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Volk und Wirtschaft

Neoliberalismus – das Opium der Eliten?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlFreitag, 03.02.2023

Oder ist der Anti-Neoliberalismus das Opium, vielleicht auch beides ein ideologisches Rauschgift? Wie auch immer, es ist ein umstrittener Begriff, ein Konzept, über das viel gestritten und wenig gewusst wird. Und das man kaum versteht, ohne seine Geschichte zu kennen. In "London Review of Books" bringt Jonathan Rée eine interessante Besprechung zu einer Biografie eines der Väter des Neoliberalismus "Hayek: A Life, 1899–1950" heraus. Die aber auch das Leben des Ökonomen Ludwig von Mises einschließt, dem zweiten sehr wichtigen Schöpfer dieser Denkströmung.

Diese Denkströmung und ihr Counterpart haben bis heute eine längere miteinander verwobene wissenschaftliche und ideologische Historie hinter sich. Da ist der Teil der sozialistischen
Tradition, an den wir lieber nicht denken: die Idee, dem verschwenderischen Chaos des Kapitalismus durch die Umsetzung eines umfassenden Wirtschaftsplans ein Ende zu setzen. Die zentrale Planung wird normalerweise mit dem Marxismus in Verbindung gebracht, obwohl Karl Marx selbst nur eine vage Hoffnung äußerte, die Industrie unter politische Kontrolle zu bringen und das "Feilschen" loszuwerden (Schacher). 
Aber es waren damals nicht nur Marxisten – auch Bertrand Russell warnte 1927 davor, dass die Zivilisation ohne eine weltweite "zentrale Behörde", die sicherstellt, dass "die Produktion wissenschaftlich organisiert ist", zusammenbrechen würde. Und die Weltwirtschaftskrise schien die Idee zu bestätigen. Auch Albert Einstein beklagte damals die "wirtschaftliche Anarchie der kapitalistischen Gesellschaft" und forderte eine "sozialistische Wirtschaft", in der "Produktionsmittel" "geplant" genutzt werden sollten.
Die Begeisterung für eine umfassende Wirtschaftsplanung brach nach der Implosion der Sowjetunion 1991 zusammen, war aber bereits durch die jahrzehntelange Kritik unter der Rubrik "Neoliberalismus" untergraben worden. 
Bekanntlich geht die neoliberale Theorie auf Ludwig von Mises zurück, der nach dem Ersten Weltkrieg gegen die Idee kämpfte, wonach (wie es ihm damals wohl nicht ganz zu Unrecht schien) jeder von der Vorstellung mitgerissen wurde, dass der Kapitalismus "die Summe allen Übels" sei. Damit meinte er wohl eher nicht die Marxisten, sondern die manichäischen Antikapitalisten, die den Kapitalismus nicht als komplexen und auch progressiven historischen Vorläufer des Sozialismus sehen wollten. Für diese war Kapitalismus eine "Sache der Dunkelheit, die auf die Vernichtung von Gerechtigkeit, Großzügigkeit und gutem Willen aus war". Ja, auch dieses Denken ist nicht neu.

Eigentlich sah Mises die politische Ökonomie vor allem als eine zeitlose, neutrale mathematische Theorie der wirtschaftlichen Entscheidungsfindung.

Aber sie enthielt auch ein historisches Narrativ vom Übergang von statischen, isolierten, vormodernen Despotismen, in denen der Handel selten über sporadische Tauschhandlungen hinausging, zu modernen Marktwirtschaften. Anstatt bloße Anarchie zu entfesseln, lösen freie Märkte demnach traditionelle soziale Strukturen auf und führen über Arbeitsteilung, Innovation und Spezialisierung sowie durch die Lenkung knapper Ressourcen. Mises wusste natürlich um  
die Probleme, die ein reifes kapitalistisches System hervorbringt, sie sind offensichtlich (Handelszyklen, Arbeitslosigkeit, Inflation und ständige Umwälzungen), aber sie zählen laut Mises sehr wenig, verglichen mit seinem spektakulären Erfolg bei der Steigerung der Produktivität der Arbeit und der Verbesserung des menschlichen Wohlergehens.
Für Mises bedeutete eine "geplante Wirtschaft", die Gesellschaft wie eine Armee zu behandeln, in der "Befehle erlassen und befolgt werden" und individuelle Initiative zusammen mit der freien Meinungsäußerung unterdrückt sind.
Mises erwartete, dass Lenins bolschewistische Regierung seinen Standpunkt beweisen würde. Er hatte Lenin einmal als Zyniker bezeichnet, der sich "nicht um Probleme über seine Nasenspitze hinaus kümmert", aber er zählte ihn jetzt zu den typischen Sozialisten. Er glaubte nicht, dass das bolschewistische Regime lange dauern würde - er dachte, es würde verblassen wie die kurze und absurde Episode der Täuferherrschaft im Münster des 16. Jahrhunderts - hoffte aber, dass es lange genug überleben würde, um der Welt eine heilsame Lektion zu erteilen: dass der Sozialismus im Wesentlichen autoritär ist. 
Angesichts der siebzig Jahre Sowjetunion, die lange auch eine mörderische Diktatur war, die liberale Werte als Häresien behandelte, hat Mises hier recht behalten. So weit, so klug, aber irgendwann entschied er sich dafür, eine sehr einseitige Position zu vertreten:
dass man entweder absolut freie Märkte oder eine totale zentrale Planung haben kann, aber nichts dazwischen.
Und, so argumentierte Mises, liberale Freiheiten seien untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden. Was in China gerade widerlegt wird.

Hier nun kommt der eine Generation jüngere Friedrich August von Hayek ins Spiel. Hayek besuchte Anfang der 1920er-Jahre das Seminar von Mises in Wien. Er teilte Anfangs Mises' Eintreten für eine reine politische Ökonomie und seine Vorstellung von Politik als Kampf zwischen kapitalistischer Freiheit und sozialistischem Autoritarismus. Aber er 
sagte ihm bereits 1933, dass er zu einem "neuen Liberalismus" übergegangen sei, der Raum für "kollektive Maßnahmen" ließ und auf die Dogmen des Laissez-faire verzichtete.
1936 veröffentlichte er ein Papier über "Wirtschaft und Wissen", mit dem er versuchte,
ein Gespenst auszutreiben, das seit langem die Welt der Wirtschaft bevölkerte: das Gespenst des "quasi-allwissenden Individuums", auch bekannt als "homo oeconomicus". Einige Kommentatoren schrieben den Begriff Adam Smith zu, aber Hayek betrachtete ihn als eine Erfindung der "abstrakten Ökonomen" des 19. Jahrhunderts, die versuchten, die politische Ökonomie in "eine Übung in reiner Logik" zu verwandeln, die nur für perfekte Märkte anwendbar ist, in denen "jedes Ereignis", wie er es ausdrückte, "jedem Akteur sofort bekannt ist".
Ein Vorwurf, den man der Volkswirtschaftslehre heute noch oft macht. 

Aufbauend auf Mises' Bemerkungen über die inhärente Unvorhersehbarkeit der Märkte entwickelte Hayek in dieser Zeit seine Theorie. Er unterschied zwischen zwei Arten von wirtschaftlichem Wissen,
von denen die eine abstrakte Informationen umfasst, die kodifiziert, aggregiert und zum Nutzen des "beobachtenden Ökonomen" in ein zentrales Buch eingetragen werden können. Die andere Informationsmenge besteht aus all dem zufälligen lokalen Wissen, das im Wesentlichen grob und unvollkommen ist und auf dem die gewöhnlichen Menschen ihre alltäglichen wirtschaftlichen Entscheidungen aufbauen. Diese zweite Art von Wissen - man könnte es als Agentenwissen bezeichnen - war von Natur aus "geteilt": Es war "über viele Menschen verstreut" und konnte nie "in einem Kopf konzentriert" werden. 

Hier boten die Märkte eine Lösung für das, was Hayek das "Problem der Teilung des Wissens" nannte. 

Märkte sind demnach ein "Mechanismus zur Übermittlung von Informationen", aber im Gegensatz zu Zeitungen, die wie ein Netz funktionierten und Informationen über einen zentralen Knotenpunkt sammelten und verteilten, funktionierten sie wie ein Netz ohne Zentrale, das es uns ermögliche, "uns ... des Wissens zu bedienen, das wir als Einzelne nicht besitzen". 
Märkte waren für Hayek ein "Wunder", das die wirtschaftlichen Entscheidungen in einem
"Prozess koordiniert, in dem der Einzelne eine Rolle spielt, die er nie ganz verstehen kann". Sie sind, wenn man so will, ein Instrument, um unser Unwissen zu bündeln. Diese Art, die Märkte zu betrachten, mag nicht revolutionär gewesen sein, aber sie war wirklich erhellend, und Hayek würde sie als die einzige "Entdeckung" bezeichnen, die er je gemacht hat ….
Und er hoffte auch, die Fiktion vom  "Homo oeconomicus" besiegt zu haben. Sein berühmtestes Buch "The Road to Serfdom" wurde im März 1944 in England veröffentlicht und blieb zunächst relativ unbeachtet. Aber damals stand Hayek mit "Der Weg zur Knechtschaft"
nahezu allein als liberaler Mahner in einer Wüste des scheinbar unausweichlichen Kollektivismus von rechts und links. „Planung“, „Kontrolle“, „Zentralisierung“ der Wirtschaft und der Gesellschaft galten überall – auch im freien Westen – als unvermeidlich und letztlich auch dem liberalen Individualismus überlegen. Hayek behauptete das Gegenteil. Sein Argument ist mehrdimensional. Es galt damals im politischen Mainstream als skandalös und dürfte noch heute viele „Gutmenschen“ schockieren. Zum einen legt Hayek dar, dass Sozialismus und Faschismus im Kern gleichermaßen den Weg in die Knechtschaft führen: Beide zielen auf die Zerstörung von Markt, Privateigentum, Demokratie und persönlicher Freiheit. Beide laufen auf ähnlich totalitäre Beherrschung der Gesellschaft durch eine politische Elite hinaus.
Hätten seine damaligen und heutigen Kritiker genauer gelesen, hätten sie bemerkt, dass Hayek die "dogmatische Laissez-faire-Haltung" ablehnte und ein "breites und unbestrittenes Feld für staatliche Aktivitäten" postuliert hat. Er forderte einen "rechtlichen Rahmen" wie "Fabrikgesetze" und "Bauvorschriften" und Beschränkungen der "Arbeitszeit" , um die Armen zu schützen, einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten sowie "Betrug und Täuschung" zu verhindern. Der Staat soll seine Bürger durchaus vor „gemeinsamen Gefahren des Lebens“ schützen, etwa durch ein „umfassendes Sozialversicherungssystem“, und gleichzeitig „Arbeit und ein Mindesteinkommen für alle“ garantieren.
Und (die Leser) hätte(n) sicherlich Hayeks Unterstützung für staatliche Interventionen begrüßt, die darauf abzielen, soziale "Mobilität" zu fördern, die "Ungleichheit der Chancen" zu verringern und auch "Wissen und Informationen" zu verbreiten.
Andere kritische Leser bemerkten schon damals, dass Hayeks Liberalismus mit so vielen „Ausnahmen“ abgesichert war, dass er „ein erhebliches Maß an sozialer Kontrolle“ zuließ. 

Im Frühjahr 1947 organisierte Hayek in einem Hotel im Schweizer Dorf Mont Pèlerin dann die Konferenz, die oft als Geburtsort des Neoliberalismus betrachtet wird. Gut vierzig Teilnehmer – darunter ein ehrgeiziger junger Amerikaner namens Milton Friedman – einigten sich darauf, eine ständige Organisation namens Mont Pelerin Society zu gründen. Dieser Zusammenschluss von Akademikern, Geschäftsleuten und Journalisten verfolgt bis heute das Ziel, zukünftige Generationen von wirtschaftsliberalen Ideen zu überzeugen. Und wird manchmal verschwörungstheoretisch als Motor eines aggressiven Neoliberalismus gesehen. 

1974 wurde Hayek mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt – zu seinem Ärger gemeinsam mit dem mit dem sozialistischen Ökonomen Gunnar Myrdal.
Zur Wahrheit gehört auch – im Alter wurden Hayeks politischen Meinungen seltsamer und wilder:
Er lobte Pinochet zum Beispiel als Beschützer der individuellen Freiheit und drängte Thatcher, Argentinien zu bombardieren. 
Und es gilt auch, seine Einblicke in die wirtschaftliche Bedeutung von verteiltem, implizitem lokalem Wissen sind sicher gegen jede absolute Doktrin der zentralen Planung gerichtet,
… aber sie gelten gleichermaßen gegen die zentralisierte Verwaltung großer Unternehmen und auch gegen die wirtschaftliche Macht von Remote-Bankern, Finanziers, Beratern und Buchhaltern. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass Anhänger von Mises anfingen, düster über den "hayekischen Sozialismus" zu murmeln. 
Heute wird der Begriff "Neoliberalismus" hauptsächlich sehr reduziert
als Label für eine Reihe von rechtsgerichteten Politiken verwendet, die in den 1970er Jahren von Augusto Pinochet, Ronald Reagan und Margaret Thatcher vertreten wurden, sowie seitdem von verschiedenen verrückten Konservativen als Argumente für das "Zurückrollen des Staates" und "Ermächtigung des Einzelnen" durch Privatisierung, Steuersenkungen und Deregulierung benutzt werden. 
Merke: Der Wissenschaft folgen heißt nicht, einzelnen Wissenschaftlern zu folgen, sondern dem Erkenntnisprozess. Irrtümer eingeschlossen.

Neoliberalismus – das Opium der Eliten?

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Kommentare 5
  1. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor einem Jahr

    Leider scheint es mir in den Wirtschaftswissenschaften noch sehr viel "Argument by Authority" zu geben: Hayek hat gesagt, von Mises hat geschrieben, Friedman vertrat, Keynes meinte... All das ist wissenschaftsgeschichtlich interessant, aber ansonsten gar nicht, finde ich. Man zieht natürlich die eigene Auffassung von den wichtigen Autoren - woher sonst? Aber wenn man ihr Gewicht durch den Namen des Autors verstärken möchte, führt das nirgendwohin.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      Leider ist das ja mit den Daten ähnlich. Man zieht die heran, die passen. Wie auch immer, die meisten vorherrschenden Konzepte und Theorien sind nun mal mit Namen verbunden. Und es wird viel Unsinn behauptet über die Inhalte. Daher sollte man schon wissen, was wirklich gesagt und gedacht wurde. Und nicht, was die Gegner behaupten …..

  2. Matthis Pechtold
    Matthis Pechtold · vor einem Jahr

    Erhellender piq, vielen Dank!
    Für ein ebenso nüchternes und unvoreingenommenes "close reading" der Ursprünge neolib. Denkens möchte ich hier auf Thomas Biebrichers Studie Die politische Theorie des Neoliberalismus verweisen.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr

      Danke für den Tipp. Die Rezension hier macht Appetit:
      https://www.perlentauc...

  3. Bernd Bauche
    Bernd Bauche · vor einem Jahr

    Beeindruckend differenziert-sowohl der piqd des sonst eher wirtschaftsliberalen Haltungen zuneigenden Autors wie der Originalartikel von Ree und auch der vielgehasste Hayek, dessen Rechtfertigung von staatlichen Interventionen deutlich weiter ging, als mir bisher bekannt war

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