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Literatur

Nadogradnje

Quelle: (c) Jochen Schmidt, Nadogradnje in Novi Beograd

Nadogradnje

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 18.11.2019

Der Bild-und-Essayband "Nadogradnjeaus dem Weimarer "M BOOKS"-Verlag dokumentiert ein in Ex-Jugoslawien seit den 80ern und verstärkt seit den 90ern verbreitetes Phänomen, die nachträgliche Errichtung von baulichen Strukturen (Einfamilienhäuser, Pavillons, ganze Etagen mit Apartments) auf Dächern von Wohngebäuden ("Nadogradnje" könnte man mit "Aufbauten" übersetzen). Zum zentralen Teil des Buchs mit Fotos aus Prishtina, Zagreb, Skopje, Tetovo oder Belgrad gibt es einige sehr interessante (englischsprachige) Essays von Architekturhistorikern und Urbanisten (u.a. vom uns hier schon durch sein längeres Interview über Architektur in Jugoslawien bekannten Vladimir Kulić), die das Phänomen teilweise aber ganz unterschiedlich interpretieren, als autonome, informelle "Architektur von Unten" oder als Sinnbild der postsozialistischen Privatisierung und Profitmaximierung.

Nadogradnje können kurios-hybride Strukturen sein, die ins Auge springen, wie sie in diesen beiden Bildstrecken zu sehen sind. Im Band sind aber auch Beispiele enthalten, bei denen man erst auf den zweiten Blick erkennt, daß irgendetwas am Gebäude "nicht stimmt". Manchmal wollten die Erbauer nicht, daß ihr "Parasit" sich ästhetisch vom "Wirts"-Gebäude abhob, in anderen Fällen war die ästhetische Abgrenzung vom Unterbau gerade erwünscht. Manche Aufbauten sehen improvisiert aus, andere wirken stabiler als ihre Wirtsgebäude.

Nadogradnje sind kein neues Phänomen, das halbe historische Zentrum von Split ist eigentlich eines, denn dessen Gebäude befinden sich in den Resten von Diocletians Palast. Auch die Elbphilharmonie ist eine Nadogradnja. Eine Analogie zu den Nadogradnje ist die wilde Bebauung und "Apartmentisierung" der kroatischen Adriaküste, infolge des Zusammenbruchs der Wirtschaft und der Entstehung einer touristischen Mono-Ökonomie (Kulić bemerkt im verlinkten Interview, daß kaum eines der nach der Wende entstandenen touristischen Gebäude an der Adria an die ästhetische Qualität aus jugoslawischer Zeit heranreicht. Dasselbe könnte man für die Schwarzmeerküste in Rumänien und Bulgarien sagen.)

Besonders bei den spektakuläreren Fällen von nachträglichen Dachaufbauten ist man als Fremder erst einmal fasziniert, weil man solchen Spontan-Urbanismus im vermeintlich durchregulierten Westen nicht zu kennen meint und ja auch reist, um Dinge zu sehen, die einen überraschen. Man möchte hier gerne eine Art vernakulärer Kultur erkennen, ähnlich unseren Laubenkolonien, die man nicht mit traditionellen ästhetischen Maßstäben beurteilen darf, so wie der Reiz an Bastelarbeiten nicht in ihrer handwerklichen Raffinesse liegt (ganz im Gegenteil), sondern in der individuellen Problemlösungsstrategie, die oft etwas Utopisches hat. Die Nadogradnje scheinen etwas über ihre Erbauer zu erzählen und Anschauungsmaterial für eine populäre Konzeptionen von "Heim" zu sein, auch in ihrer Distanzierung zu ihren sozialistisch-modernistischen Wirtsgebäuden, nach dem Motto: "Difference is the new conformity".

Der legale Status der Nadogradnje ist oft schwer einzuschätzen, nicht bekannt, oder sie wurden erst nachträglich legalisiert, vermutlich unter Umgehung der Gesetze. Ursprünglich waren es Privatleute, die die Initiative ergriffen, weil ihre Familiensituation mehr Wohnraum verlangte, dann bauten Firmen und schließlich Spekulanten, die Gebäude nach oben erweitern wollten und sich schon langfristig Flächen auf den Dächern der Belgrader Innenstadt reservierten. Wie alles "Informelle" und "Autonome" wecken die Nadogradnje eine urbane Nostalgie nach Zeiten (etwa in den 80er und frühen 90er Jahren in Teilen Ost-Berlins), in denen man sich die Stadt von Unten aneignen konnte, ohne um Erlaubnis zu fragen. Dabei könnten sie genauso für das Gegenteil stehen, unregulierte Profitmaximierung auf Kosten der Allgemeinheit und der Stadt.

Die Architektur und Stadtgeschichte hat sich bei uns lange auf Städte wie Paris, New York oder Los Angeles konzentriert, dabei findet der größte Teil der weltweiten Bau- (und Design)tätigkeit auf informelle Art in urbanen Zonen des Global South statt. (In der DDR mit ihrer ressourcenbedingten do-it-yourself-Kultur hat man diese Techniken auch beherrscht.) Pritzker-Preisträger Alejandro Aravena erläutert in diesem TED-Talk ein Projekt zum sozialen Wohnungsbau in Chile, bei dem schon eingeplant ist, daß die Bewohner an ihren Häusern weiterbauen werden (was sie ohnehin tun würden), die Architekten haben nur den Anfang gemacht und die Basis bereitgestellt. Dadurch können die Baukosten halbiert werden und mehr Menschen ein Haus bekommen. Aravena betont, daß man gerade im sozialen Wohnungsbau auf Qualität setzen sollte, also nicht etwa am Material sparen, sondern lieber nur die Hälfte eines Hauses bauen, aber dafür gut.

Besonders auffällig und widersprüchlich sind Nadogradnje, die sich auf sozialistischen Wohnblocks befinden, da diese die Sprache der sozialistischen Stadtplanung sprechen, die man für totalitär halten kann (Geometrie = Staat), hinter der aber (auch heute noch) der Anspruch zu erkennen ist, die damals als chaotisch empfundene Stadtentwicklung, wie sie durch kapitalistische Spekulation zustande gekommen ist, gerechter zu gestalten (Licht, Luft, Raum für alle, nicht nur im Vorderhaus.) Sind die Nadogradnje als Parasiten dieser Form von Stadtplanung eine "optimistic manifestation of self-organized life"? Ein bottom-up-urbanism, der Normen mißachtet und daher individuell wirkt? Man sollte sich nicht täuschen lassen, oft sind sie gerade das Gegenteil, Produkte der Spekulation für die persönliche Bereicherung, auf Kosten kommunaler Infrastruktur (abgesehen von der fehlenden Feuersicherheit und der zweifelhaften statischen Stabilität.) Sie sind vielleicht weniger ein Triumph über den totalitären Staat als über die Gemeinschaft, ein Folge der Privatisierung seit den 80ern. Sie sind die extreme Manifestierung der Tatsache, daß Architektur meist (oder zumindest oft) kein Expertendienst an der Gesellschaft mehr ist, sondern eine kommerzielle Dienstleistung für wohlhabende Kunden. Belgrad, eine Stadt, in der Wohnungsbau einmal eine Kunst war, schafft es heute nicht mehr Wohnungen mit minimalem Standard zu bauen, sagt Kulić.

Was bedeutet in der Architektur Autonomie? Schließlich schränkt die Autonomie des einen die Autonomie des anderen (Nachbarn, Passanten) ein. Architekturentscheidungen sind niemals nur privat. Der Architekt selbst kann sich zwischen dem, was er für richtig hält und der Öffentlichkeit oder dem Bauherrn (wenn er Star genug ist) aufdrängt und einer reinen Dienstleistung für den Auftraggeber bewegen. Moderne Architektur neigte eher zu ersterem, Le Corbusier wollte durch die Architektur den neuen Menschen schaffen (der dann würdig wäre, seine Gebäude zu bewohnen.) Heute müßte man das Verhältnis von Architekt und Nutzer als Experte und Kunde in Frage stellen, zugunsten eines Dialogs und gegenseitigem Lernen und Wissensaustausch. Es bestände die Chance, die Rolle des Architekten zu erweitern, indem er die Bürger und Communities in ihrem Engagement unterstützt und hilft, andere zu ermächtigen und die Entwicklung von politischem Bewußtsein und kollektivem Handeln zu unterstützen. Architekten müßten, um relevante Akteure zu sein, die politische Dimension ihres Tuns erkennen und bereit sein, verantwortlich zu handeln.

Es gibt heute ein gestiegenes Interesse für "urban informality" im "Global South". Wir erforschen z.B. Selbsthilfestrategien und Wachstumstaktiken von Slumbewohnern und lernen von ihnen. Dabei geht es nicht nur um die physischen Gebäude, sondern um die soziale Produktion von Raum. Auch in den postsozialistischen Gesellschaften gab es viel Informelles: Märkte, Straßenstände, Tauschhandel, urbane Landwirtschaft, improvisierte Parkplätze. Während das Umgehen von Gesetzen durch die Eliten oft genug nachträglich legitimiert wurde, wird das der Ärmeren denunziert. Es gibt nämlich auch das Informelle der Eliten, die Regulierungen mißachten (eine neue, sehr große Mall in Novi Beograd fiel doppelt so groß aus wie genehmigt) bzw. sich mit "gated living" aus der Gesellschaft verabschieden. Alle postkommunistischen Gesellschaften hatten eine neoliberale Agenda, der Staats zog sich aus den öffentlichen Diensten zurück, Regeln und Regulierungen zu mißachten war sozial akzeptiert.

Ein Beitrag erläutert am Beispiel von Falladas Roman "Kleiner Mann, was nun?", daß das Informelle nicht auf den "Global South" beschränkt ist, der in dieser Sicht der Dinge zum "planet of slums" werde, wo man bestenfalls langsam und nicht sehr erfolgreich versuche, den Westen einzuholen. Im Roman spielt das Informelle in der Hauptstadt Preußens, also eines Ordnungsstaats, eine wichtige Rolle. Der arbeitslose Held sieht sich gezwungen, mit seiner Frau in eine Laube in der Peripherie zu ziehen, allerdings kann er dort nicht offiziell wohnen und sich also auch nicht polizeilich melden und muß, um in seinem alten Bezirk das Arbeitslosengeld abzuholen, in eine Fahrkarte investieren. (Kleingartenkolonien, die einerseits für Regeln stehen, anderseits für individuellen Ausdruck, stehen bei uns, wenn sie sich in attraktiven urbanen Lagen befinden, stark unter Druck. Zum sozialen und stadtökologischen Argument, sie zu erhalten, kommt inzwischen ihre Rolle im Kampf gegen den Klimawandel.)

Dubravka Sekulić wendet sich in ihrem Text ausdrücklich gegen die Romantisierung des Informellen und auch der Nadogradnje. Sie sind für sie Symbole der Enteignung der Öffentlichkeit im Zusammenspiel mit korrupten Behörden und Investoren. Eine Praxis, die ein demokratisches Versprechen sein könnte, wird zu einer Taktik der Profitmaximierung (man könnte hier auch an den Dachgeschoßausbau in Berliner Altbauten denken.) Es wurden sogar extralegale Konstruktionen in fast alle legalen Projekte eingebettet. Letztlich ist "Belgrade Waterfront", das von den Emiraten finanzierte, von Aktivisten kritisierteneue Stadtviertel im Zentrum von Belgrad, jeder Romantik entkleidete, vom städtebaulichen Kontext komplett abgekoppelte, informelle Architektur. (Truppen maskierter Männer haben in einer nächtlichen Aktion in diesem Viertel Gebäude zerstört, damit sie abgerissen werden konnten, die älteste, erhaltene Brücke Belgrads soll abgebaut und als Attraktion in einen Park transportiert werden, mutmaßlich, weil der Krach der Straßenbahn die Käufer der Apartments stören würde.) So betriebene Privatisierung von öffentlichem Raum führt nicht zu einem "natürlichen Zustand", sondern ist ein Beleg dafür, was für ein künstliches Gebilde der Markt sein kann, wenn er lediglich eine Klasse von Privatbesitzern erzeugt.

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Kommentare 2
  1. Anita H
    Anita H · vor mehr als 4 Jahre

    Ich habe mich heute extra (endlich, lese hier schon eine ganze Weile mit), angemeldet um loszuwerden, wie großartig ich die Beiträge von Jochen Schmidt finde! Ich fühle mich verstanden, als Ostgeborener in den Siebzigern, mit eigenem Kopf und oft anderem Blick auf die heutigen Dinge.
    Aber besonders fasziniert mich diese Reise in die (nach)jugoslawische Innen-und Außenwelt, ich habe jeden Beitrag förmlich verschlungen - was für sorgsam beobachtete Momente, die Kanten und Ecken, all die sprachlichen Schätze, die kulturellen Perlen - ich bin restlos begeistert und werde weiter folgen! Bin so froh, hier Herz und Verstand, klassischen sprachlichen Ausdruck und überhaupt irgendwie Heimat zu finden...

    Mein Erweckungserlebnis hier war übrigens der Artikel über die Wandmosaike! Ich hab da nen Fimmel und freue mich wie ein Kind über jedes, das noch nicht entsorgt wurde und das ich noch irgendwo ansehen kann (Kulturpalast Dresden z.B.).
    Anita

    1. Nutzer gelöscht
      Nutzer gelöscht · vor mehr als 4 Jahre

      Danke A., dass Sie dies geschrieben haben.

      So ist es für mich nicht entfesselnd.

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