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Volk und Wirtschaft

Ökonomen haben ein ziemlich enges Bild von Rationalität

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 01.07.2022

Esther Duflo bekam 2019 als zweite Frau den Wirtschafts-Nobelpreis, gemeinsam mit ihren Forschungskollegen Abhijit Banerjee (ihrem Ehemann) und Michael Kremer. Und zwar für ihren experimentellen Ansatz bei der Analyse und Bekämpfung von globaler Armut. Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen mikroökonomische Themen und Methoden in den Entwicklungsländern. Ihre Stärke liegt in der detaillierten Beobachtung etwa des Verhaltens von Haushalten, Unternehmern, der Wirkung von Bildungsstrukturen, den verschiedenen Zugängen zu Finanzdienstleistungen, Gesundheitspolitiken und der Bewertung entsprechender wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Sie ist eine sehr genaue Beobachterin mit gleichzeitig weitem Blick in die Gesellschaft. Sie zählt zu den einflussreichsten Ökonomen der Welt. Ihre Bücher sind unbedingt zu empfehlen (hier eine Leseprobe zu "Gute Ökonomie für harte Zeiten"), genau wie dieses Interview mit ihr in der NZZ. Es beginnt mir einer herben Kritik an der Ökonomenzunft:
Ökonomen haben oft ein ziemlich enges Bild von Rationalität. Die Menschen berücksichtigen dagegen mehrere Dimensionen, wenn sie sich ein Bild vom guten Leben machen. ...

Und weiter zur Frage, warum Ökonomen so ein schlechtes Image haben:

Wir sind halt schlechte PR-Leute. Aber im Ernst: Die Befragten haben wahrscheinlich Ökonomen im Fernsehen gesehen, die ihre Wirtschaftsprognosen abgaben. Doch selbst die Voraussagen des Internationalen Währungsfonds sind lausig. 

Dabei, so Duflo begeistert, sind unsere Ökonomien voller spannender und unbeantworteter Fragen. Zu deren Beantwortung sie mit ihren kontrollierten Feldexperimenten beitragen will. Also weg von den Modellen mit dem abstrakten "Homo oeconomicus", raus aus dem "Studierzimmer", hin zu realen Menschen mit ihrem nie ganz rationalen Verhalten. Was von vielen als Erneuerung der Wirtschaftswissenschaften gesehen wird, ihr aber auch den Vorwurf der Kleinteiligkeit einbringt. Was sie so kontert:

Aber es gibt einfach keine Formel, wie man ein Land wohlhabend macht. Wir wissen höchstens, was man nicht tun sollte. Hyperinflation kreiert gewiss kein wachstumsfreundliches Umfeld. Aber sonst? ... Aber wie kommt man von einem Zustand, wo diese (guten Institutionen, Eigentumsrechte, Rechtsstaatlichkeit Th. W.) fehlen, zu einem, wo sie vorhanden sind? Hier wird dann eben doch eine Vielzahl kleiner Schritte nötig, um von A zu B zu gelangen.

Besonders spannend ihre Einschätzung des russischen Weges nach 1990, zum Grundeinkommen und zur Globalisierung.

Ab 1993 verbrachte Duflo zehn Monate in Moskau. U. a. arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen französischen Ökonomen, der mit der Zentralbank Russlands verbunden war, sowie für Jeffrey Sachs, einen amerikanischen Ökonomen, der den russischen Finanzminister beriet. Sie konnte den Beginn der wenig gelungenen ökonomischen Transformation der russischen Wirtschaft also aus nächster Nähe beobachten. Und sie tut sich schwer mit einer eindeutigen Beurteilung:

Am Ursprung vieler nachfolgender Probleme liegt wohl die Voucher-Privatisierung, bei der sich die Bürgerinnen und Bürger mittels Coupons an Staatsfirmen beteiligen konnten. Man hoffte, dass auf diese Weise eine Mittelschicht entstehen würde. Was passierte, war etwas anderes. … Die Regierung verlor alle Ressourcen, ohne bereits über Einnahmen aus einem funktionierenden Steuersystem zu verfügen. Der Staat trocknete also aus – und es fehlten die Mittel, um Leute zu unterstützen und grundlegende öffentliche Güter bereitzustellen. Daher verkauften Leute, denen es nicht gut ging, ihre Voucher zu Schleuderpreisen, was einigen wenigen Menschen erlaubte, riesige Vermögen aufzubauen. Dieses Experiment wirkt bis heute nach. Aber selbstverständlich spielt zur Erklärung der heutigen Lage auch die Persönlichkeit Putins eine Rolle.

Auf die Frage, ob es richtig sei, Russland politisch und ökonomisch vollkommen zu isolieren, antwortet sie – für eine Ökonomin sehr offen (und für mich sehr überzeugend):

Niemand kennt die Antwort und weiss, wie das Endspiel aussehen wird. Rückblickend werden zwar viele sagen, man hätte dies oder das tun sollen. Doch die Wahrheit ist: Wir bewegen uns im Dunkeln.
Ebenso eigen ihre Bemerkung zur Globalisierung. Ist sie übertrieben worden oder eher unterkritisch und einseitig gelaufen?
Man kann die Sache auch anders sehen: Vielleicht sind wir zu wenig globalisiert. Denn heute sind die Industrien regional extrem konzentriert. Das Problem mit dem Handel ist nicht, dass es zu viel davon gibt, sondern dass bestimmte Waren nur in einigen wenigen Clustern – namentlich in China – hergestellt werden. Wenn dann eine Stadt in China einen Lockdown verfügt, gibt es plötzlich keine Kugellager mehr, weil alle Kugellager aus dieser Stadt stammen.

Allerdings, eine solche Konzentration schafft Größenvorteile. Das Resultat dieser starken Spezialisierung – extrem billige Produkte. Der Preis kann aber, wie man jetzt sieht, nicht das einzige Beschaffungskriterium sein. Im "Ernstfall" ist eine regional diversifizierte Produktion sicherer. Was wiederum nicht heißen darf, dass alle Regionen oder Staaten alles selber produzieren sollen. Das würde mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine globale Armut führen. Trotzdem muss die Herstellung von Gütern gleichmäßiger über die Welt verteilt werden. Aber wie?

Das ist das Problem. Denn eine Diversifikation ergibt sich nicht auf natürliche Weise. Zudem ist beim internationalen Handel der Aufbau von Reputation wichtig. Ein Beispiel: Auch wenn Ägypten ab morgen neuerdings Halbleiter produzieren würde, würde bei der Bestellung von Halbleitern niemand an Ägypten denken. Der Aufbau von Reputation ist langwierig und teuer. Die Dominanz von China in vielen Industrien verschärft dieses Problem. Es braucht daher das Engagement von Regierungen und internationalen Organisationen, um Exportkapazitäten aufzubauen.

Im Grunde genommen plädiert Duflo damit für eine Industriepolitik auf globaler Ebene:

Ja, in einigen Sektoren. Wobei die Unterstützung nicht zwingend vom Staat kommen muss. Mein Punkt ist: Diversifikation entspricht nicht dem natürlichen Lauf der Dinge. Der natürliche Lauf der Dinge führt beim internationalen Handel vielmehr zu starken Konzentrationen.
Ebenso eigenwillig die Einschätzung Duflos zum bedingungslosen Grundeinkommen – eigentlich ja, aber nur in armen Staaten:
Für reiche Länder nicht, denn es würde extrem teuer, allen Menschen ein Grundeinkommen zu geben, mit dem sie würdig leben können. Man müsste dann an anderen Orten sparen, zum Beispiel bei der Bildung. Für die reichen Länder sind gezielte Transfers viel besser. 
Es lohnt sich wirklich, das Interview zu lesen. Und dann zu diskutieren. Man wird den Gedanken nicht immer folgen wollen. Bekommt aber überraschende Einsichten und. Anregungen.
Ökonomen haben ein ziemlich enges Bild von Rationalität

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Kommentare 5
  1. Silvio Andrae
    Silvio Andrae · vor mehr als ein Jahr

    Das Hauptproblem der Wirtschaftswissenschaften und der Politik ist, dass sie keine echten "Wissenschaften" wie die Physik oder die Mathematik darstellen. Es gibt einen Unterschied zwischen Naturwissenschaften und sozialen Disziplinen, die dazu führt, dass die herkömmliche wissenschaftliche Methode in sozialen Disziplinen nicht anwendbar ist. Wie der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Paul Samuelson sagte: "Die Wirtschaftswissenschaft war nie eine Wissenschaft - und sie ist es heute noch weniger als vor einigen Jahren." Die Ökonomen halten an ihren theoretischen Modellen fest, von denen die meisten in der realen Welt wenig bis gar nichts taugen, weil sie die Auswirkungen des unberechenbaren menschlichen Verhaltens einfach nicht berücksichtigen können. #
    Menschen sind irrational; ihre Voreingenommenheit, Vorurteile, falschen Vorstellungen und Irrtümer bestimmen ihr Handeln. Bei sozialen Ereignissen treffen die Menschen also Entscheidungen auf der Grundlage von fehlerhaftem Wissen. Es ist die Unfähigkeit, diese Irrationalität anzuerkennen - unter anderem auch ein Grund, warum es die Finanzkrise 2008 gab.

    1. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als ein Jahr

      sie sind keine Naturwissenschaften. Richtig.
      Aber Wissenschaften können sie sehr wohl sein. Oft sind sie es aber tatsächlich nicht sondern nur autoritätsverbrämte Beraterfirmenvertreter.

      interessant ist wie oft oben im Text gesagt wird dass sinnvolle nötige Regelungen nicht auf "natürlichem" Wege geschehen. soll heißen nicht wem man den Markt einfach machen lässt und die Wirtschaft völlig frei lässt.

      Es braucht nicht nur eine globale Industriepolitik es braucht globale Politik ein globales politisches System.

    2. Silvio Andrae
      Silvio Andrae · vor mehr als ein Jahr

      @Cornelia Gliem Danke für den Kommentar. Bevor ich bei der Politik bin, würde ich gern noch bei der Modellierung der Akteure in den sozialen Disziplinen verbleiben. Mittlerweile gibt es Techniken, die die Heterogenität der sozialen Akteure in den Mittelpunkt rücken. Hier geht es um realitätsnahe, menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen. Gemeint ist das sog. agent-based modeling (ABM).

      https://link.springer....

      Was ABM so spannend und hilfreich macht: Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird erleichtert, da es bei der Anwendung keiner fachspezifischen
      Methodenkenntnisse bedarf. Der deskriptive Charakter ermöglicht eine innovative Kommunikation, wodurch ein Denken in separaten Silos verschiedener Disziplinen überwunden werden kann.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      @Cornelia Gliem Der Markt macht ja gar nicht selber. Es sind die Akteure auf dem Markt die Handeln. Und die sind, wenn auch begrenzt und nicht vollständig rational, lernfähig. Also auch global politikfähig. Ob es irgendwann einmal ein globales politisches System herausbildet, dass diesen Namen verdient, bleibt zu hoffen. Bis jetzt sehe ich das nur in Ansätzen.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

      Ich denke, die meisten Menschen handeln nicht vollständig rational aber auch nicht vollständig irrational. Verstand und Gefühl sind ein komplexes Gemisch. Und die Menschen treffen Entscheidungen nicht nur auf der Basis von fehlerhaftem Wissen sondern auch unter grundsätzlich unvollständigen Informationen. Wir sind auch keine Schachcomputer bzw. das Leben ist komplexer als ein Schachspiel. Auch unsere Kultur spielt in die Entscheidungen hinein. Deren Regeln sind auch nicht wirklich vernünftig oder rational sondern historisch geworden. Und nun treffen unterschiedliche Kulturen mit ihren jeweils im eigenen Kontext entstandenen Entscheidungen aufeinander. Ja, Gesellschaft ist wohl nicht wirklich berechenbar ….

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