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Literatur

Lukas Jüliger "Unfollow"

Lukas Jüliger "Unfollow"

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtSonntag, 31.05.2020

Angesichts der Probleme, die unser Planet durch uns Menschen hat, stellt sich die Frage, ob diejenigen wahnkrank sind, die denken, wir könnten ungestraft so weiterleben wie bisher, oder diejenigen, denen es nicht mehr reicht, ihr eigenes Leben zu ändern, sondern die auch andere dazu anregen, ihnen dabei helfen, oder sie vielleicht sogar mit Gewalt dazu zwingen wollen. Seltsamerweise gelten bei uns ja z.B. immer noch eher diejenigen als Extremisten, die möglichst weitgehend auf tierische Produkte verzichten, als diejenigen, denen alle ethischen, ökologischen und gesundheitlichen Argumente, die für solch einen Verzicht sprechen, ignorieren. Die Zeit drängt, und auf die Einsicht der Mehrheit zu warten, dürfte für den Planeten zu lange dauern. Wenn man das Potential der Greta-Erzählung einmal ausschöpft und sie weiterdenkt, stellt sich schnell die Frage, ob die Rettung der Welt vor den Menschen (ohne Vernichtung des Menschen) anders als über eine neue Religion gelingen kann?

"Unfollow", die neue Graphic Novel von Lukas Jüliger, spielt genau dieses Gedankenexperiment in düsterster Weise durch und zeigt dabei, was Comiclesern sowieso klar ist, daß es sich beim Comic um ein Medium handelt, das Film und Literatur überlegen sein kann. Der irre, extrem kluge, doppelbödige Plot führt in mehreren Momenten an einen Punkt, an dem man denkt: bis hierhin war ich in einem meiner vielen Gespräche über Nachhaltigkeit, Kapitalismus, Konsum, soziale Medien und Demokratie auch schon einmal gekommen, aber dann hatten wir nicht mehr weitergewußt. Die Spannung kommt auch aus dem intellektuellen Reiz, an Jüligers Hand einen Schritt weiterzugehen ins Unbekannte. Vielleicht ist es ein Merkmal eines guten Plots, daß man nicht darauf gekommen wäre, aber sofort einsieht, daß die Geschichte nur so weitergehen konnte. Im Fall von "Unfollow" kommt die Schönheit der Konstruktion auch ein bißchen daher, daß eine andere, denkbar alte Geschichte immer wieder durchklingt, aber im ultrazeitgemäßen Gewand, nämlich die von Jesus und der Entstehung des Christentums als Sekte mit Potential für mehr.

Der Held von "Unfollow" ist ein Junge, der schon immer da gewesen ist, seit der Enstehung des Planeten, jedenfalls denken wir das zunächst, weil so etwas im Comic ja möglich ist. Er ist die Inkarnation der Natur selbst in Menschengestalt, also eine Art neuer Sohn Gottes. Berichtet wird sein Leben protokollartig von irgendwo aus der Zukunft (durch wen, das wird einem erst später klar). "Earthboi", wie sich der Held später nennt, lag an einer Straße am Rand eines Dschungels, durch den er zwei Tage lang geirrt ist (erst später reimt man sich zusammen, daß er vielleicht der Sohn des Besitzers eines verwilderten Freizeitparks ist, dessen Suizid den siebenjährigen Jungen traumatisiert hat.) Er findet eine Pflege-Familie und lebt zunächst das langweilige Überfluß-Leben eines Mittelschicht-Kids, aber er wird immer wieder dadurch auffällig, daß er unter seinem Bett Gläser mit toten Tieren aufbewahrt, deren Verwesungsgeruch er inhaliert.

Wer ist kränker, die Welt oder der, der sie krank findet? Wenn Kinder auffällig werden, kommen sie zum Psychologen, der sie reparieren soll. Bei Earthboi kann der Therapeut nicht viel machen, denn an das glauben, was er erzählt, kann er ja schlecht. Mit 12 Jahren kommt Earthboi zum ersten Mal in die Jugendpsychiatrie und landet schließlich in einem Heim für verhaltensauffällige Kinder, wo er zum spirituellen Anführer der gestrandeten Kinder wird ("Wenn er sprach war es, als würde man selbst seine Gedanken denken"), sich aber zunächst noch einmal von ihnen verabschiedet, um auf eine einsame Reise zu gehen.

Earthboi bricht in einem Einkaufscenter ein, versorgt sich mit Solarpanel, Technik und Werkzeugen und geht "outdoor", wie man heute die Natur nennt. Es ist aber ein zeitgemäßes "zurück zur Natur", keine Abkehr von der Zivilisation im Sinne von "Walden", denn er lebt versteckt in einem Naturpark, unsichtbar für die Welt, aber gleichzeitig maximal präsent ("von einem der entlegensten Orte der Welt aus ging er online"), weil er über das Internet sendet und schnell bekannt wird. Er postet Videos darüber, "wie man in fast vollkommener Symbiose mit der Natur leben konnte." Er sendet auf verschiedenen Kanälen Content über das Überleben in der Wildnis, u.a. die Videoserien "guide to assisted evolution" und "sustainable nature hacks". Großen Erfolg hat auch sein "damp meme", Jugendliche machen es ihm nach und posten Bilder ihrer vom Wasser aufgequollenen Händen "als Zeichen gegen eine Welt, in der Landmassen im Meer verschwanden."

Für eine Weile wachsen auf der ganzen Welt junge Menschen praktisch mit ihm auf.

 "Sie sahen ihm jeden Tag dabei zu, wie er sein Leben im Wald meisterte und optimierte, indem er einen extrem nährstoffreichen Algenhybriden züchtete, der ein vielfaches an Kohlendioxyd aufnahm und indem er Pilzkulturen kreuzte, die seine Pflanzen resistenter und ertragreicher machten ohne dabei den Boden auszulaugen"

(Nachdem ich Ute Scheubs "Die Humus-Revolution" gelesen habe, dachte ich neulich, man müßte ja eigentlich als Kleingärtner, der das Klima retten will, Beikräuter mit meterlangen Wurzeln fördern, Ackerwinde, Disteln, Quecke u.ä., also alles, was man eigentlich bekämpft, weil diese Pflanzen Kohlendioxyd aufnehmen und Kohlenstoff metertief in die Erde bringen und im Gegenzug von dort unten Wasser an die Oberfläche holen.)

Earthboi setzt sozusagen um, was Christian Lindner in einer altväterlich-romantischen Vorstellung von der Rolle der Schule für den Wissenserwerb von den Friday-for-future-Kids gefordert hat: statt zu streiken, lieber schön in die Schule zu gehen und den Klimawandel mit dem erworbenen Know-how später wissenschaftlich anpacken (was ein wenig zu lange dauern könnte.) Es ist ja eigentlich eine unglaubliche Entwicklung, was alles heute politisch ist, z.B. Essen, das hätte ich mir vor Jahren noch nicht träumen lassen. Ich frage mich manchmal ein bißchen bang, was Heiner Müller dazu gesagt hätte, der einmal in einem Interview verkündet hat: "Bevor ich Müsli esse, trinke ich lieber Benzin zum Frühstück."

Bis hierhin wäre man mit dem Plot vielleicht auch noch gekommen, aber die Geschichte geht in aller Konsequenz noch viel weiter. Earthbois nächste "Reise", wie seine Entwicklungsstufen genannt werden, führt ihn unter die Menschen. Er postet "Endlinge", letzte lebende Exemplare einer Tierart, er nimmt "lange vor der Kamera Abschied und teilte diesen Moment. Damit traf er einen Nerv." Er wird endgültig zum Star und lebt auch eine Weile so: "Es gab immer wieder Zeiten, in denen sich sein menschliches Bewußtsein so sehr verfestigte, daß er Angst bekam, sein überzeitliches, sein wahres Ich zu verlieren." Etwas fehlt noch in seiner Geschichte (der Teil, der uns in den Evangelien unterschlagen wurde) er kommt, auf der Suche nach jemandem, der ihm beim Programmieren hilft, in Kontakt mit einem Mädchen, einer populären, hyperintelligenten Influencerin, einem "Coding-Wunderkind". Yu, wie sie heißt, hat schon die verschiedensten Metamorphosen durch, am Ende ist sie bei "nachhaltige Wohnkonzepte und das Leben in der Rauminstallation" gelandet. Sie werden sofort ein Paar. Jüliger beschreibt das mit einer der für mich schönsten und in Wirklichkeit auch komischsten Formulierungen des Buchs: "Er zog bei ihr ein und ließ seine Alge in ihrem Pool weiterwachsen."

Er hat eine Idee und arbeitet mit Yus Hilfe wie besessen an etwas: "Während dieser Zeit vernachlässigte er seine Ökobilanz. Es war für einen höheren Zweck." (Im Grunde ist das eine wundervoll zeitgemäße Formulierung dafür, was man in kreativen Phasen tut, und was man früher vielleicht "abkeimen" genannt hätte: Fertigessen konsumieren, den Kühlschrank nicht abtauen, beim Lüften die Heizung anlassen, Buntglas und Weißglas nicht mehr auseinandersortieren.) Earthboi entwickelt eine App, die ihre User wieder in Kontakt mit der Welt bringen soll, man muß nur 10-20 Minuten am Tag seiner Stimme und seinen Ausführungen lauschen. Der Mensch muß "lernen, den Blick nach innen zu richten, um ihn wirklich nach außen richten zu können", und um die Welt um sich herum wieder heilen zu können (den Boden "heilen" ist auch etwas, wovon Scheub immer wieder schreibt.) Earthbois App will "eine Welt mit zufriedenen, bewußten Menschen schaffen. "Und plötzlich berühren Büroangestellte in der Mittagspause in ihren vercityten Bürovierteln Bäume.

Der nächste Schritt ist, daß er mit ausgewählten Followern in einen verlassenen und verwilderten Freizeitpark (war da nicht was?) zieht und mit seinen Freunden aus dem Heim, die er zu sich ruft, ein ökologisches, aber auch hochmodernes Farming-Paradies errichtet (es geht ja nicht um technikfeindliche "Zurück-zur-Natur"-Phantasien, sondern darum, die Natur durch Technik im Dienst eines höheren Bewußtseins zu heilen.) Dieses Paradies wird konsequenterweise "Erde" genannt: "Erde würde sich ausbreiten und eines Tages den ganzen Planeten umfassen." In "Erde" lebt man erlöst von sozialem Druck und Depression, von genetisch modifizierter Nahrung und Luftverschmutzung, "ein Garten Eden der assistierten Evolution". "Erde" ist also eine Version der Erde, wie sie eigentlich hätte sein können, wenn der Mensch, das einzige "Unkraut" und der einzige "Schädling", den es aus Sicht der übrigen Natur gibt, nicht immer wieder alles vermasselt hätte. "Draußen wollten selbst ernannte Visionäre den Mars besiedeln und ihre Gehirne digitalisieren. Earthboi zeigte uns das Hier und Jetzt. Zeigte uns den Weg, den Planeten doch noch zu retten."

Nun kommt es zu einer Houellebecq-würdigen Wendung im Plot, denn Earthboi droht mit Yu glücklich zu werden: "Die Liebe band ihn auch am stärksten an seine temporäre menschliche Form". Seine Jünger befürchten, daß er von seiner Mission abkommt und "helfen" ihm, indem sie Yus Abwesenheit nutzen, um ihn drei Tage lang zu quälen, bzw. in ihren Worten: "um ihn wieder mit seinen Erinnerungen, seinem überzeitlichen Bewußtsein zu vereinigen." (Wir erinnern uns wieder an Jesus, der seine Botschaften heute ja vielleicht auch nicht mehr mündlich verbreiten würde, sondern über das "Netz".)

Weil seine Jünger begreifen, daß Earthboi sich durch Yu für immer verändert hat und sozusagen ein Mensch geworden ist, wollen sie "sein Liebe opfern. Für ihn. Für uns." Um zu verhindern, daß sie Yu umbringen, opfert er sich, indem er sich im Livestream öffentlich umbringt, was für die Nutzer seiner App überall auf der Welt wiederum eine Art Signal ist, es ihm gleich zu tun. Manche erhängen sich mit ihrem Handykabel (wobei es dabei eigentlich darum geht "zum Garten zurückzukehren, sich wieder in den Kreislauf einzureihen. Zum Geruch zu werden.") Seine Jünger ziehen in die Welt und begehen Terrorakte in Einkaufscentern und Fast-Food-Restaurants, im Namen der Natur, die vom Menschen so lange bekämpft worden ist. Sie läuten das Ende des Anthropozäns ein, die Alleinherrschaft der Natur. (Ich habe hier einmal einen Comic besprochen, in dem der Held über ein Mittel verfügt, die Welt zu verbessern, in dem er alle Idioten, Brutalos und Sadisten, denen er begegnet, kurz und schmerzlos vaporisiert. Daniel Clowes läßt seinen Helden als einsamen Alltags-Terroristen enden, der seine ermüdende Mission nur noch als "Homework" empfindet, wenn er Passanten vaporisiert, weil sie z.B. ein Bonbonpapier auf die Straße geworfen haben und sich uneinsichtig zeigen.)

Vor allem in der Sequenz, in der die Handlung kulminiert, nutzt das Buch sehr effizient Mittel, die der Comic Literatur und Film voraus hat. Überblendungseffekte von im Bild gezeigter Handlung und Erzähltem erlauben es, gleichzeitig auf zwei Ebenen zu erzählen. Zudem bewegen wir uns in dieser Geschichte in einer so extremen Gegenwärtigkeit, daß ich als überzeugter "Analogi" manches gerade noch so nachvollziehen kann, ohne Begriffe wie "DM" oder "patreon" zu googeln. Die vielleicht eigentliche Handlung, die das ganze vom Science-Fiction zur Trauma-Geschichte, die aber raffinierterweise an die drängendsten Fragen unserer Zeit gekoppelt wurde, macht, erscheint als seltsame Parallel-Erzählung, die man teilweise nur im Bild sieht. Dadurch habe ich vieles erst beim zweiten Lesen verstanden, z.B. das Ritual, bei dem Tiere (aus Nachhaltigkeitsgründen meistens Spitzmäuse) getötet werden, um daran zu riechen, weil der Geruchssinn (Proust!) uns am besten mit der Natur verschmelzen läßt, und um die Pilze, die aus den Kadavern wachsen, zu verarbeiten. Dieses zentrale Element der Earthboi-Religion wirkt, wie eigentlich jedes religiöse Ritual, nur auf diejenigen irre, die nicht daran glauben, sondern es auf einen rationalen Kern zu reduzieren versuchen (in Earthbois Fall könnte dieser sein, daß er als Kind tagelang den Geruch seines verwesenden Vaters wahrgenommen hat.)

Die Frage, die Earthbois Jünger radikaler als er selbst beantworten, stellt sich seit Dostojewskis Raskolnikow manchen Menschen immer wieder: wäre die Welt besser, wenn ein Nicht-Idiot alle Idioten unkompliziert und schmerzlos vaporisieren könnte, vorausgesetzt er trifft dabei keine Fehlentscheidungen? Wie weit darf man gehen im Besitz der Wahrheit? Vor allem heute, wo der Gang durch die Instanzen der Demokratie zu lange dauern könnte, um den Kollaps des Planeten zu verhindern?


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Kommentare 2
  1. Andreas Schabert
    Andreas Schabert · vor fast 4 Jahre

    Tolle Besprechung und sicher ein toller Comic. Erscheint allerdings erst Ende Juni, aber auf der Seite vom Reprodukt Verlag kann man ca 15 Seiten anschauen. Freue mich darauf!

  2. Uwe Protsch
    Uwe Protsch · vor fast 4 Jahre

    "Wie weit darf man gehen im Besitz der Wahrheit?" So weit, wie es das Gewissen erlaubt. Allerdings: "Glaube denen, die an der Wahrheit zweifeln, und zweifle an denen, die glauben, sie gefunden zu haben!"

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