die Entscheidung des Europäischen Parlaments kaum einen Widerhall gefunden. Immerhin hat die taz darüber einen Bericht von Eric Bonse veröffentlicht. Bonse skizziert die neuen Regelungen und präsentiert zudem einige Reaktionen von Europaabgeordneten und aus der Zivilgesellschaft auf die neuen Regeln. Bemerkenswert ist, dass die konservative EVP/EPP-Fraktion im Europäischen Parlament, der auch die CDU- und CSU-Mitglieder aus der Bundesrepublik angehören, unter der Leitung des deutschen CSU-Mitglieds Manfred Weber der Neureglung nicht zugestimmt haben.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/italien-wie-melonis-neofaschisten-die-gesellschaft-okkupieren2023-09-06T14:03:41+02:002023-09-06T14:03:41+02:00Italien: Wie Melonis Neofaschisten die Gesellschaft okkupieren<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Italien ist nicht das erste und einzige Land mit einer rechten Regierung, aber das bisher größte und zudem eines der sechs Gründungsstaaten der EU-Vorgängerorganisation EWG. Gegründet wurde die EWG/EU unter anderem auch, um den mörderischen Nationalismus rechter Parteien dauerhaft zu überwinden. Das ist offenbar nicht gelungen. Die von Medien oft als postfaschistisch bezeichnete – tatsächlich aber neofaschistische – italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni vermittelt nach außen ein freundliches und smartes Bild von sich. Tatsächlich setzten sie und ihre Partei innerhalb der italienischen Gesellschaft eine stringente Transformation zu einer neofaschistisch geprägten Gesellschaft durch. Georg Seeßlen hat in einem Artikel für die Luxemburger Zeitung woxx nachgezeichnet, wie die italienischen Faschisten vorgehen, um sich die italienische Gesellschaft dauerhaft zur Beute zu machen.Er nennt einerseits die zentralen Politikfelder, mittels derer die Faschisten die Transformation organisieren. Er beschreibt den Werdegang von Meloni und ihren Gefolgsleuten. Und schließlich benennt Seeßlen auch Gründe, die den Erfolg der Faschisten begünstigen. Seeßlen mach mit seiner Analyse deutlich, wie die Faschisten sich eine ganze Gesellschaft systematisch zur Beute machen. In der Analyse sind jedoch auch Hinweise enthalten, was Zivilgesellschaft und demokratische Parteien dem entgegensetzten könnten.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/ist-ein-foderales-europa-moglich-und-wenn-ja-wie2023-09-06T08:18:36+02:002023-09-06T08:18:36+02:00Ist ein föderales Europa möglich und wenn ja, wie?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Europa einige Schockwellen ausgelöst. Viele Vorstellungen über die Zukunft unseres Kontinents und der Welt erwiesen sich schlagartig als Wunschdenken. Der hier empfohlene Artikel ist Teil der Diskussionsreihe bei EUROZINE "Lessons of war: The rebirth of Europe revisited". Die Reihe knüpft an eine Initiative an, die Jürgen Habermas vor zwanzig Jahren, inmitten der Proteste gegen den Krieg der USA im Irak, startete. Das ehrgeizige aber wohl unrealistische Ziel war u. a. die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Dies, so argumentierte er, würde eine gründliche Erneuerung der EU und die Entstehung einer gemeinsamen europäischen Identität auslösen. Das Unternehmen trug den Titel "Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas".Aus dem Scheitern kann und soll gelernt werden. Das würde bei mir schon bei der Überschrift anfangen. Wer oder was soll da wiedergeboren werden? Eine neue Königstochter, die auf den Stier wartet? Ist das nicht schon die falsche Metapher? Richtig ist:Die Europäische Union ist das Ergebnis von Kriegen. Von zwei Weltkriegen, die dem Europa, wie wir es kennen, beinahe ein Ende bereitet hätten. Eines kalten Krieges, der scheinbar für immer einen eisernen Vorhang durch Europa gezogen hat. Aus dieser Nahtoderfahrung entstand die Idee (bzw. wurde sie wiederbelebt) eines neuen, vereinigten Europas. In einem schwierigen und widersprüchlichen Prozess entwickelte sich die Europäische Union. Ein Produkt aus gemeinsamen und auch unterschiedlichen Interessen, Wertvorstellungen und Ausgangsbedingungen ihrer Partner. Also stimmt es wirklich, dass Europa vor allem eine Idee ist?… die Idee von den vielen Völkern, Sprachen und Kulturen, die auf einer lückenhaften Halbinsel am westlichen Rand der asiatischen Landmasse zusammengedrängt sind und eine gemeinsame Heimat und ein gemeinsames Schicksal teilen. Ist Europa nicht viel mehr schon Produkt eines konkreten Entwicklungspfades (mit Irrungen und Wirrungen). Auch dann ist dem Autor Göran Rosenberg zuzustimmen:Die multikulturellen Wallungen sind kein neues Merkmal Europas (auch wenn die jüngsten Migrationswellen sicherlich dazu beigetragen haben), sondern seine geopolitische Zwangslage und Herausforderung.Folgt aus dem oben beschriebenen Zustand wirklich das "Ziel einer immer engeren Union", das nur dann realistisch ist, "wenn Europa ein klares Verständnis dafür hat, was eine Föderation ist und sein kann"? Muss die Union nicht viel mehr nur in einigen wesentlichen Belangen enger sein und in anderen weniger eng? Muss sich eine funktionierende Föderation, oder wie auch immer die zukünftige Struktur Europas genannt wird, nicht schrittweise durch Versuch und Irrtum herausbilden, entwickeln? Ist die Kritik des Autors berechtigt, wenn er meint:…. Europa hat ein Problem mit sich selbst, da seine Bewohner es noch nicht geschafft haben, entweder ein gemeinsames Zuhause oder ein gemeinsames Schicksal zu teilen. Viele Völker haben ihre Häuser in Europa gebaut, manchmal auf den Ruinen anderer, aber Europa selbst hat es nicht geschafft, jemandem die Heimat zu werden. Die EU ist ein Projekt geblieben, bei dem nur die konstituierenden Nationalstaaten in der Lage waren, das Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität zu fördern, das mit dem Begriff der Heimat verbunden ist.Ist die Hoffnung in absehbarer Zeit realistisch, die EU für ihre Bürger zu einer Heimat zu machen? So sehr die meisten von uns ein Europa ohne Grenzen befürworten. Die Loyalitäten, die Zugehörigkeitsgefühle scheinen nach wie vor eher bei den Nationalstaaten zu liegen. Der Übergang von einer europäischen Gesellschaft, in der die Beziehungen "Mittel zum Zweck" sind, zu einer Gemeinschaft, ist wie der Autor konstatiert, nicht gelungen. Eine Gemeinschaft, in der die Menschen ihre Bande auf Basis von "Liebe, Freundschaft, Nachbarschaft oder Blut", also "auch auf einem breiteren Spektrum gemeinsamer Erinnerungen und Erfahrungen sowie auf gemeinsamen religiösen, beruflichen oder intellektuellen Traditionen und Affinitäten", aufbauen, erscheint mir für eine Union aus Hunderten Millionen Menschen eher unrealistisch.Die Hoffnung, dass der gemeinsame europäische Markt und die gemeinsame europäische Währung eine gemeinsame europäische Bürgerschaft auf der Grundlage einer aufstrebenden europäischen Identität fördern würden, hatte sich als schwer fassbar erwiesen. Immer wieder waren die Befürworter einer kohärenteren Europäischen Union und einer stärkeren europäischen Politik auf die politische Schwierigkeit gestoßen, demokratische Legitimität, Vertrauen und formale Macht von nationalen auf transnationale Institutionen zu übertragen.Und es war m. E. nicht das "Gespenst eines europäischen Superstaates, der die nationale Selbstverwaltung mit Füßen tritt und die demokratische Kontrolle schwächt", das dies verursachte. Es war die Art und Weise, wie eine umfassende Feinsteuerung in weiten Bereichen der Mitgliedsstaaten versucht wurde, die Subsidiaritäten ausschaltete und doch viele Probleme der Mitgliedsländer nicht wirklich löste. Nicht lösen konnte, ohne dabei letztendlich die "Nationalstaatengemeinschaft" abzulösen. Es stimmt daher vermutlich:Die Herausforderung für jede europäische Gesellschaft besteht also darin, Autorität und Legitimität in einer großen Anzahl von Nationalstaaten zu erlangen, in denen eine Vielzahl von gemeinschaftsbasierten Beziehungen weiter bestehen und entstehen. Die Beamten der Europäischen Union - die Kommissare in Brüssel, die Richter in Luxemburg und die Parlamentarier in Straßburg - mögen die legitimste transeuropäische Gesellschaftselite bilden, die je geschaffen wurde, aber sie waren eindeutig nicht in der Lage, die Autorität und Legitimität zu schaffen, die für die Einführung und Durchführung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik erforderlich ist. Dies wird höchstwahrscheinlich das Schicksal jeder europäischen Ordnung bleiben, die auf einem zwischenstaatlichen Konsens beruht.Der Ausweg, den Göran Rosenberg vorschlägt, ist eine Föderation. Richtig verstanden als vertragliche Vereinigung von Nationen, um die vielen Gemeinschaften Europas im Rahmen einer gemeinsamen und einigermaßen legitimen sozialen Ordnung zusammenzubringen.
Föderationen sind vielleicht die raffinierteste Form der menschlichen Gesellschaft. Sie beruhen auf der Annahme von Vielfalt und Konflikten und nicht auf der Annahme von Homogenität. Die amerikanische Föderation wurde ausdrücklich auf der Grundlage inhärenter Konflikte in der Gesellschaft errichtet und schuf eine weitreichende Gewaltenteilung - um "Ehrgeiz gegen Ehrgeiz" zu setzen, wie James Madison in The Federalist schrieb. Die amerikanische Föderation sollte keineswegs ein Superstaat sein. Der Begriff "Staat" war seinen Bestandteilen vorbehalten. Die Bundesregierung sollte nur die Befugnisse haben, die sie von den Staaten ausdrücklich in einem verbindlichen Verfassungsvertrag delegiert haben.
Eine Föderation europäischer Staaten sollte daher den Umfang der supranationalen Entscheidungsfindung beschränken. Und zwar auf Felder, in denen die Notwendigkeit einer gemeinsamen kohärenten Politik klar erkannt und legitimiert werden kann. Ein Feld, das angesichts des Ukraine-Krieges eine viel engere Zusammenarbeit erfordert, ist sicher die europäische Sicherheitspolitik.Angesichts der gegenwärtigen brutalen Erfahrung der inhärenten geopolitische Schwäche und Verwundbarkeit Europas wird die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik vielleicht besser verstanden und akzeptiert.In einem anderen Diskussionsbeitrag der Reihe betont Volodymyr Yermolenko, ein ukrainischer Philosoph, dass die Kritik Habermas und Derridas an Bush gerechtfertigt und ihr Vorschlag, dass Europa die Welt in eine postimperiale Zukunft führen könnte, damals eine sympathische Idee war. Heute jedoch, angesichts der völkermörderischen Invasion Russlands in die Ukraine, stellt sich die Frage, ob eine solche postimperiale Welt durch die von den beiden Philosophen vorgeschlagenen Mitteln erreicht werden kann. Das Europa, das sie sich vorstellten, war ein Europa des Dialogs, der Konversation und der Umarmung von Differenzen. Dies ist sicherlich eine würdevolle Idee. Das Problem ist, dass es machtlos ist, wenn man mit dem Bösen konfrontiert ist.
Es geht also weniger um eine Wiedergeburt als um einen Pfadwechsel für Europa, ein Pfad näher an die Realität.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-europaische-union-als-liberales-imperium2023-08-13T12:34:22+02:002023-08-13T12:34:22+02:00Die Europäische Union als "liberales Imperium"?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Besonders der Krieg in der Ukraine verändert wesentliche Randbedingungen für die Europäische Union. Ähnlich wie die multipolaren Konflikte und Kräfteverschiebungen in der Globalisierung. Was die Fragen dringend macht: Wohin entwickelt sich die EU? Ist die gegenwärtige Struktur für zukünftige Herausforderungen angemessen? Andreas Ernst, ein Schweizer Journalist und Historiker, geht als Experte für die neuere Geschichte Südosteuropas diesen Problemen nach.Sicher, der Wandel der Einstellungen vom "Friedensprojekt" Europa auf die militärischen Herausforderungen durch die russische Invasion in der Ukraine war letztlich schnell und klar. Mit der sogenannten "Friedensfazilität" – ein Finanzierungsinstrument außerhalb des EU-Haushaltes zur Bündelung des europäischen Krisenmanagements – ist die Unionin kurzer Zeit zu einem milliardenschweren Waffenlieferanten für die Ukraine geworden. Sie bietet sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern Schutz, und sie hat sich mit einem Kraftakt von russischem Gas weitgehend unabhängig gemacht.Aber die im Rahmen der Krise beschleunigte Erweiterung um sechs, vielleicht neun Staaten im Südosten und Osten Europas wird (und muss) wohl die Union noch viel grundlegender umgestalten. Ob hier der Krieg wieder als Vater aller Dinge wirkt, fragt A. Ernst.Er hat jedenfalls dazu geführt, dass der bürokratische Regelgeber in Brüssel sich immer mehr auch als geopolitischer Akteur versteht. Putins Aggression im Februar 2022 hat aus weitgehend unbekannten und entfernten Nachbarn, der Ukraine und der Moldau, in nur vier Monaten Beitrittskandidaten gemacht – und selbst dem südkaukasischen Georgien die Einbindung in Aussicht gestellt. Auch dem eingeschlafenen Erweiterungsprozess auf dem westlichen Balkan haucht die EU wieder Leben ein. Die Region gilt – via Serbien – als mögliches Einfallstor für russische Störmanöver. Die Integration soll dieses ein für alle Mal schliessen.
Mit Deutschland vollzieht auch Frankreich eine strategische "Zeitenwende". Hieß die Strategie in Paris bislang "Vertiefung, nicht Erweiterung", spricht Präsident Emmanuel Macron jetzt von der doppelten Osterweiterung, die der EU und der Nato.Die Frage ist aber, wie und mit welchen Methoden/Strukturen das funktionieren kann.Was gewiss nicht funktioniert, ist die bisherige Methode: ein Jahre und Jahrzehnte dauerndes diplomatisch-bürokratisches Exerzitium, bei dem der Reihe nach Verhandlungskapitel geöffnet und wieder geschlossen werden. Der Kandidat übernimmt so schrittweise den gesamten «acquis communautaire» und muss sich am Ende als Demokratie mit unabhängiger Justiz und funktionierender Marktwirtschaft ausweisen.Dieser Weg hat schon früher viele Staaten überfordert und nicht zuletzt zu den bekannten Streits zwischen den Mitgliedern der Union geführt. Ökonomisch würde schon der Beitritt der Ukraine die EU völlig verändern.Wegen der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes und seiner riesigen Landwirtschaft gingen nach jetzigen Regeln sämtliche Milliarden aus Agrarhilfe und Kohäsionsfonds an die Ukraine. Alle heutigen Nettobezüger würden zu Nettozahlern.So mehren sich die Stimmen, die feststellen, dass die Union nicht als "Superstaat" mit einem Zentrum und mehr Hierarchie und Bürokratie funktionieren kann. Der auch im Artikel zitierte Jan Zielonka, Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Oxford University, stellt dazu in seinem Buch "Konterrevolution" die richtigen Fragen:Wie lassen sich Staaten, Städte, Regionen und internationale Organisationen dazu bringen, in einer Umgebung ständig wachsender wechselseitiger Abhängigkeit besser zu funktionieren? Wie kann man Transparenz, Verantwortlichkeit und Gouvernmentalität in einem Europa mit unscharfen Grenzen stärken?Von stärkerer Subsidiarität spricht man nach meinem Eindruck in Europa ja kaum noch. Eine radikale Antwort auf die Fragen gab Jan Zielonka schon in seinem Buch "Europe as Empire: The Nature of the Enlarged European Union".Seine begründete Vermutung, dass dominierende Modell der europäischen Integration – also die Annahme einer differenzierten europäischen Verfassung mit komplexen Regelwerk, die Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee und/oder die Einführung eines einheitlichen europäischen Sozialmodells – beruht auf falschen theoretischen Annahmen. Es gäbe effektivere und legitimere Wege, Europa zu gestalten und zu regieren. Er versucht in seinem Buch zu zeigen,dass die erweiterte EU eher einem neomittelalterlichen Imperium als einem klassischen westfälische (Bundes-)Staatstypus ähnelt. In der erweiterten Union wird es wahrscheinlich zu einer gegenseitigen Durchdringung verschiedener Arten von politischen Einheiten kommen, die in einem System ohne ein klares Machtzentrum und ohne eine klare Hierarchie agieren. Die sozioökonomischen Diskrepanzen werden voraussichtlich kein einheitliches Muster aufweisen. Die erweiterte EU wird wahrscheinlich weiche fließende Grenzen statt harter und fester Außengrenzen haben. Multilevel- und multizentrisches Regieren in konzentrischen Kreisen wird die Norm sein. Die gesamteuropäische Identität wird verschwommen und zerbrechlich sein, und es wird keinen wirklich europäischen Demos geben. Die EU wird also nicht – wie oft befürchtet – ein westliches Imperium wie England oder die USA. Das mehrstufige Governance-System aus konzentrischen Kreisen und unscharfen Grenzen mit weichen Formen der externen Machtprojektion ähnelt dem System mittelalterlicher Imperien vor dem Aufstieg der Nationalstaaten. Nicht als Vorbild, eher als Inspiration verweist Zielonka auf das Heilige Römische Reich (962–1806). Dieses war nie ein einheitlicher Staat, sondern ein Dach- oder eben Reichsverband für unterschiedliche Herrschaftsgebiete und Territorien. Unter anderem deshalb war es so langlebig.Das klingt erst einmal kontraintuitiv und abschreckend. Im gewissen Sinn hat sich die EU jedoch schon länger in diese Richtung entwickelt. Sie ist, so A. Ernst, im Grunde ein Netzwerk sich überlappender Staatengemeinschaften: der Euro-Zone, des Schengenraums, der militärischen Zusammenarbeit (Pesco), der neu gegründeten Europäischen Politischen Gemeinschaft. Daran ändert auch nichts, dass die Rollen der Kommission und des Parlaments gestärkt wurden.Nur so können auch zukünftig so unterschiedliche Länder wie z. B. Montenegro und die Ukraine eingebunden werden. Das kann sicher nicht mit Standardkriterien und -prozeduren funktionieren. Adäquat wären individuell ausgehandelte Abkommen, die sowohl den Möglichkeiten der Kandidaten als auch den Bedürfnissen der EU entsprechen. Integration und Mitbestimmung sollten dabei schrittweise erfolgen. Während jeweils ausgehandelte Politikbereiche vergemeinschaftet werden, können andere unter nationaler Kontrolle bleiben.Die daraus resultierende Vielfalt an Mitgliedschaften macht die EU nicht schwächer, sondern stärker. Denn sie wird handlungsfähiger. Statt dass sie sich damit begnügt, in möglichst vielen Fragen Konsens zwischen der wachsenden Zahl ihrer Mitglieder herzustellen (was meist jahrelang dauert und oft gar nicht gelingt), ergreifen einzelne Staaten, Staatengruppen oder auch die Kommission Initiativen, denen sich andere freiwillig anschliessen. So bleibt die Union in drängenden Fragen wie Verteidigung, Migration, Seuchenschutz reaktionsfähig und kann sich weiter entwickeln.Der Weg dahin ist weit und ungewiss – wie der Autor abschließend betont. Es fehlt ja in der EU nicht an Streitgründen, Bruchstellen und zentrifugalen Kräften. Zwei Fragen scheinen zentral:Hält der Konsens der Mitgliedstaaten darüber, dass die Erweiterung richtig und notwendig ist? Die zweite Frage ist, ob insbesondere die Führungsmächte Deutschland, Frankreich und Polen den Willen haben und in der Lage sein werden, diesen Erweiterungsprozess durchzuhalten. Die Zukunft bleibt also offen und es lohnt sich darüber zu streiten ...
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/europas-minderheiten-auf-dem-weg-zur-inneren-gleichberechtigung2023-08-05T17:07:10+02:002023-08-05T17:07:10+02:00Europas Minderheiten auf dem Weg zur inneren Gleichberechtigung<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Vermutlich kennen nur wenige unter den Leserinnen und Lesern das Kürzel FUEN. Dann geht es ihnen so wie denen, für die dieses Kürzel steht. Die sind zumeist auch vielen eher unbekannt. FUEN steht für Föderalistische Union Europäischer Nationalitäten und ist ein (nach Selbstauskunft der größte) Dachverband der "autochthonen nationalen Minderheiten, Nationalitäten und Sprachgemeinschaften Europas". In FUEN sind also die in Schleswig-Holstein lebenden dänischsprachigen Deutschen, die sorbisch sprachigen Deutschen in der Lausitz (Sorben und Wenden), deutschsprachige ItalienerInnen in Südtirol, deutschsprachige BelgierInnen in Ostbelgien, ungarischsprachige Minderheiten in den ungarischen Nachbarstaaten etc. politisch organisiert, um ihre politischen und kulturellen Rechte in den Mehrheitsgesellschaften, zu denen sie gehören, durchzusetzen und abzusichern.In diesem Artikel, den ich in der deutschsprachigen dänischen Zeitschrift für die deutschsprachige Minderheit in Süddänemark „Der Nordschleswiger“ entdeckt habe, geht es allerdings um die innere Verfasstheit der europäischen Minderheiten, genauer um die Frage, wie die (politischen) Organisationen der Minderheiten mit der Frage der Gleichberechtigung umgehen. Selbstkritisch kommt eine Studie zu dieser Frage zu dem Schluss, dass es da noch Nachholbedarf gibt.Angesichts dessen, dass in der deutschen Mehrheitsgesellschaft das Gendern zu einem Kulturkampf hochstilisiert wird, finde ich es erfrischend, dass in den Minderheiten Europas offensichtlich weniger emotionalisiert und sachlich über die praktische Umsetzung der Gleichberechtigung verhandelt wird und das auch ein Bedürfnis dafür besteht. Laut dem Bericht macht die Studie auch eine Reihe praktischer Vorschläge zur Umsetzung und Einübung von Gleichberechtigung. Vielleicht sind Minderheiten, die ja als Gruppen auch Erfahrungen mit Diskriminierung haben, einfach sensibler für das Thema Gleichberechtigung.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/was-meinen-wir-europaer-wenn-wir-von-demokratie-sprechen2023-08-04T20:06:08+02:002023-08-04T20:06:08+02:00Was meinen wir Europäer, wenn wir von Demokratie sprechen?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Wann ist eine Demokratie eine Demokratie und ein Demokrat ein Demokrat? Warum meinen viele Demokratinnen und Demokraten, dass man die Demokratie vor sich selbst schützen muss? Was sind die bestimmenden Merkmale einer Demokratie und wer definiert das mit welchen Begründungen? Diese durchaus polemischen Fragen stellt Philip Manow in seinem Essay im aktuellen MERKUR. Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung. Seit einiger Zeit behaupten die, die Gewaltenteilung sagen, darüber hinaus auch, dass Volkssouveränität alleine ja noch keine wirkliche Demokratie ausmache – sondern, ganz im Gegenteil, von ihr eigentlich eine besondere Gefährdung der Demokratie ausgehe. Klar scheint, die Präferenz für eines der Demokratie-Modelle, hängt mit den eigenen Interessen zusammen, oder wie der Autor schreibt, von den "unterschiedlichen Sprecherpositionen".Die Mehrheit interpretiert – Überraschung – Demokratie eher majoritär. Die Minderheit betont hingegen checks and balances, den Schutz von Minderheiten und die Gefahr einer Tyrannei der – Überraschung – Mehrheit. Die Mehrheit möchte durchregieren, die Minderheit möchte das Durchregieren der Mehrheit verhindern.Gegenwärtig gewinnt die Vorstellung, dass von reinen Wahldemokratien mit nur schwacher Gewaltenteilung eine Selbstgefährdung ausgeht, scheinbar an Boden. Alte Mehrheiten sehen sich offensichtlich durch mehr direkte Demokratie, sprich Volksabstimmungen, eher gefährdet. Ein solcher "suicide of democracy" ist nicht nur denkbar, sondern etwa in der Weimarer Republik auch passiert. Demokratische Mehrheiten verhelfen Autokraten und Schlimmeren in Wahlen zur Macht. Um einen solchen Entwicklungspfad abzuschneiden, versucht man daher die Demokratie vor sich selbst zu schützen – durch die Abschwächung oder Relativierung der Volkssouveränität. Und das, in dem man Bedeutung und Macht jener Institutionen des Staates, die selbst nicht direkt demokratisch sind, stärkt: Gerichte, unabhängige Zentralbanken, unabhängige Informations- und statistische Dienste, verschiedene Prüfungs- und Überwachungsinstitutionen.Können solche Institutionen uns vor dem Missbrauch der Demokratie durch Führer schützen, die meinen, durch ihren Wahlsieg berechtigt zu sein, so zu handeln, wie sie wollen?Die Frage stellt sich, weil die Argumente für starke institutionelle Beschränkungen des Mehrheitswillens normativ recht unbedarft erscheinen. Worauf gründet sich eigentlich die Vorstellung, man müsse das Majoritäre nur mit allerlei nonmajoritären Institutionen um- und zustellen, dann würden sich Interessenausgleich, Gerechtigkeit und Stabilität schon von selbst ergeben? Auf einmal liegt das Mittel zur Rettung der Demokratie dort,wo sich seit den 1980er Jahren die Lieblingsfeinde der Linken organisierten: in der unabhängigen Zentralbank. Selbst das bekannte Demokratiedefizit der Europäischen Union wird so unter der Hand zum demokratischen Vorteil. Das Motto der Gegenwart scheint zu lauten: Weniger (elektorale) Demokratie wagen – vielleicht ja nur ein wenig weniger.Aus einer politisch progressiven Position heraus befürwortete man seinerzeit Roosevelts berühmte Drohung gegenüber einem marktliberalen Supreme Court, der gegen den New-Deal agierte. Der Oberste Gerichtshof war bei Roosevelts Regierungsübernahme überwiegend mit auf Lebenszeit ernannten Richtern besetzt, die noch von republikanischen Präsidenten berufen wurden und die immer wieder progressive Gesetze für verfassungswidrig erklärten. Mit seiner großen Mehrheit der Wähler im Rücken entschied Roosevelt 1936 eine Justizreform voranzutreiben. So sah ein von ihm vorgelegtes Gesetz eine Kompetenz des amerikanischen Präsidenten vor, für jeden über 70-jährigen Richter, der sich weigerte, in Ruhestand zu gehen, zusätzliche neue Richter zu ernennen. Dieses Vorhaben stieß jedoch nicht nur bei den oppositionellen Republikanern auf heftigen Widerstand, auch eine Reihe demokratischer Kongressmitglieder sahen die Pläne des Staatsoberhauptes kritisch an.Zwar scheiterte Roosevelt, den Vorstoß durch die Legislative zu bringen, aber der öffentliche Druck auf die Richter führte zu einer Änderung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs. Ähnlich, nur andersherum, sieht es Philip Manow heute im Fall Israels. Solange die Arbeiterpartei mit ihrer Mehrheit die Geschicke des Landes allein bestimmen konnte, war die Frage nach einer Verfassung für sie nebensächlich. Mit dem Aufstieg der Likud-Partei entdeckte man dann, wie unerlässlich in einer Demokratie doch eigentlich eine verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens wäre. Was heute, im Kontext der notorischen israelischen Justizreform, zu der bemerkenswerten Pointe führt, dass Netanjahus rechts-religiöse Koalition mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Hundertzwanzig-Sitze Knesset ein neues Grundgesetzkapitel verabschiedet hat, das erlaubt, Beschlüsse des Supreme Court mit einfacher parlamentarischer Mehrheit zu überstimmen, und der Supreme Court daraufhin ankündigt, dieses neue Grundgesetzkapitel auf der Basis eines in den 1990er Jahren mit einfacher Mehrheit verabschiedeten anderen Grundgesetzkapitels für verfassungswidrig erklären zu wollen.Oder ein anderes Beispiel aus dem Artikel: Deutsche Europarechtler und die EU-Kommission forderten nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts welches das Staatsanleihenkaufprogramm der EZB 2020 – entgegen der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs – für kompetenzwidrig erklärt hatte, von der Bundesregierung Karlsruhe auf Linie zu bringen, weil ein gegenüber einer integrationseuphorischen Bundesregierung unabhängiges Bundesverfassungsgericht ein von einer integrationsskeptischen Regierung mittlerweile abhängiges polnisches oder ungarisches Verfassungsgericht ja womöglich auf dumme Gedanken bringen könnte: Tod der Gewaltenteilung im Dienste eines heroischen politischen Kampfes gegen eine getötete Gewaltenteilung!Es ist sicher kein gutes oder nachhaltiges Prinzip, demokratische Verfahren und Strukturen immer nur dann richtig zu finden, wenn sie dem eigenen Lager gerade nützen. Und dem jeweils anderen Lager dann vorzuwerfen, sie wären Feinde der Demokratie. Auch wenn es manchmal zutrifft. Europa, wir sollten reden – über unsere Demokratie.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/was-meinen-wir-europaer-wenn-wir-von-demokratie-sprechen">[link]</a>
Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-europawahl-2024-wirft-ihre-schatten-voraus2023-08-02T15:13:13+02:002023-08-02T15:13:13+02:00Die Europawahl 2024 wirft ihre Schatten voraus<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Am 9. Juni 2024 werden in der Bundesrepublik die neuen Abgeordneten für das Europäische Parlament gewählt – der Zeitkorridor für die Europawahlen um den Zeitraum vom 6. bis 9. Juni 2024.Die Bundesdeutschen bereiten sich bereits jetzt auf den Wahlkampf und die Wahlen vor. Einige der aktuellen Abgeordneten haben bereits mitgeteilt, dass sie bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten werden. Andere bringen sich dementsprechend für aussichtsreiche Listenplätze in Stellung für die Parteitage, auf denen die jeweiligen Parteilisten durch parteiinterne Wahlen zusammengestellt werden.Markus Grabitz hat für die Frankfurter Rundschau einen Überblick über die Kandidatinnen und Kandidaten, die sich um erfolgreiche Listenplätze bewerben, und auch über die, die nicht wieder antreten werden, zusammengestellt.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-europawahl-2024-wirft-ihre-schatten-voraus">[link]</a>
Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/welche-rolle-spielen-rechtsradikale-parteien-zukunftig-in-der-eu2023-07-30T21:50:50+02:002023-07-30T21:50:50+02:00Welche Rolle spielen rechtsradikale Parteien zukünftig in der EU?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Am letzten Juli-Wochenende 2023 hat die neo-nationalsozialistische Partei AfD in Magdeburg den ersten Teil ihres Europa-Parteitags abgehalten. Inhalt war die Ausstellung der Liste der Kandidaten und Kandidatinnen für die Wahl zum Europäischen Parlament Anfang Juni 2024. Kandidat auf Platz eins der AfD-Liste ist Maximilian Krah. Er ist bereits jetzt Mitglied des Europäischen Parlaments und gehört mit den anderen AfD-MdEP der rechtsradikalen Fraktion Identität und Demokratie (ID) an. Von seiner Fraktion wurde Krah allerdings aufgrund von Manipulationsvorwürfen suspendiert. Ein Wahlprogramm hat die AfD zwar noch nicht, aber sie hat sich programmatisch bereits als Anti-EU-Partei durch die KandidatInnenliste positioniert. Mehr dazu in dem im Wiener Standard erschienen Artikel „Rechtspartei: AfD stimmt für Maximilian Krah als Spitzenkandidat für Europawahl“ und in dem taz-Artikel „AfD-Parteitag in Magdeburg: Nazis im Höhenflug“. Mit dieser eindeutig nationalsozialistischen europapolitischen Ausrichtung der AfD für die kommende Europawahl stellt sich die Frage, mit welchen Erfolgen rechtsextremistische Parteien bei der Europawahl 2024 insgesamt rechnen können und welche Machtverschiebungen damit im Europäischen Parlament, aber auch in den beiden anderen an der EU-Gesetzgebung beteiligten Institutionen, Kommission und Rat, verbunden sein können. Immerhin wird neben Polen und Ungarn mittlerweile auch Italien von einer faschistisch geprägten Regierung regiert und in Schweden und Finland sind rechtsextreme Parteien an der Regierung beteiligt.Dieser Frage geht Hans Kundnani in seinem im IPG-Journal veröffentlichten und hier verlinkten Beitrag „Machtübernahme von rechts? Rechtsradikale Parteien könnten zukünftig in der EU den Ton angeben. Grund dafür ist ein Strategiewechsel – und die Kooperation mit den Konservativen“ nach. Wie in dem Titel schon anklingt, hängt vieles von der Ausrichtung der EVP/EPP ab, die sich derzeit auf Drängen des deutschen MdEP Manfred Weber (CSU), der sowohl der EP-Faktion als auch der europäischen Partei EVP/EPP vorsitzt, weit nach rechts hin öffnet und dabei ist, den bisher von einer breiten Mehrheit innerhalb des EP getragenen demokratischen und pro-europäischen Grundkonsens aufzuweichen.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/europa-was-tun-wenn-trump-zuruckkommt2023-07-21T18:18:23+02:002023-07-21T18:18:23+02:00Europa – was tun, wenn Trump zurückkommt?<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/ziqtf7k3a_eiswagen_benelux_europa_piqd.png" />
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Der ECONOMIST stellt die drängende Frage, was würde Europa tun, wenn Donald Trump (oder ein ähnlich denkender Kandidat) die Wahl in den Vereinigten Staaten gewinnt? Man müßte das wohl als eine "Katastrophe" mit Ansage sehen. Nur wenige europäische Staats- und Regierungschefs haben eine gute Antwort darauf. Viele ignorieren es; andere beten, dass Trump sich als weniger destruktiv erweisen würde als befürchtet, vielleicht vom Kongress und dem Pentagon zurückgehalten. Einige sprechen davon, seine gemäßigteren Gefolgsleute zu umwerben. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat völlig recht, wenn er formuliert, dass wir unsere kollektive Sicherheit und unsere Stabilität nicht an die Entscheidungen der amerikanischen Wähler delegieren dürfen. Kann also die EU ohne die wirtschaftliche und militärische Macht der USA aus eigener Kraft bestehen?Theoretisch ja. Europäische NATO-Verbündete sind industrialisiert und zählen fast 600 Millionen Einwohner. Sie haben fast 2 Millionen Bürger unter Waffen und jahrzehntelange Erfahrung in der Zusammenarbeit. Zwei von ihnen, Großbritannien und Frankreich, besitzen Atomwaffen und ständige Sitze im Sicherheitsrat der UN.Andererseits machen die amerikanischen Beiträge zwei Drittel der gesamten NATO-Militärausgaben aus. Nur jeder Dritte der 30 Verbündeten Amerikas wird in diesem Jahr das Ziel der Verteidigungsausgaben von 2 % des BIP erreichen. Nun sollte selbst das ausreichen, um Russland in Schach zu halten. Aber Europa handelt nicht kollektiv. Seine Ausgaben sind auf Dutzende von oft unterversorgten Armeen, Luftstreitkräften und Marinen verstreut. Vieles davon geht an verwöhnte nationale Industrien.Die Europäer scheinen sich mit dem Vasallen-Status abgefunden zu haben. Sie sind sich nicht einig über Prioritäten. Der Artikel beschreibt die Lage der Europäer wie folgt:
Sie vertrauen einander auch nicht genug, um zu entscheiden, was eine größere Autonomie mit sich bringen sollte. Europas zwei wichtigste Institutionen - die EU und die NATO - sind nicht vollständig verflochten. Wichtige Verbündete wie Großbritannien, Norwegen und die Türkei sind nicht Mitglied der EU. Die kollektive Verteidigung ist das Geschäft der NATO, die von Amerika geführt wird. Die Wirtschaftspolitik wird hauptsächlich von der EU bestimmt, die als Antithese eines militärischen Bündnisses geschaffen wurde. Insbesondere Frankreich hat versucht, die EU als Gegengewicht zu Amerika einzusetzen.
Eine aktuell konkrete Frage wäre: Würden die Europäer die Ukraine auch ohne Amerika weiter so unterstützen? Könnten sie es überhaupt?Einige Diplomaten sagen, dass sie es tun würden; viele zweifeln daran. Europas Arsenale sind kleiner und erschöpfter als die Amerikas. Seine Verteidigungsindustrien leiden unter ähnlichen Übeln wie die Amerikas - Just-in-Time-Produktion auf Friedensniveau - was durch einen Mangel an jeweiliger Größe noch verstärkt wird.Falls ein Wahlsieg Trumps dazu führen sollte, das sich die USA ganz aus dem Verteidigungsbündnis zurückziehen, würden wohl die Europäer eher versuchen, deren Strukturen zu übernehmen, anstatt die EU in ein Militärbündnis zu verwandeln. Das glaubt zumindest laut ECONOMIST Camille Grand, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der NATO. Die Europäer müssten aber auch die rund 85.000 Mann starken amerikanischen Truppen in Europa ersetzen. Darunter das Hauptquartierpersonal und 22 Kampfbataillone (etwa so viele wie Großbritannien insgesamt hat). Außerdem müssten sie die teuren "Enabler" beschaffen - wie Lufttransport und Luftbetankung, Weltraumausrüstung und ISR (Intelligence, Surveillance and Reconnaissance), die Amerika in in großer Menge bereitstellt. All dies könnte Europa ein Jahrzehnt kosten, um es aufzubauen, meint Grand.Die Führung dieser komplexen Organisation würde für das auf komplexe und nicht immer sicher vorhersehbare nationale Entscheidungen angewiesene Europa ein Problem darstellen. Multinationale Entscheidungsfindung ist selbst in guten Zeiten schwierig, umso mehr in zeitkritischen militärischen Angelegenheiten. Den Europäern fehlt eine Führungspersönlichkeit, die den amerikanischen Hegemon ersetzen könnte. Deutschland ist von Pazifismus durchdrungen, obwohl es versprochen hat, seine Streitkräfte zu verstärken. Großbritannien ist wegen des Brexit von den europäischen Angelegenheiten halb abgekoppelt. Frankreich strebt danach, ein stärkeres Europa anzuführen, genießt aber weithin wenig Vertrauen.Auch müssten die europäischen Atommächte ohne Amerika ihre nuklearen Doktrinen und Waffensysteme sowie ihre Zusammenarbeit mit den verbleibenden Verbündeten neu gestalten. So besitzt Russland allein fast 6.000 Atomsprengköpfe. Großbritannien und Frankreich verfügen in isolierten Doktrinen jeweils nur über etwa 200–300 davon. Wie will Europa da zukünftig verfahren? Gemeinsam mit einer Doktrin oder weiter mit den nationalen Atomwaffen?Was die wirtschaftliche Autonomie und die gemeinsame Handelspolitik betrifft, scheint es in der EU etwas besser auszusehen. Die Leitlinien wurden 2021 vorgestellt und seither merkbar umgesetzt:In Brüssel wird sie manchmal als "offene strategische Autonomie" bezeichnet, um Offenheit gegenüber der Welt zu signalisieren. Die Europäer bündeln nach und nach mehr wirtschaftspolitische Entscheidungen innerhalb der EU. Und dazu haben sie auch allen Grund, nachdem sie eine Reihe von Schocks erlebt haben, vom Mangel an Impfstoffen während der Pandemie bis zur russischen Invasion.So kann man wohl die europäische Loslösung von Russlands Öl und Gas als Erfolg bezeichnen. Ähnliches gilt für die neuen wirtschaftlichen Maßnahmen der EU gegen China. Aber auch für Subventionen für Hightechindustrien wie Chip- oder Batterieproproduktionen. Die Frage ist, wo läuft das hin – eine Zukunft mit oder gegen Amerika? Sicher sind das "Bausteine" der strategischen Autonomie, wie es Macron formuliert:"Heute ist die ideologische Schlacht gewonnen", glaubt er. Doch zwei Modelle wetteifern um die Seele Europas und in Macron selbst. Die gute Version besagt, dass Europa sich selbst stärken sollte, um besser in der Lage zu sein, gemeinsame Werte und Interessen mit Amerika zu verteidigen. Das schlechte Modell, das in der Tradition des französischen Gaullismus steht, zielt darauf ab, Europa von Amerika abzulösen und einen rivalisierenden geopolitischen Pol zu schaffen.Wir wissen auch nicht, was eine Wiederwahl Trumps für die "Mini-Trumps" auf der hart rechten Seite in Europa bedeuten würde. Die AfD in Deutschland, Marine Le Pen als Anführerin der Rallye Nationale in Frankreich stehen heute schon im Aufwind. Das könnte die EU weiter spalten. Unter besseren Umständen kommt es aber möglicherweise so:
Der Zweck der Nato, so heißt es oft, sei, "die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten". Vielleicht kann die strategische Autonomie etwas Ähnliches bewirken. Wenn sie zu mehr militärischen Fähigkeiten führt, kann Europa seine Sicherheit selbst in die Hand nehmen, ….., während Amerika sich Asien zuwendet. Es könnte sogar die beste Möglichkeit sein, …. den Wert Europas für Amerika zu demonstrieren. Wenn es richtig gemacht wird, könnte es helfen, Russland draußen zu halten, die Amerikaner drinnen, China draußen - und die Europäer zusammen.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/15-juli-europaischer-gedenktag-fur-die-opfer-der-klimakrise2023-07-15T19:55:02+02:002023-07-15T19:55:02+02:0015. Juli: Europäischer Gedenktag für die Opfer der Klimakrise<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Bekanntermaßen hat die Europäische Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor Beginn ihrer Amtsübernahme und ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin dem Europäischen Parlament zugesagt, Klimaschutzpolitik zur höchsten Priorität ihrer Amtsperiode zu machen. Trotz mancher durchaus berechtigter Kritik hat von der Leyen diese Zusage bisher im Prinzip eingehalten in Form der Vorlage entsprechender Gesetzesinitiativen. Erst in dieser Woche wurde – trotz dreister Lügenkampagnen seitens der Europäischen Volkspartei unter der Führung des MdEP Manfred Weber (CSU) in enger Kooperation mit den rechtsextremen und faschistischen Fraktionen im EP (die EU-Kommission hat sich genötigt gesehen, wie auch Unternehmen und rund 6.000 WissenschaftlerInnen, öffentlich auf die Falschinformationen hinzuweisen und sie richtigzustellen, ein wohl bisher einmaliger Vorgang in der Geschichte der EU) – das sogenannte Renaturierungsgesetz („Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“) mit einer sehr knappen Mehrheit vom Europäischen Parlament angenommen, sodass nun die Trialog-Verhandlungen zwischen EP, EU-Rat und EU-Kommission über dieses Gesetz beginnen können.Diese trockne und oft mühsame und langwierige, in der öffentlichen Debatte selten zur Kenntnis genommene Arbeit an Gesetzestexten zum Klimaschutz hat die EU nun um ein symbolisches Element ergänzt, das zukünftig eine viel größere öffentliche Aufmerksamkeit verdient, als es jetzt noch der Fall ist: Am heutigen 15. Juli 2023 begeht die EU erstmals den Europäischen Gedenktag an die bisherigen Opfer der globalen Klimakrise. Denn davon gibt es bereits etliche – auch in Europa. Dieser Gedenktag soll ab jetzt jährlich begangen werden.In einem Gastbeitrag für die in Wien erscheinende Tageszeitung Der Standard hat EU-Kommissar Frans Timmermans, geschäftsführender Vizepräsident der EU-Kommission und der zuständige Kommissar für Klimaschutzpolitik, dargelegt, weshalb aus Sicht der Kommission ein solcher Tag als symbolischer Akt nötig ist. Natürlich enthält der Text keine neuen klimawissenschaftlichen Erkenntnisse, aber er zeigt, dass die EU-Kommission klimapolitisch auf der Höhe der Zeit ist und entsprechend handeln will, was sich von manchen Parteien und auch von manchen Regierungen der EU-Mitgliedsländer nicht sagen lässt (das gilt nicht nur für Berlin, auch wenn Berlin einer der größten klimapolitischen Bremsklötze innerhalb der EU ist). Da Politik immer auch von symbolischen Handlungen lebt und vorangetrieben wird, scheint es mir sinnvoll zu sein, hier auf diesen wichtigen Impuls der EU-Kommission hinzuweisen, verbunden mit der Hoffnung, dass er große und weitläufige Wellen anstößt und eine angemessene Resonanz erfährt. Zur Ergänzung hier noch der Link auf die Pressemitteilung der EU-Kommission vom 14. Juli 2023 zum ersten EU-weiten Gedenktag für die Opfer der globalen Klimakrise.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/unsere-europaische-idee-ein-streitgesprach-mit-robert-menasse2023-07-03T12:48:37+02:002023-07-03T12:48:37+02:00Unsere europäische Idee – ein Streitgespräch mit Robert Menasse<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Der Österreicher Robert Menasse engagiert sich seit vielen Jahren leidenschaftlich für Europa. Er streitet für ein postnationales, regionalisiertes Europa mit einer Zentralregierung. Sein Roman über den Sitz der europäischen Institutionen "Die Hauptstadt" handelt von Menschen, die in Brüssel für diverse EU-Institutionen arbeiten. Auch wenn der Roman das Thema "Europa" und die Union satirisch überspitzt, den bürokratischen Wahnsinn großer Institutionen bitterböse aufs Korn nimmt, das Interview in der NZZ zeigt, Menasse ist es mit seiner Liebe zu Brüssel und einem nationenfreien Europa bitterernst. Diese Leidenschaft ist beeindruckend. Aber wenn Rationalität und Leidenschaft sich mischen, dann wird vieles eindimensional und unterkomplex. Menasse sieht über dem Europagedanken eine Tragikomik walten:Dass es in fast allen europäischen Mitgliedsstaaten Politiker gibt, die in Sonntagsreden sagen, dass sie glühende Europäer seien, dann aber de facto antieuropäische Politik machen. Sie benutzen Brüssel bloss als Bankautomat. Sie heben Geld ab, aber Gemeinschaftspolitik blockieren sie. Das heisst dann Verteidigung der nationalen Souveränität. Und Wähler, die nicht aufgeklärt sind im Hinblick auf die europäische Idee, finden das super. Aber in Hinblick auf globale Krisen gibt es keine nationalen Lösungen. Dann sagen die Menschen: Die nationalen Politiker sind nicht konsequent genug, und wählen noch radikalere Nationalisten. Und so setzt sich eine Spirale in Gang, die ich nicht mehr komisch finde.Auf die Frage, ob es nicht sein könne, dass die europäische Idee die Leute nicht begeistert, meint er: "Wie sollen sie begeistert sein, wenn sie sie nicht kennen?"Er hält die Bürger für verdummt und meint, nur die wenigsten in den EU-Mitgliedstaaten wissen, was "die Idee" sei. Das es nicht nur eine Idee von und zu Europa gibt, nicht nur seine Vorstellung dazu, das reflektiert Menasse nicht. Er sieht den Kommunikations- oder in seiner Sicht den Manipulationsprozess zur Europafrage so:Was schlecht läuft, ist Schuld der EU, und was funktioniert, ist Leistung der nationalen Regierung. Tatsächlich aber ist alles, was schiefläuft, Folge der jeweils nationalen Politik der Mitgliedstaaten. Keine der grossen gegenwärtigen Krisen und Herausforderungen kann national gelöst oder gemanagt werden. Diese sind nämlich schon längst transnational, wie die Finanzströme, die Lieferketten, die Energieversorgung, die Flüchtlinge und die Migrationsproblematik, die Erderwärmung.Aus der Tatsache, dass viele Probleme natürlich transnational oder gar global entstehen und gelöst werden müssen, schließt er, die Nationalstaaten sind schuld und müssen weg oder müssen zumindest ihre Souveränität aufgeben. Als ob z. B. die Probleme in einer Gruppe von Menschen nur von einem übergeordneten Menschen gelöst werden könnten. Dass aus der Idee der Nation, des Nationalstaates, auch immer wieder Ideologien und verschiedene Nationalismen entstanden sind, ist ja richtig. Aber diese Gefahr, etwa ein europäischer -ismus, wird ja durch die Europäisierung der Staatsgewalt nicht gebannt. Die "Gleichschaltung" der Regionen im Namen der großartigen Idee von Europa oder ein Agieren der Union als Imperium sind genauso wenig ausgeschlossen wie Bürgerkriege in Nationalstaaten oder zwischen dann europäischen Regionen. Aus der Gleichsetzung von Nation oder Nationalstaat mit Nationalismus und der nachvollziehbaren Vermutung, Nationalismus führe in letzter Konsequenz zu Auschwitz, schlussfolgert er, die Nation sei das Problem. Und polemisiert gegen den Interviewer:Sie haben die europäische Idee wirklich nicht verstanden. Ich habe gesagt, Friede durch Überwindung des Nationalismus. Die Idee war nicht: Wir müssen wettbewerbsfähig werden gegenüber China und den USA. Das kann man diskutieren. Aber nach europäischen Bedingungen: Es dürfen keine Waren, die mit Kinder- und Sklavenarbeit und ohne minimale soziale Standards produziert werden, auf den europäischen Markt kommen, darauf muss die Europäische Kommission achten. Auf der Basis von amerikanischen oder chinesischen Standards kompetitiv zu sein – das war nie die Idee eines vereinten Europa.Um nach dieser Vereinfachung wirtschaftlicher Fragen aber auch so zu argumentieren:Ich sage nicht, dass der Nationalstaat abgeschafft gehört. Ich sage nur, dass er durch europäische Gemeinschaftspolitik und durch die Globalisierung absterben wird. Und ja, es ist in der Tat vollkommen verrückt, dass der europäische Nationalismus, der in Deutschland ein ethnisch definierter Nationalismus war, einen ethnisch definierten Nationalstaat im Nahen Osten produziert hat. Ich bin der Meinung, dass Israel in die EU aufgenommen werden muss, Europa hat das Problem verursacht. Europa muss es zurückholen.Davon abgesehen, dass die Nationalstaaten eigentlich immer auch kulturell definiert waren (die Kultur aber der reinen Ethnie zugeordnet wurde), ist die eigentliche Frage nicht eher, was für ein Europa stellen wir uns vor? Was könnte die Rolle des Nationalstaates sein? Die Zukunft ist offen. Wir wissen nicht, ob der Nationalstaat absterben oder sich "nur" wandeln wird. Das sollte (hoffentlich) letztendlich das Ergebnis demokratischer Aushandlungsprozesse sein, die natürlich auch immer wieder experimentelle Schritte erfordern werden. Wir müssen sozialtechnische Experimente durchführen, die Ergebnisse empirisch auswerten. Es reicht nicht, über den gegenwärtigen Zustand zu schimpfen, etwa so:Die Ungarn, die Polen machen, was sie wollen. Sie brechen europäisches Recht. Da soll die europäische Idee obsolet sein? Gerade jetzt müssen gemeinsame Standards verteidigt und weiterentwickelt werden. Ein gemeinsamer Rechtszustand wäre ein Fortschritt gegenüber nationaler Willkür, das verstehen Sie doch, oder?Ja, wir brauchen gemeinsame Standards, aber die müssen gemeinsam entwickelt werden. Und übernationale Willkür, oder etwas was auch nur so empfunden wird, ist keine Lösung. Das "Subsidiaritätsprinzip" kommt in dem Interview z. B. gar nicht vor. Aber hier beginnen gerade die Probleme mit der "Idee von Europa" – sie liegen in vielen, vielen Details. Europa kann sich nur entwickeln, muss eigentlich entwickelt werden, mit unendlich viel Geduld. Und das durch die Nationalstaaten. Die Frage bleibt, haben wir die Zeit? Insofern brauchen wir auch viel mehr solcher Streitgespräche über unsere Ideen von Europa.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/unsere-europaische-idee-ein-streitgesprach-mit-robert-menasse">[link]</a>
Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/wie-autokraten-demokratien-unter-ihre-kontrolle-bringen2023-07-02T12:19:56+02:002023-07-02T12:19:56+02:00Wie Autokraten Demokratien unter ihre Kontrolle bringen<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/1s6utqzswx_10_euro_zerknuellt_europa_piqd.png" />
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Am 27. Juni 2023 habe ich unter dem Titel „Wie beständig ist das Grundgesetz gegen Demokratiefeinde?“ auf ein Projekt des Verfassungsblogs hingewiesen. Dieses Projekt will am Beispiel des Bundeslandes Thüringen untersuchen, an welchen staatsrechtlichen Stellschrauben die AfD im Falle einer Regierungsbeteiligung ansetzen könnte, um unsere Demokratie zu entkernen und zu einem autoritären System umzubauen.Unter anderem ist das in Ungarn unter der Herrschaft von Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz bereits gelungen. An welchen Stellschrauben Orbán gedreht hat, um Ungarn – trotz EU-Mitgliedschaft – zu einem autoritären System umzubauen, das erklärt die Soziologin Kim Lane Scheppele in einem Interview mit dem Wiener Standard, das Gerald Schubert führte. Scheppele ist Professorin für Soziologie und Internationale Beziehungen an der Princeton University und eine international anerkannte Ungarn-Expertin. Ihr langjähriger Forschungsschwerpunkt sind die gegenwärtigen Autokratien.Deshalb scheint mir dieses Interview eine gute Ergänzung zu meinem piq zu dem Projekt des Verfassungsblogs zu sein.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/wie-autokraten-demokratien-unter-ihre-kontrolle-bringen">[link]</a>
Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/manfred-weber-mdep-csu-sucht-sein-heil-im-populismus2023-07-01T16:12:22+02:002023-07-01T16:12:22+02:00Manfred Weber (MdEP/CSU) sucht sein Heil im Populismus<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/ziqtf7k3a_eiswagen_benelux_europa_piqd.png" />
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Bisher galt das Europäische Parlament (EP) als eine politische EU-Institution, die sich generell und zuverlässig für Umwelt- und Klimaschutz (Green Deal), für Menschenrechte und auch für Entwicklungspolitik starkgemacht hat, und in der Regel deutlich weitergehende Konzepte in diesen Politikfeldern entwickelte als die nationalen Regierungen im Rat der Europäischen Union – oft auch weitergehende Vorschläge hatte, als die EU-Kommission als die Institution, die für die Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen verantwortlich ist. Dies ändert sich derzeit rapide. Verantwortlich dafür ist der Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im EP, der CSU-Politiker Manfred Weber. Mit Blick auf die kommenden Europawahlen im Juni 2024 hat Weber sich zum Ziel gesetzt, die eigentlich eher sachbezogene Arbeit des Europäischen Parlaments mit rechter Ideologie aufzumischen. Zum einen pflegt er enge Beziehungen zur neofaschistischen italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Vor allem aber zieht er den rein ideologisch motivierten Kampf von CDU und CSU in der Bundesrepublik gegen eine wirksame Klimapolitik und gegen eine wirksame Menschenrechtspolitik auf die EU-Ebene (was allerdings nicht nur auf Zustimmung in der EVP stößt, wie mir kürzlich die finnische EVP-Abgeordnete Sirpa Pietikäinen sagte).In den bundesdeutschen Medien wird bisher kaum zur Kenntnis genommen, welche politischen Scherbenhaufen Manfred Weber auf EU-Ebene produziert. Deshalb will ich auf drei Artikel verweisen, die auf dem EU-weiten und mehrsprachigen Nachrichtenportal Euractiv in den letzten Wochen erschienen sind. Der direkt verlinkte Artikel zeigt u. a. auf, mit welchen (Druck-)Mitteln Manfred Weber vorgeht, um Klima- und Umweltpolitik auf EU-Ebene auszubremsen. Bisher konnte das mit knappen Mehrheiten verhindert werden. Aber ob die knappe Mehrheit für Klimaschutz Bestand haben wird, ist unsicher. Bereits Anfang Mai 2023 wies Julia Dahm in ihrem Euractiv-Artikel „EU-Wahlen: Unionslager opfert Umweltschutz für ländliche Wähler“ auf den von Weber betriebenen Strategiewechsel hin und suchte nach Motiven für diesen Wechsel. Als am 1. Juni 2023 die Abstimmung über die Richtlinie zum „Lieferkettengesetz“ anstand, haben die deutschen EVP-Abgeordneten (wie übrigens auch alle FDP-Abgeordneten im EP) gegen diese Richtlinie gestimmt, wie János Allenbach-Ammann auf Euractiv berichtet: „EVP greift in letzter Minute EU-Lieferkettengesetz an“. Ende Juni 2023 schrieb Kjeld Neubert in einem Euractiv-Artikel unter dem Titel „Bullmann: EU-Wahlkampf erreicht Entwicklungspolitik“: „Die Europäische Volkspartei (EVP) befindet sich bereits mitten im Wahlkampfmodus und macht auch vor der Entwicklungspolitik nicht halt. Derzeit wartet sie mit “ideologischen Grundblockaden” auf, sagte der führende Abgeordnete im EU-Parlament, Udo Bullmann, in einem Interview mit EURACTIV.“Bisher galt die EU-Politik zwar als langsam und schwerfällig, aber sie hat in der Regel stabile Kompromisse zwischen den politischen Interessengruppen erzeugt. Diese neue destruktive Politik à la Manfred Weber beschädigt diese europäische politische Kultur der Kompromissfindung. Im Blick auf die Klimapolitik bedeutet der Populismus von Weber eine akute Gefährdung unserer Zukunft. Das hat der Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf in einem Beitrag in DER SPIEGEL vom 29. Juni 2023 „Klimakrise: Weniger Tempo bedeutet mehr Katastrophen“ noch einmal anschaulich dargelegt. Demnach bleiben nur noch weniger als zehn Jahre, bis das globale CO2-Budget aufgebraucht ist, das uns bleibt, wenn wir relevante Klimakipppunkte nicht überschreiten wollen. Auch wenn die Maßnahmen des EU-Green-Deals keineswegs ausreichen, gilt die EU dennoch bisher auf globaler Ebene als treibende Kraft in der Klimapolitik. Das mag verdeutlichen, welche Auswirkungen es haben wird, wenn sich die deutschen Konservativen mit Weber an der Spitze mit ihrer destruktiven Klimapolitik auf EU-Ebene durchsetzen. Da es sich hier vor allem um deutsche EU-Abgeordnete handelt (die deutsche Delegation hat einen prägenden Einfluss auf die EVP), sollte auch von der bundesdeutschen Zivilgesellschaft sehr genau auf die Aktivitäten dieser Europaabgeordneten in den nächsten Monaten bis zur Europawahl geschaut werden.
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<a href="https://wwwnew.piqd.de/europa-eu/manfred-weber-mdep-csu-sucht-sein-heil-im-populismus">[link]</a>
Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/next-level-aussichtslosigkeit-in-grossbritannien2023-06-26T18:36:16+02:002023-06-26T18:36:16+02:00Next Level Aussichtslosigkeit in Großbritannien <img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/1s6utqzswx_10_euro_zerknuellt_europa_piqd.png" />
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John Harris ist ein von mir sehr geschätzter Reporter, der unermüdlich durch Großbritannien reist und mit den Menschen spricht. Ihnen einfach zuhört. Wissen will, was sie bewegt. Und sie nicht ausstellt, wenn er berichtet. Er hat sich schon, so lange ich ihn lese, Sorgen gemacht. Um die Menschen, die kämpfen müssen, um über die Runden zu kommen. Um die, die keine Perspektive sehen. Und um das Land, das sie so sehr im Stich lässt. Aus diesem Text sticht aber noch etwas anderes aus den ohnehin schon düsteren Zeilen heraus. Harris ist selbst von Erschöpfung und Perspektivlosigkeit betroffen. Das sagt er nicht direkt, sondern erzählt es aus der Perspektive zweier Frauen, die in seiner Heimatstadt wohnen. Die eine ist Altenpflegerin und verdient 10,70 Pfund die Stunde, was im Moment 12,48 Euro entspricht. Sie verdient damit als erfahrene Pflegefachkraft ungefähr das, was in Deutschland eine Pflegehilfskraft bekommt. Sie hat keine Hoffnung, dass sie demnächst mehr verdienen könne. Denn aus ihrer Sicht wäre der naheliegendste Grund für eine Lohnerhöhung ihr Einsatz während der Covid-Pandemie gewesen. Doch auch dafür gab es keine finanzielle Anerkennung.Die andere ist selbstständige Buchhalterin und fürchtet sich vor dem Auslaufen ihres Hauskreditvertrages. So wie schätzungsweise zwei Millionen Brit:innen, deren zinsgebundene Verträge bald auslaufen und die dann mehrere Hundert Pfund im Monat nachzahlen müssen. Man schätzt, dass circa 4 % der Haushalte in UK ihre Ersparnisse deshalb verlieren werden. Diese Aussicht gibt der Frau das Gefühl, sich nicht mehr hocharbeiten zu können, sondern mit dem, was sie jetzt hat, für immer zufrieden sein zu müssen. Diese Beispiele symbolisieren unterschiedliche Arten von Aussichtslosigkeit. Und was Harris so anfasst, ist, dass nicht mehr nur diejenigen hoffnungslos sind, die von prekären Jobs oder von staatlicher Unterstützung leben müssen, sondern inzwischen auch die Mittelschicht. Leute wie er selbst. Auf die Frage, was diese Menschen von der Politik erwarten, kommt If we have a Conservative government, it gets worse every year.undEverything is so out of your control … I feel like it doesn’t make much difference any more.Die Rhetorik der letzten Jahre und die wirtschaftlichen Probleme erzeugen bei den Menschen eine tiefe Erschöpfung. Niemand will mehr leere Versprechungen hören, aber jede:r erwartet nur noch diese von der politischen Klasse. Harris meintNow, I hear echoes of the weariness and bafflement I used to associate with the post-industrial places whose furies took us out of the EU, but this time in our market towns and suburbs. I worry about that. I think we all should.
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Silke Jägerhttps://www.piqd.de/users/silke.jaegerhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/georgiens-dringendster-wunsch-eu-beitritt-und-nato-mitgliedschaft2023-06-23T12:51:59+02:002023-06-23T12:51:59+02:00Georgiens dringendster Wunsch – EU-Beitritt und NATO-Mitgliedschaft<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Die Europäische Union wird das Problem nicht los. Im Gegenteil, der Überfall Russlands auf die Ukraine verstärkt verständlicherweise den Wunsch vieler Bürger ehemaliger Sowjetrepubliken – sie wollen in den (erhofft) sicheren Hafen der EU sowie der NATO. Und sei es, wie das Beispiel Georgiens zeigt, gegen das Agieren der eigenen Regierung:Laut verschiedenen Studien möchten die meisten Georgier:innen in die EU. Eine im März veröffentlichte Studie des International Republican Institute (IRI) ergab, dass 89 % der Bevölkerung einen Beitritt zur EU befürworten und 80 % auch der NATO beitreten möchten. Dieser Wunsch wird von den Georgier:innen in verschiedenen Situationen zum Ausdruck gebracht, wie beispielsweise bei Kundgebungen im März gegen das „Agentengesetz“, das Medien und Organisationen, die aus westlichen Mitteln finanziert werden, als Agenten einstufen wollte. Dieses umstrittene Gesetz über „ausländische Agenten” war dem berüchtigten russischen Gesetz sehr ähnlich. Der Kreml nutzt das Gesetz in Russland, um die russische Opposition zu unterdrücken. Das in Georgien geplante Gesetz beinhaltete, dass jede juristische Person, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzmittel von einer „ausländischen Macht“ erhält, als „Agent ausländischen Einflusses“ registriert wird. Abgesehen von der stigmatisierenden Bezeichnung gewährt es Regierungsbeamten uneingeschränkte Informationen über die betroffenen juristischen Personen, sowohl was ihre Finanzen, ihre externe Korrespondenz, ihre persönlichen Daten und die ihrer Mitarbeiter anbelangt.Hinter dem Gesetz stand eine Gruppe von Abgeordneten um die antiwestliche, russophile und rechtsextreme Bewegung People's Power, die, mit Unterstützung der eher pro-russischen Regierenden, Hetzkampagnen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen führt. Die massiven Proteste der georgischen Bevölkerung verhinderten schließlich die Verabschiedung durch das Parlament. Dieser trotzige Sieg der georgischen Gesellschaft ist dem Kreml ein Dorn im Auge. Die heftigen Reaktionen von Putins Sprechern deuten darauf hin, dass der Gesetzesentwurf nicht nur eine Nachahmung des russischen Gesetzes, sondern tatsächlich eine vom Kreml gesteuerte Strategie war. Die Demonstrationen wurden vor allem von jungen Menschen initiiert, die noch nie direkt in einem totalitären System gelebt haben. Und auch nie in einem wie auch immer vom heutigen Russland dominierten Verbund leben wollen. Diese Situation macht aber auch klar, dass Russland weiter versuchen wird, seinen Einfluss mit aller Gewalt aufrecht zu erhalten. Eine irgendwie anziehende „Soft Power" hat es dieser Jugend nicht zu bieten. Die kämpft für den EU-Kandidatenstatus, den offensichtlich die aktuelle georgische Regierung nicht wirklich will.An einer der größten Demonstrationen des letzten Jahres, im Juni, an der eine ungewöhnlich hohe Zahl von Demonstrant:innen teilnahm (Schätzungen zufolge zwischen 120.000 und 160.000), wurde mit dem Slogan „Nach Hause, nach Europa“ gegen die Ablehnung des EU-Kandidatenstatus (durch die EU, Th.W.) protestiert.Die georgische Regierung wiederum "glänzt" mit eher pro-russischen Aktivitäten, die wiederum die EU verärgern:Der EU-Botschafter Paweł Herczyński äußerte das Bedauern der EU über die Entscheidung der georgischen Regierung, Direktflüge mit Russland zu akzeptieren, und betonte, dass dies im Widerspruch zur Position der 27 Mitgliedstaaten stehe. Annalena Baerbock hat zwar in ihrer Rede während ihres Besuchs in Georgien im März dieses Jahres ihre Unterstützung für den EU-Kandidatenstatus Georgiens bekräftigt. Aber wie es jetzt aussieht, könnte noch viel Zeit ins Land gehen, bis man klarere Bilder sieht.Seit einem Jahr ist Georgien verpflichtet, zwölf Prioritäten zu erfüllen, die im Juni 2022 von der EU-Kommission empfohlen wurden. Diese Prioritäten umfassen verschiedene Änderungen und Reformen in unterschiedliche Richtungen wie Justizreform, „Deoligarchisierung“, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Verbesserung der Medienlandschaft, Lösung des Problems der politischen Polarisierung und Berücksichtigung unabhängiger Personen bei der Ernennung eines neuen Bürgerbeauftragten (Ombudsstelle).Aber nach einem von mehreren NGOs erstellten Bericht hat Georgien von diesen zwölf Prioritäten lediglich eine vollständig und zwei teilweise erfüllt. Neun Punkte sind weiter problematisch.Andererseits hat der georgische Staat hat nicht mehr viel Zeit, da die Europäische Kommission im Herbst einen ordnungsgemäßen Erweiterungsbericht veröffentlichen wird, der eine Empfehlung an die Europäische Kommission enthalten soll, Georgien in diesem Jahr den Kandidatenstatus zu verleihen. Ein klassisches Dilemma. Eine von Oligarchen geführte georgische Regierung, die die von der EU geforderte „Deoligarchisierung“ nicht möchte, eine EU, die auf diese Forderung nicht verzichten kann oder will und eine aggressive politische Situation in der Großregion. Es gilt:Für Georgien und die georgische Bevölkerung ist der Kandidatenstatus und der Beitritt zur EU und NATO nicht nur ein Wunsch, sondern die einzige Lösung für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger:innen. Bekanntlich sind 20% des georgischen Territoriums von Russland besetzt, was eine ernsthafte Herausforderung für die nationale Sicherheit des Staates darstellt. Einen berührenden Bericht über die Stimmung im Lande, auch angesichts der Tausenden russischen Migranten, die wegen des Ukrainekrieges nach Georgien strömen (und die trotzdem kleine "großrussische Chauvinisten" sein können) findet man hier. Demnach repräsentiert Georgien für die meisten Russen seit jeher (seit der Zarenzeit) die exotische Gegend mit der großartigen Natur, viel Sonne und einer ein wenig widerspenstigen Bevölkerung, der sie zu keiner Zeit die Unabhängigkeit zugestanden – eine kleine Kolonie, der sie die Zivilisation brachten und die sie am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vor dem "Untergang" retteten. Es ist also nicht verwunderlich, dass Staatsangehörige Russlands, dessen klassische Literatur von Stereotypen über Georgier und Georgien strotzt (Puschkin, Lermontow und viele andere), heute fauchend auf eine einfache junge Georgierin losgehen mit "Wieso kannst du kein Russisch? Bist du russophob?!".Es steht der Vorwurf, "Vor Putins Regime geflüchtete" Russen und Russinnen kaufen reihenweise Immobilien, lassen Unternehmen registrieren und, vor allem, verbitten sich explizit, an das Geschehen in der Ukraine erinnert zu werden. Dass sie sich überhaupt erinnern oder wahrnehmen, was geschieht, geben sie ohnedies nicht groß zu erkennen.Da braut sich u. U., während wir vor allem auf den Krieg in der Ukraine starren, etwas sehr Ungutes zusammen. Georgien, in weiter Ferne und doch so nah!Trotzdem, es ist richtig, die Osterweiterung in dieser konfliktreichen Region voranzutreiben. Mit der neuen Erweiterungsrunde, die die Ukraine, Moldawien, Georgien sowie den westlichen Balkan einbeziehen soll, verfolgt die EU ein großes, komplexes geostrategisches Projekt. Was nicht von allen Mitgliedsstaaten begeistert aufgenommen wird. Es kommen unruhige, herausfordernde Zeiten auf uns zu. Gegebenenfalls auch Waffen für Georgien? Das sollten wir im Blick haben und etwas weniger auf unseren (woken?) Bauchnabel starren.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahlhttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/europaisches-parlament-will-orban-nicht-als-eu-ratsprasidenten2023-06-13T11:37:50+02:002023-06-13T11:37:50+02:00Europäisches Parlament will Orbán nicht als EU-Ratspräsidenten<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2021/03/05/dybg19mgh_EU_Flagge_europa_piqd.png" />
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Turnusmäßig bekäme Ungarn vom 1. Juli bis 31. Dezember 2024 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft. Damit würde der ungarische Ministerpräsident und erklärte EU-Gegner sowie Feind liberaler Demokratien Viktor Orbán für sechs Monate das Gesicht der Europäischen Union nach innen und nach außen. Eine deutliche Mehrheit des Europäischen Parlaments (EP) ist davon nicht begeistert und hat kürzlich in einer – leider rechtlich nicht bindenden – Resolution den EU-Rat aufgefordert, eine Lösung zu finden. Lösung heißt in diesem Kontext wohl, zu verhindern, dass Ungarn die Ratspräsidentschaft übernimmt.Thorsten Fuchshuber zeichnet in seinem Beitrag für die Luxemburger Zeitung WOXX den Konflikt zwischen dem EP und der ungarischen Regierung nach und er zeigt Möglichkeiten auf, wie u. U. die turnusmäßig ungarische Ratspräsidentschaft verhindert werden könnte.Eine gute Ergänzung zu dem Beitrag von Fuchshuber ist Artikel „EU-Parlament will ungarische Ratspräsidentschaft 2024 verhindern“ von Stefan Grobe in EURONews. Dieser Artikel benennt u. a. die Abstimmungsergebnisse der benannten EP-Resolution.
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Jürgen Klutehttps://www.piqd.de/users/juergen.klutehttps://wwwnew.piqd.de/europa-eu/die-agonie-des-sowjetischen-monsters2023-06-04T13:12:11+02:002023-06-04T13:12:11+02:00Die Agonie des sowjetischen Monsters<img type="image/png" src="https://cache.piqd.de/system/dragonfly/production/2019/01/31/f3vqe3sl0_Europa_s.jpg" />
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Nikolaï Epplé, ist ein russischer Philologe und beschäftigt sich mit Erinnerungsgeschichte. Sein Buch „Die unbequeme Vergangenheit“ erschien in Russland Ende 2020 (auf Deutsch diesen Monat) und sorgte für erhebliches Aufsehen. Es verglich die Aufarbeitung der Geschichte in Russland mit sechs weiteren Ländern, darunter Deutschlands Nationalsozialismus, Spanien unter Franco, das Argentinien der Generals-Junta und Südafrikas Apartheid. Er versuchte auf diese Weise herauszufinden, wie man dort mit der Erinnerung und der Aufarbeitung von Staatsverbrechen umgegangen ist.Der russische Wissenschaftler stellte fest, dass man überall dieselben Schwierigkeiten hat, sich der Vergangenheit zu stellen: Es ist ein langsamer und mühsamer Prozess und muss aus dem Inneren des Landes kommen, wenn er erfolgreich sein soll. Russland jedoch bildet eine Ausnahme, so seine Erkenntnis, denn dort haben die Vertuschung und die Wiederholung von Staatsverbrechen sehr viel länger überdauert als anderswo. Das hat Folgen für die Gegenwart.Und zwar massive – die euphemistische Geschichtserzählung prägte die Nachkriegsgeschichte der UdSSR genau wie sie die Geschichte Russlands und seine Zukunft blockiert.Epplée sieht die Aggression Russlands gegen die Ukraine als eine direkte Folge der Weigerung der russischen Führung, die sowjetische Vergangenheit aufzuarbeiten. Was auch daran liegt, dass sich der russische Staat als eine Art Quasi-UdSSR definiert, mit vergleichbaren imperialen Ambitionen. Auch handelt Russland weiter nach dem grundlegenden Prinzip, wonach der Staat und seine Interessen über den Wert des menschlichen Lebens, über den Interessen seiner Bürger, steht. Und so sieht der russische Staatdie Länder der ehemaligen UdSSR nach wie vor mit einer kolonialen Brille, als wären diese keine vollwertigen, eigenständigen Staaten. Und deshalb ist es auch die Loslösung der Ukraine aus der russischen Einfluss-Zone 2013-14, die diesen Krieg verursacht hat.Nebenbei, auch in D. habe ich manchmal den Eindruck, als ob einige Analysten, Medien und Politiker die ehemaligen Sowjetrepubliken als nicht ganz vollwertig wahrnehmen. Teile der Sowjetromantik haben wohl bei uns überlebt. Die kritische Tiefe, die wir bei der Geschichte des Nationalsozialismus erreicht haben, findet sich bei der Analyse des Bolschewismus (und des 'nie wieder' Gulag?) seltener. Es gab nach 1945 natürlich einige Versuche der Aufarbeitung des Stalinismus in der Sowjetunion (und im Ostblock) und dann in der Russischen Föderation. Erstmals kritisierte Chruschtschow 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU in seiner "geheimen" Rede "Über den Personenkult und seine Folgen" Stalin und die mit ihm verbundenen Verbrechen. Zuhörer berichteten nach 1989, das Publikum habe die Rede in völligem Schweigen und mit lähmendem Entsetzen aufgenommen. Es habe keine Aussprache gegeben. Jede mündliche oder schriftliche Weitergabe des Gehörten wurde den Delegierten untersagt. Nur loyale Parteimitglieder waren zugelassen, Journalisten waren verboten. Kopien der Rede gingen im März 1956 an die Staatschefs im Ostblock. Der polnische Staatspräsident und Parteichef Bolesław Bierut erlitt bei der Lektüre der Rede einen Herzanfall und verstarb zweieinhalb Wochen später in Moskau.Die Gesamtproblematik des ‚Bolschewismus' blieb allerdings außen vor. Aber es begann die sogenannte Tauwetter-Periode, die dann spätestens mit der Entmachtung Chruschtschows 1964 zu Ende ging. Weitere Perioden der Aufarbeitung der Sowjet-Geschichte findet man in den 80er-Jahren unter Gorbatschow. Und dann später zwischen 2019 und 2020, so Nikolaï Epplé, wo es beinahe zu einem „Durchbruch der Erinnerungen“ kam.Nach den Protesten der Bevölkerung in den Jahren 2011 bis 2012 wurde dem Kreml klar, dass die Versuche, eine „souveräne Demokratie“ (Putins gelenkte Demokratie? Th.W.) zu entwickeln – die zwar den Anschein von Freiheit und demokratischen Institutionen vermittelte, gleichzeitig aber von Männern des KGB mit einer antidemokratischen Einstellung kontrolliert wurde – eindeutig gescheitert war. Also gingen die russischen Machthaber zu einem Mobilisierungsszenario über, das sich 2014 als „Renaissance des Stalinismus“ konkretisierte. Dieser Versuch, die Gesellschaft einzuschüchtern und sie daran zu erinnern, dass sie von einer „Eisernen Faust“ regiert wurde, führte wiederum dazu, dass man sich intensiver für Veröffentlichungen zum Thema „sowjetischer Terror“ interessierte …. Die Folge davon war eine Situation, die dem nahekommt, was ich den „Durchbruch der Erinnerungen“ nenne.Und so bleiben dem Kreml nur zwei Strategien: den Wandel der Zeiten geschehen lassen, zurückzuweichen und sich der Debatte zu stellen – was sicher zum Machtverlust geführt hätte. Oder sich dagegen zu wehren und das Land quasi in die sowjetische Vergangenheit zurückzuholen. Und zwar nicht in die tatsächliche UdSSR, sondern ihren halb verwesten Leichnam. Allerdings war diese Rückkehr in die Vergangenheit ohne einen gewaltsamen Bruch mit der gewohnten Ordnung der Dinge, also ohne Krieg, gänzlich unmöglich. Und so ist der Beginn dieses großen Krieges gegen die Ukraine eine direkte Folge dieser Weigerung, einen definitiven Schlussstrich unter die sowjetische Vergangenheit zu ziehen und den Leichnam der UdSSR zu begraben.Vielleicht zeigt sich hier sogar die Agonie des Geschichtsnarrativs vom russischen Imperium insgesamt. Jedenfalls wird überdeutlich, wie stark politisches Agieren in der Gegenwart mit der kritischen Aufarbeitung der Geschichte bzw. mit der Nichtaufarbeitung korreliert. Und es stimmt wohl, das Beispiel Russland ist in dieser Hinsicht außergewöhnlich und eigentlich nur mit China vergleichbar, wo das autoritäre Gedankengut nun schon drei Generationen andauert. Das macht jetzt die Russen nicht etwa zu Wesen einer anderen Art, zwingt einen aber doch dazu, eine spezifische Vorgeschichte zu beherzigen, wenn man das Verhalten der russischen Gesellschaft in Krisenzeitung analysieren will. In dieser Hinsicht ist die Reaktion der Russen auf den Krieg sehr aufschlussreich, ebenso wie die Probleme des Westens, diese Reaktion zu deuten.Und diese Schwierigkeit des Verstehens zwischen Völkern, die gewissermaßen in unterschiedlichen Erfahrungs- und Interpretationswelten leben, ist nicht mit der Werte-Diskussion zu überbrücken. Eigentlich wissen wir nicht wirklich, was "die russische Gesellschaft", geprägt von ihrer diktatorischen Vergangenheit, über der Politik ihres eigenen Staates denkt. Sie ist es gewohnt, ihre Meinung für sich zu behalten. Wir hören vor allem, was der Machtapparat als öffentliche Meinung ausgibt, vorgibt. Und einzelne Stimmen der Opposition.Was zu der Frage führt, ob Russland eines Tages eine Demokratie sein kann, sein wird? Dazu Epplée:
Die Demokratie ist kein universelles Heilmittel und funktioniert auch nicht in allen Fällen auf ideale Weise. Die Vorgeschichte, unter der Russland leidet, ist sehr ernst, und der Patient befindet sich heute in einer sehr ernsten Krise – er muss erst einmal überleben! Unter diesen Bedingungen von einem Heilungsprozess zu sprechen, wäre verfrüht. Man muss aber auch ganz klar sagen, dass es keine spezifischen Mechanismen gibt, die verhindern würden, dass Russland demokratiefähig wäre oder dass es zu einer bestimmten Sklavenmentalität neigt. Auch der Versuch, aus Russland eine Bastion der „traditionellen Werte“ gegen die Globalisierung und die Toleranz zu formen, beruht auf einer totalen Manipulation. Die russische Gesellschaft ist zutiefst anti-traditionell. Sie wird nicht von konservativen Werten dominiert, sondern von Zynismus und Skepsis. Und genau diese Eigenschaften dürften das größte Hindernis in Bezug auf demokratische Reformen darstellen, so sie in Zukunft denn überhaupt möglich sind.
Hoffen wir also, dass der Ukrainekrieg wirklich "der letzte Pfahl ist, den Wladimir Putin in den Kadaver der UdSSR treibt", den er eigentlich wiederbeleben will. Dieser Artikel stammt aus der Zeitungskooperation Leading European Newspaper Alliance (LENA) – neben WELT gehören dazu Italiens „La Repubblica“, „El País“ aus Spanien, „Le Figaro“ aus Frankreich, „Gazeta Wyborcza“ aus Polen, „Le Soir“ aus Belgien sowie aus der Schweiz „La Tribune de Genève“ und „Tages-Anzeiger“. Er ist also ein Ansatz für die europäische Diskussion. Der Text erschien zuerst in „Le Figaro“. Leider auch dort nur offen für Abonnenten.
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Thomas Wahlhttps://www.piqd.de/users/thomas.wahl